Donnerstag, 24. Januar 2019

Am Anfang war das Bit









NZZ, 11.1.2019

Worüber spricht die Quantentheorie eigentlich?

Die moderne Quantenphysik ist ein einziges verstörendes Paradox: Die bisher erfolgreichste Theorie der Materie, aber zugleich die unverständlichste. Sie erklärt eine atemberaubende Phänomenbreite - von den Prozessen zwischen Quarks bis zu Prozessen in weissen Zwergen und schwarzen Löchern –, aber es gibt „Interpretationen“ der Quantentheorie, als ob es sich um Lyrik handelte.

1926 war eine Art Annus mirabilis in der Geschichte der Quanten. Erwin Schrödinger legte eine neue Formulierung vor, die er „Wellenmechanik“ nannte. Darin führte er eine für das damalige Verständnis eher obskure „Wellenfunktion“ ein, die als theoretisches Beschreibungsmittel für das seltsame Zwitterverhalten von Materie und Licht auf atomarer Stufe dienen sollte: Teilchen verhalten sich unter Umständen wellenförmig, und Lichtwellen unter Umständen teilchenförmig. Schrödinger begriff seine Funktion durchaus in einem realistischen Sinn: sie beschreibt ein reales Substrat - „Materiewellen“.

Zur gleichen Zeit entwickelten Werner Heisenberg, Max Born und Pascual Jordan eine andere Version der Quantentheorie, die Matrizen als mathematische Beschreibungsmittel benutzt. Heisenberg und vor allem Niels Bohr interpretierten diese Version nicht-realistisch. Man spricht von der „Kopenhagener Interpretation“. Nach ihr beschreibt die Physik, gemäss einem berühmten Diktum von Bohr, nicht die Natur, sondern „nur“ das, was wir über die Natur sagen können. Beide Versionen erwiesen sich als gleichwertige Beschreibungsmittel quantenphysikalischer Prozesse. Aber über ihrer Interpretation entbrannte eine metaphysische Debatte, die bis heute andauert.

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Sie dreht sich um die Frage: Was beschreibt die Physik eigentlich? Die landläufige Antwort ist einfach: Prozesse „der“ Natur. Aber was ist „die“ Natur? Sich auf die Tautologie „Das, was die Physik beschreibt“ zurückzuziehen, mutet etwas billig an. Und selbstverständlich können wir sagen: Die Natur, das sind „im Grunde“ die Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen. Damit schieben wir aber „im Grunde“ das Problem nur vor uns hin. Was sind Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen? Nun, Manifestationen von Quantenfeldern. Was sind Quantenfelder? Nun, Fluktuationen eines Ur-Vakuums. Was ist dieses Ur-Vakuum? Nun, ... Es sieht so aus,  als suchten wir uns à la Münchhausen am Zopf der Physik aus dem Fragensumpf zu ziehen, aber eigentlich bräuchten wir einen metaphysischen Haken, der uns nach dem Aktions-Reaktions-Prinzip Halt böte.

Einstein erkannte das hellsichtig: „Die wirkliche Schwierigkeit liegt in der Tatsache, dass Physik eine Art Metaphysik ist; Physik beschreibt ‚Wirklichkeit’. Aber wir wissen nicht, was die ‚Wirklichkeit’ ist. Wir kennen sie nur durch die physikalische Beschreibung.“ Das klingt, als billigte Einstein die nicht-realistische Interpretation von Bohr. Aber seine Bemerkung ist kritisch gemeint. Er legt damit den Finger exakt auf die neuralgische Stelle: Die moderne Quantentheorie beschreibt etwas, aber sie weiss nicht, was sie beschreibt. Einsteins Abneigung gegen die Bohrsche Interpretation war metaphysisch: Ein Gott, der ein gesetzmässig geordnetes Universum geschaffen hat, kann nicht zulassen, dass letztlich Ungewissheit und Zufall regieren. 

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Das Kernstück der heutigen Quantentheorie ist Schrödingers Wellen- oder Zustandsfunktion. Nach einem breiten Konsens unter Physikern enthält sie die vollständige Information über das betreffende Quantensystem. Sie beschreibt das Spektrum der möglichen Messwerte – etwa Position, Energie, Spin eines Teilchens. Aber im Gegensatz zur klassischen Situation existiert dieses Teilchen erst in einem eindeutigen realen Zustand, wenn wir es gemessen haben.

