Es gibt Formen des Nicht-Denkens, die sich mit Floskeln des Denkens tarnen. Beginn einer kleinen Typologie
„FÜR MICH..“
Zu
einer normalen Unsitte des Argumentierens gehört die Personalisierung. Quasi das
Gewicht der eigenen Person argumentativ ins Treffen werfen: ICH sehe das so....
ICH interpretiere dieses Zitat anders ... Ein Show-Phänomen mit
Unterhaltungswert heute, aber eine Frühform dieser Unsitte fiel schon vor
Jahrzehnten auf in der Floskel „Für mich...“.
„Für mich ist diese Aussage von
Nietzsche...“, „Für mich stellt
das keinen Widerspruch dar...“ , „Für
mich ist dieser Stil überholt..“ Ich erinnere mich, wie ein Professor im
Philosophieseminar jeweils fuchsteufelswild wurde, wenn ein Student anhob „Also
für mich...“ „Bitte, reden Sie zu uns!“ wies ihn dann der Professor zurecht. Es
brauchte lange, bis mir dämmerte, worin genau das Vergehen lag. Selbstverständlich
drückt das „Für mich“ meine
Meinung aus, die es dann anderen darzulegen gilt. Oft kaschiert es allerdings ein
argumentatives Defizit, macht mich nichtsdestotrotz im Gespräch unangreifbar. Man
setze vor irgendeine Aussage „Für mich..“
„Der Mond besteht aus grünem Gorgonzola“: falsch. „Für mich besteht der Mond aus grünem Gorgonzola“: wahr. Denn damit
drückt man eigentlich die Tautologie aus: Was ich behaupte, behaupte ICH
(natürlich folgt die berechtigte Frage auf dem Fuss, warum dieses Ich einen
solchen Stuss behaupten kann). „Für mich..“
ist in diesem Sinne immer wahr. Also redundant. Und deshalb sind viele Diskussionen
im Grunde einander hochschaukelnde Redundanzen.
„ICH DENKE..“
Eine
Weiterentwicklung stellt die Floskel „ICH DENKE“ dar. Wo ein Mikrophon
eingeschaltet ist, vernimmt man über kurz oder lang die Wendung „ICH DENKE..“.
Der Verkehrspolitiker: „ICH DENKE, man muss irgendwo im Verkehr aufpassen“. Die
Justizdirektorin: „ICH DENKE, dass die Justiz primär dem Recht verpflichtet
ist.“ Der Eishockeytrainer: “ ICH DENKE, das Tor mehr hat unserer Mannschaft
zum Sieg gereicht“. Wird heute mehr
gedacht als früher? „Nicht wirklich“. Dass eine Person denkt, sollte man ja
daran erkennen, was sie sagt. Aber „Ich
denke“ ist heute verbales Makeup. Die Logiker haben dafür einen adretten
Ausdruck: Performatives Paradox. Man tut gerade das nicht, was man sagt, man
tue es. Mit Floskeln solcher Art verschafft man sich hingegen eine Pole-Position
im „Diskurs“. Speziell unter Intellektuellen, denn die Floskel ist seit je
vorzugsweise in diesen Kreisen endemisch. Ein Klassiker ist z.B. der Optativ
wie „Ich würde meinen, dass ...“ oder „Ich würde einmal die These wagen, dass...“
usw. Spitzmündig oder kinnstreichelnd vorgetragen, lassen solche Eröffnungen
sofort erahnen, dass da doch grosse Vorräte gut abgehangenen akademischen
Wissens im Hinterhalt lauern, die einen davor bewahren, sich einfach so ordinär
aufs Behaupten zu verlegen.
„Du sagst das nur, weil du ein ... bist“
Denken ist
im Grunde eine soziale Tätigkeit. Ein untrügliches Indiz des Denkens ist
deshalb die Beobachtung, dass Andere auch denken. Eine in der Debatte häufig gepflegte,
perfidere, weil nicht auf ersten Blick erkennbare, Form des Nicht-Denkens besteht
nun darin, dass man im Denken des Anderen nur den Anderen und nicht sein Denken
wahrnimmt und anspricht. Personalisierung auch hier. Was du sagst, sagst du nur, weil du ein ... bist. Das Englische
kennt den Begriff „Bulverism“ für diese grobfahrlässige Denkvermeidung. Er stammt
vom Schriftsteller Clive.S.Lewis, genauer von dessen fiktiver Figur Ezekiel
Bulver, der auf den Denkfehler aufmerksam wurde, als er hörte, wie seine Mutter
die Beweisführung seines Vaters, die Summe zweier Seiten eines Dreiecks sei
grösser als die dritte Seite, mit den Worten abschmetterte: Du sagst das nur, weil du ein Mann bist. Einer ähnlichen Variante
dieses Totschlagarguments begegnet man auch oft in Kommentaren, die dem Autoren
eines Artikels insinuieren, er habe das
nur geschrieben, weil er frustriert, schwul, ein Secondo-Albaner oder ein alter
Mann mit verpasstem Gegenwartsanschluss sei. Personalisierung bedeutet immer,
dass man in den Aussagen der anderen Person primär nicht Sätze, sondern Symptome
hört, bzw. hören will. Eine Diskursverweigerung: letztlich die tiefste
intellektuelle Herabwürdigung – will heissen: Beleidigung - des Anderen.
„Ich
denke“ war einmal eine stolze Kampfvokabel, eingesetzt zur Befreiung des
Menschen aus der Bevormundung durch fremde Autoritäten. Aber Befreiung ist ein
stotziger Hang, wir rutschen auf ihm immer wieder ab. „Es ist unglaublich, wie
viel unsere besten Wörter verloren haben, das Wort ‚vernünftig’ hat fast sein
ganzes Gepräge verloren,“ schrieb der grosse Aphoristiker der Aufklärung, Georg
Christoph Lichtenberg, „man weiss die Bedeutung, aber man fühlt sie nicht mehr
wegen der Menge von vernünftigen Männern, die den Titel geführt haben.“ Es ist
unglaublich, möchte man Lichtenberg sekundieren, wie viel heute öffentlich „gedacht“
wird und wie das Wort „Denken“ fast sein ganzes Gepräge verloren hat.