NZZ, 3.1.2020
Quantentheorie des Tisches
Arthur Stanley Eddington, eine Eminenz der Astrophysik im
20. Jahrhundert, dachte nicht nur über Sterne nach, sondern auch über Tische. Vor
über neunzig Jahren stellte er sich eine ganz banale Frage. Der Tisch ist ein
gewöhnliches Stück Materie, eine stabile, solide, permanente Unterlage der
Schreibtätigkeit. Tisch Nummer 1, nennt ihn Eddington. Daneben gibt es einen
Tisch Nummer 2: „(Er) besteht zum grössten Teil aus Leere.
Spärlich eingestreut in diese Leere sind zahlreiche elektrische Ladungen, die
mit grosser Geschwindigkeit hin und her sausen; spärlich, denn ihr Gesamtvolumen
beträgt weniger als den milliardstel Teil von dem Volumen des ganzen Tisches. Nichtsdestoweniger
erweist sich sein seltsamer Aufbau als völlig funktionsfähiger Tisch.“ Wie
bringen wir die beiden Sichten auf einen Nenner?
Heute stellen Quantenphysiker eine ähnliche Frage: Der Tisch
ist ein Riesensystem aus Quantenobjekten; wie lässt er sich als klassisches
Ding verstehen? Mit dieser Frage rutscht man unweigerlich in die kryptische
Tiefe eines fundamentalen Problems.
Zunächst einmal deshalb, weil sich gesunder Menschenverstand
und Quantenphysik schlecht vertragen. Das führte schon früh zu einer Art von
Abkommen zwischen „normalem“ und physikalischem Denken, in der berühmten
Kopenhagener Interpretation von Niels Bohr. Er insistierte, dass Ereignisse im
Kleinen den Gesetzen der Quantentheorie unterworfen sind, wogegen die Beobachtung
dieser Ereignisse mit Apparaten erfolgt, also der klassischen Physik gehorcht. Bohr
hielt insbesondere eine Physik zwischen klassischen und Quantenobjekten für
nicht formulierbar.
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Dieses Bohrsche Diktat erscheint vielen Physikern bis heute
als ungereimt. Denn erstens ist die Quantentheorie die universelle Theorie der
Materie; warum sollten also ihre Gesetze nicht auch für Tische gelten? Und
zweitens zeigen sich Quanteneffekte zusehends auch auf „klassischer“ Stufe. Der
Unterschied zwischen klassischer und Quantenwelt kann also nicht an der Grösse
der Objekte liegen.
Woran dann? An zwei Säulenkonzepten der Quantentheorie: der
Zufälligkeit physikalischer Ereignisse und der Interferenz von physikalischen
Zuständen. Betrachten wir den Münzwurf. Es existieren zwei mögliche Zustände:
Kopf oben (K) oder Zahl oben (Z). Angenommen, wir halten das Resultat nach dem
Wurf verborgen. Wir beschreiben die Situation so: Die Münze befindet sich im
Zustand K oder Z, nur wissen wir nicht, in welchem der beiden. Wir können
höchstens sagen, die Wahrscheinlichkeit, sie in einem der Zustände vorzufinden,
betrage im Idealfall ½. Das ist eine typische statistische Aussage aus der
Ungewissheit heraus. Gewissheit besteht aber darüber, dass sich die Münze „in
Wirklichkeit“ im Zustand K oder Z befindet, unabhängig von unserem Wissen.
***
Die Quantentheorie liefert eine andere Interpretation. Um
ein Teilchen – Photon, Elektron, Atom oder Molekül – zu beschreiben, brauchen
wir die sogenannte Zustandsfunktion. Sie repräsentiert den Informationsstand
über das Teilchen und seine beobachtbaren Eigenschaften. Wollten wir nun den
Münzwurf quantenphysikalisch durchführen, benötigten wir so etwas wie
„Quantenmünzen“. Tatsächlich gibt es sie, zum Beispiel in der Gestalt von
Elektronen. Elektronen lassen sich anhand ihrer Eigendrehimpuls- oder
Spinzustände unterscheiden, etwa „Spin up“ (U) und „Spin down“ (D). Statt zu
würfeln, präparieren wir also mit einer geeigneten Vorrichtung den
Elektronenspin nach dem Zufallsprinzip. Dem Münzenzustand K entspricht der
Elektronenzustand U, dem Zustand Z der Zustand D.
