Donnerstag, 28. November 2019












NZZ, 27.11.2019

Murks happens


Technologie, unseren Köpfen entsprungen, wächst uns über den Kopf – buchstäblich. Wir überschauen und durchschauen sie immer weniger, uns fehlt der Kompass für den Kurs ihrer Entwicklung. Die Ingenieure tüfteln oft über Generationen hinweg an technischen Systemen für bestimmte Funktionen. Sie sind wohlüberlegt entworfen, und am Ende verhalten sie sich nicht mehr so wie geplant. Das ist nicht bloss Zufall. In der Entwicklung der Technik wirkt eine verborgene Teleologie, welche uns immer tiefer in die unauflösbare Verschränktheit der Systeme treibt. Das erinnert natürlich an das Entropiegesetz der Physik, wonach Makrosysteme zu grösserer Unordnung neigen. Aber es geht hier nicht um physikalische Gesetze, sondern um konvergierende Tendenzen der neuen Technologien: raffiniertere Algorithmen, grössere Datenmengen, rechenstärkere Computer.

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Man spricht von Akkretion, dem Anlagern von immer mehr Systemkomponenten; und von verschränkter Interaktion, dem Hinzufügen von immer mehr Verknüpfungen zwischen den Komponenten. Das Anlagern springt ins Auge. Ein Hammer besteht aus einem Stück Holz und einem Stück Metall, ein Rammbär schon aus ziemlich viel mehr Stücken. Das Flugzeug, das die Gebrüder Wright 1903 bauten, war ein Ausbund der Einfachheit, konstruiert aus einer geringen Zahl von Komponenten. Eine Boeing 747 weist etwa sechs Millionen Hardware-Komponenten auf. Dieses wuchernde Anlagern stellt man auch bei Software fest. Ein übliches Mass für die Komplexität eines Programms ist die minimale Anzahl Codezeilen, die man braucht, um es zu schreiben. Gemäss Schätzungen wuchs der Quellcode für das Betriebssystem von Windows im Laufe einer Dekade um das Zehnfache. Die Bildbearbeitungssoftware von Photoshop soll vierzigmal so lang wie vor zwanzig Jahren sein.

Akkretion birgt ein ernsthaftes Problem. Wir kennen es aus unserem heimischen Do-it-yourself. Wir „bessern“ den morschen Dachboden mit Latten, Platten, Streben und Planen „aus“, vernetzen die elektrischen Geräte mehr schlecht als recht mit einem Kabelsalat, dichten die sanitäre Anlage im Keller mit Draht, Klebeband und Zusatzrohren ab. Im englischen Ingenieurjargon existiert der Ausdruck Kludge oder Kluge (ausgesprochen „kladsch“ oder „kluudsch“): eine zusammengeflickte, behelfsmässige, temporäre, mitunter unnötig komplizierte Lösung eines technischen Defekts oder Problems, kurz, ein Murks. Formulieren wir daraus hypothetisch das Murks-Prinzip: Von einem kritischen Komplexitätsgrad an arbeiten technische Systeme zwangsläufig im Murks-Modus (ich spreche hier nicht vom geplanten Murks – einem heute florierenden Wirtschaftszweig).

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Das gilt natürlich vor allem für Software. Je komplexer, desto „murksiger“ wird sie. Man spricht etwa von „Spaghetti-Code“, von Software, die sich immer unentwirrbarer verknäuelt, und dies ironischerweise über einfache Programmschritte wie GOTO. Jahrelang pfropft man zum Beispiel neue Features auf bereits bestehende Programme. Das erhöht das Risiko, dass sich ein Stück Code „daneben benimmt“ und den Rest infiziert. Schliesslich ist der Code nicht mehr entschlüsselbar, geschweige denn auf Fehler zu testen. Noch fataler: Ein einziger Bit-Flip – eine Eins wird zu einer Null oder umgekehrt - kann über Folgekaskaden zur unvorhergesehenen Kalamität führen.

Wiegen wir uns dabei nicht in der falschen Zuversicht, Murks liesse sich quasi von Null auf „sauber“ beheben. Man missachtete so das „Gall’sches Gesetz“, eine in Designerkreisen bekannte Maxime von John Gall, der eines der besten und amüsantesten Bücher über Systemtheorie geschrieben hat. Salopp ausgedrückt lautet die Maxime: Versuche nicht, ein Murks-System auseinanderzunehmen und von Null auf zu revidieren. Baue auf funktionierenden Murks und versuche, ihn schrittweise zu verbessern. Mit John Gall ausgedrückt: Murks-Systeme sind wie Babys; wenn man eins kriegt, hat man es. Nicht nur kann man es nicht entsorgen, es wächst auch.