Das stellt nun den Realismus des klassischen physikalischen Weltbilds von den Füssen auf den Kopf. In diesem Weltbild existieren die physikalischen Systeme unabhängig von den Messinstrumenten, und die Instrumente sind einfach Informationslieferanten. John Archibald Wheeler, einer der phantasievollsten Physiker des 20. Jahrhunderts, hat darin eine der grossen Fragen der modernen Physik geortet. Ein reales physikalisches System bezeichnet er als „It“; die Information in der Zustandsfunktion als „Bit“. Klassisch sagen wir: Da ist ein Teilchen in einem bestimmten Zustand – ein It -, und wir messen an ihm bestimmte Grössen: Bit from It. Quantentheoretisch sagen wir: Wir messen bestimmte Grössen und schliessen daraus, dass sich da ein Teilchen in einem bestimmten Zustand befindet: It from Bit. Ein Lichtpunkt auf dem Bildschirm, ein elektrischer Puls, ein Klick im Detektor: das sind die Antworten des Apparats, die informationellen Atome der Realität.

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„It from Bit“ hat das Zeug zu einer konzeptuellen Revolution. Die Formel dreht die Welt nicht mehr um die materiellen, sondern um ihre informationellen Elemente. Warum ist die Welt quantisiert? „It from Bit“ gibt uns eine trivial-geniale Antwort: Weil unsere Fragen und Antworten letztlich quantisiert sind, sich auf abzählbar viele binäre Entscheide zurückführen lassen: Fliesst ein Strom oder nicht? Handelt es sich um die Spur eines Antiprotons? Unter das Ja-oder-Nein-Niveau kommen wir nicht. Anton Zeilinger, der Quanteninformatiker aus Wien, der heute Wheelers Idee im Labor weiterführt, schreibt, dass „wir bewusst nicht mehr fragen, was ein elementares System eigentlich ist. Sondern wir sprechen letztlich nur über Information. Ein elementares System (..) ist nichts anderes als der Repräsentant dieser Information, ein Konzept, das wir aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Information bilden.“ Zeilinger stellt sogar das radikale Postulat auf: „Wirklichkeit und Information sind dasselbe.“ Man könnte vom Postulat des informationellen Realismus sprechen. Am Anfang war das Bit. Und das Bit war bei Gott?

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Hier wird einem leicht blümerant zumute. Wie schafft man denn eine Welt aus Information? Es stimmt ja durchaus, dass Experimentatoren nicht Elektronen oder Photonen „beobachten“, sondern an Apparaten bestimmte Daten ablesen. Und zweifellos lassen sich solche Daten – zum Beispiel Punkte auf einem Bildschirm -  in Bits übersetzen. Freilich,  was wären Bits ohne Its –  ohne irgendwelche materiellen Träger? Es gibt doch immer Bits-plus-Its. Wenn wir die Punkte auf dem Bildschirm als die „letzten“ immateriellen Informationsatome interpretieren, machen wir die Rechnung buchstäblich ohne die ganze materielle Welt des experimentellen Arrangements, das an der Entstehung der Punkte beteiligt ist. „It from Bit“ in einem radikalen Sinn verstanden, würde eine Rückbesinnung auf die Grundprinzipien der Quantentheorie bedeuten: Als was wollen wir sie verstehen, als eine Theorie der Materie oder eine Theorie der Information?


Schauen wir ein Zuckerstück an. Statt zu sagen, es bestehe aus einer Riesenzahl von Kohlenstoff-, Sauerstoff- und Wasserstoffatomen, könnten wir gemäss Wheeler auch sagen, diese Atome und ihre Zustände seien durch Ja-oder-Nein-Fragen bestimmt. Gewiss, die Zahl derartiger binärer Fragen erreicht astronomische Höhen, aber bei „It from Bit“ geht es um die konzeptuelle Möglichkeit der Übersetzung eines Aggregats von materiellen Atomen in ein Aggregat von immateriellen Atomen. Die Welt der klassischen Physik ist die Welt der Körper, wie wir sie auch im Alltag erfahren: Ein Zuckerstück ist ein Zuckerstück ist ein Zuckerstück. Die Quantenphysik hat dieses Stück so sehr von seiner Materialität „gereinigt“, dass sie in ihm nur noch eine ungeheuer lange Kette von Bits sieht. Hat sie sich hier womöglich verrannt? Woraus besteht die Welt, aus Quanten, Feldern, Energie, Information, einem mysteriösen letzten kosmischen Substrat? Vielleicht fragen wir falsch. Vielleicht gibt es keine Endantwort – oder sagen wir genauer: keine physikalische Endantwort. Kurz vor seinem Tod 1954 schrieb Einstein in einem Brief an David Bohm: „Falls Gott die Welt erschaffen hat, dann war sein erstes Anliegen sicher nicht, ihr Verständnis leicht für uns zu machen.“

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