Aber dieser Quantenzufall unterscheidet sich vom klassischen
in einem mysteriösen Punkt. Nach dem Wurf befindet sich die Münze jeweils in
einem eindeutigen Zustand K oder Z. Das Elektron dagegen befindet sich nach dem „Wurf“ nicht
in einem eindeutigen Zustand U oder D, vielmehr in einer Superposition seiner
beiden möglichen Zustände: es weist zugleich einen Spin aufwärts und abwärts
mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten auf. Die beiden Zustände interferieren wie
Wellen – eine unumgängliche Konsequenz der Quantentheorie.
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Gut, das ist Theorie, könnte man sagen, aber lässt sich denn
ein solcher Spukzustand des Elektrons experimentell nachweisen? Die Frage
impliziert eine andere: Was heisst überhaupt experimenteller Nachweis? Man
braucht dazu einen Beobachtungs- oder Messapparat. Klassisch gesehen registiert
der Apparat einen Zustand des Elektrons. Quantentheoretisch beschreibt man das
anders: Elektron- und Apparatezustand interferieren. Nach der Beobachtung
befinden sie sich in einem einzigen Gesamtzustand, einer Superposition
Elektron-plus-Apparat. Nun ist der Apparat in der Regel ein grosses Objekt,
bestehend aus einer Riesenzahl von Teilchen. Das Elektron in seinem Spukzustand
interagiert unvermeidlich mit einer wachsenden Untermenge dieser Teilchen.
Charakterisierte der Spukzustand anfänglich noch das isolierte Elektron,
verteilt er sich zunehmend auf die Umgebung. Wir können diesen Vorgang mit
einer Wasserwelle vergleichen. Bei einer isolierten Welle ist der lokale
Wellenberg gut sichtbar. Trifft sie auf andere Wellen, verschwindet dieser Berg
ziemlich schnell: er verrauscht in der Umgebung. Gänz ähnlich verrauscht der
Spukzustand des Elektrons in in der Apparateumgebung, oder wie man sagt: er
dekohäriert. Der Quantenspuk verschwindet. Stattdessen beobachtet man ganz
klassisch die Spin-Eigenschaft U oder D, aber nicht beide gleichzeitig.
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Der deutsche Physiker Heinz-Dieter Zeh schlug diese
Dekohärenz-Interpretation bereits in den 1970er Jahren vor, stiess damit
allerdings auf Unverständnis und Ablehnung. Seit gut zwei Jahrzehnten gelingt
es nun aber den Physikern dank einer zunehmend ausgeklügelteren Technologie
immer besser, Elektronen, Atome, Moleküle und sogar Makromoleküle wie Fulleren
in Spukzuständen zu präparieren. Der Kniff dabei ist, dass man die Objekte
unter „Quarantäne“ halten muss, um den Quanteneffekt hervortreten zu lassen.
Diverse Versuche – etwa im Wiener Team des Physikers Anton Zeilinger - wiesen
nach, dass diese Effekte in dem Masse verschwinden, in dem man eine Interaktion
mit der Umgebung zuliess. Der französische Physiker Serge Haroche erhielt für
seine Experimente zur Dekohärenz 2012 den Nobelpreis.