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Gewiss, nun beginnen die Maschinen zu lernen. Mit Deep Learning hat man ein viel versprechendes Instrument zur Hand, das Verknäuelungsproblem zu umgehen, indem das System über einen statistischen Lernalgorithmus selber seine „Schlüsse“ zieht. Das Problem der Unübersichtlichkeit schleicht sich indes auch hier ein. Die lernenden Maschinen zeigen ihre Macken. Sie lernen Unterschiedliches aus Trainingsdaten und ihre Programme entwickeln sich dadurch auch quasi selbständiger. Zum Beispiel klassifiziert der Algorithmus eine Datenmenge als „Katze“. Es erweist sich jedoch als schwierig, zurückzuverfolgen, wie er das bewerkstelligt hat. Im geschichteten Inneren des Systems spielen sich Vorgänge ab, zu denen der Programmierer oft nicht durchdringt. So hebt man in diesem Zusammenhang bereits die Unterart der „erklärbaren“ Künstlichen Intelligenz (KI) hervor, Systeme also, deren „Entscheide“ sich ins menschliche Idiom übersetzen lassen. Ironischerweise verglichen KI-Forscher vor kurzem die neuen lernenden Systeme mit mittelalterlicher Alchemie. Man wisse eigentlich nicht, was man tue, sondern drehe hier und da an ein paar Schrauben, bis ein Algorithmus das gewünschte Ergebnis erziele. Das führt zum Paradox: Effizienz des Systems nimmt zu – Verständnis nimmt ab. Es mutet fast an, als „verstünden“ die KI-Systeme sich selber am besten. Paul Watzlawick formulierte das schon 1967 so: Das System ist seine eigene beste Erklärung.

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Komplexität und Murks-Prinzip stellen die zentrale Herausforderung der Technologien dieses Jahrhunderts dar. Und das heisst auch: Wir bekommen es immer mehr mit Zufall, Nicht-Voraussagbarkeit und „Renitenz“ der Systeme zu tun. Wir sollten freilich nicht einem Fatalismus verfallen, der die technischen Systeme als unbewältigbar hinnimmt. Vielmehr verlangen unsere Bewältigungsversuche nach einer fundamentalen Haltungsänderung. Ich zögere nicht, sie als demutvoll zu bezeichnen.

Derzeit beherrschen zwei Extremszenarien die Diskussion: Die Menschen werden von den kommenden Generationen der Maschinen noch gerade als Haustiere gehalten; oder der Mensch verschmilzt mit der Technologie zu einer neuen Superspezies des „Homo Deus“. Beide mythengeschwängerte Szenarien versperren die Sicht auf einen dritten Weg. Ich nenne ihn die Einstellung der demutvollen Vigilanz, in Anlehnung an den renommierten holländischen Algorithmendesigner Edsger Dijkstra, der den Begriff des „demutvollen Programmierers“ prägte. Demut meint das Eingeständnis, künstliche Systeme nicht vollständig durchschauen zu können; Vigilanz meint das nicht erlahmende Bemühen, sie nach bestem Stand des Wissens zu verstehen und zu kontrollieren.

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So gesehen ist es gar nicht so abwegig, den künstlichen Systemen eine Haltung entgegenzubringen, wie wir sie aus der Biologie, den Organismen gegenüber schon lange kennen und anerkennen. Das heisst, Technik müsste biologischer denken lernen (in der Tat tut sie dies schon). Biologische Systeme sind Paradigmen des cleveren evolutionären Murkses. Auch sie manifestieren eine überwältigende Komplexität, die wir nur näherungsweise erklären können. Kant hatte uns in seiner Kritik der Urteilskraft eine demutvolle Haltung angemahnt: Es gibt keinen Newton des Grashalmes. Das war gemünzt auf den damaligen Erkenntnisanspruch, mit der Newtonschen Physik eigentlich die „ultimative“ Welterklärung gefunden zu haben. Dieser Anspruch hat sich gewaltig verrannt.

Wir Menschen sind eine erstaunliche Murks-Spezies. Und wir leben in einem Murks-Universum. Es expandiert stetig. An seinen Rändern lauern das Unbekannte und die Pannen. Das heisst, der Umfang der notorischen „unbekannten Unbekannten“ wächst. Und dann haben wir ein Problem: Die künftigen Systeme werden wahrscheinlich nicht nur komplexer sein, als wir Menschen uns das jetzt denken, sondern komplexer, als wir uns das je denken können. Technik tendiert zur Transzendenz. Deshalb wissen wir auch nicht, ob all der Murks, den wir schaffen,  je in einem „Big Crunch“  enden wird. Umso gebotener erschiene es, an technischen Hochschulen endlich das Fach Murksologie einzuführen.










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