Anderen
Physikern – wie etwa Wojciech Zurek -, genügt die Kohärenztheorie nicht. Denn
die Quantentheorie sagt ja bloss, dass ein Elektron sich nach seiner
Interaktion mit dem Messapparat in einer Superposition von vielen möglichen
Elektron-plus-Apparat-Zuständen befindet. Ein Experimentator registriert aber
in der Regel einen einzigen aktuellen Zustand des Apparats, der ihn über den
Zustand des Elektrons informiert. Zurek nennt ihn Zeigerzustand
(„Pointer“-Zustand). Der Spukzustand des Elektrons ist zum Beispiel kein
solcher Zeigerzustand. Zurek postuliert nun, dass im Messvorgang eine Selektion
aller möglichen Quantenzustände stattfindet, so, dass am Ende nur noch ein
privilegierter Zustand übrig bleibt, der Zeigerzustand. Auf ihn verweist zum
Beispiel der Experimentator, der sagt: Im Zähler klickt es, das zeigt das Auftreten
eines Elektrons an. Quantentheoretisch heisst das: Da dekohäriert die
Quantensuperposition Elektron-plus-Zähler zu einem Zeigerzustand. Wir haben es
also mit einer Art von „Quanten-Darwinismus“ zu tun. Im Apparat überleben nur
bestimmte „fitte“, sprich: klassische Zustände. Zurek bezeichnet dies als
„Einselection“: „environment-induced-superselection“ („umgebungsverursachte
Superauswahl“).
***
Spätestens
jetzt verlangt es einen nach einer Atempause: In welche anaeroben Denkhöhen
muss man sich versteigen, um ein Alltagsobjekt quantenphysikalisch zu
verstehen? Eugene Wigner, einer der mathematischen Architekten der
Quantentheorie, sprach vor sechzig Jahren von der „unverständlichen Effizienz
der Mathematik in den Naturwissenschaften“. Man könnte in diesem Sinn auch von
der unverständlichen Effizienz der Quantentheorie sprechen. An ihr ist ein
erkenntnistheoretischer Streit entbrannt. Es gibt die Quantentheorie als
effizientes Recheninstrument zur Prognose physikalischer Phänomene – und es
gibt die Quantentheorie als philosophisches Instrument zur Interpretation der
Welt. Viele Physiker rufen: Begnügen wir uns mit dem Rechnen, lasst das
Interpretieren! David Mermin hat dies zum bekannten Wahlspruch gemacht: „Shut
up and calculate!“ So leicht lässt sich allerdings das Fragen und
Theoretisieren nicht verbieten. Mermins Schlagwort hat einen weniger bekannten
Zusatz: „But I won’t shut up“. –
Und
Eddingtons Tische? Heute, im Quanten-Zeitalter, müssen wir von drei Tischen
sprechen. Tisch Nummer 1 und 2, und Quanten-Tisch Nummer 3. Die klassische
Physik fragt: Wie ist ein Tisch aus unzähligen individuellen Teilchen aufgebaut?
Die Quantenphysik fragt umgekehrt: Welche und wieviele Beschreibungsmöglichkeiten
gibt es für einen Tisch aus unzähligen individuellen Quantenobjekten? Sie
spricht von Tisch Nummer 3 als einem einzigen Gesamtzustand, einer monströsen Superposition
aller möglichen Tische. Erst durch die Wechselwirkung mit der weiteren Umgebung
dekohäriert Spuktisch Nummer 3 zum wirklichen Tisch Nummer 1. Das reale Möbel,
an dem ich dies hier und jetzt schreibe, ist also im Grunde das dekohärente Resultat
der quantendarwinistischen Auslese einer riesigen theoretischen Möbelkollektion
durch den Rest der Welt ...
***
Alles
klar? Formulieren wir die Antwort so:
Dekohärenz und Quantendarwinismus liefern eine weitere Interpretation der
Quantenphysik. Sie tritt als neue Stimme dem Konzert der Interpretationen bei.
Jede Einzelstimme trägt eine mehr oder weniger plausible Melodie vor, aber
gemeinsam ertönt eine dirigentenlose Kakophonie. Jede Interpretation macht die
Quantentheorie ein wenig mysteriöser – einige sagen auch: spinnerter. Und darin
liegt eine tiefe Ironie des Tischs. Ich bin im Grunde nicht das, was du meinst,
ich sei es, sagt er uns, aber für Spekulationen über Quantenspuk diene ich nach
wie vor gerne als solide Schreibgrundlage.
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