Montag, 26. August 2024




Der Wille zur Rache

Das Wiederaufleben des Vergeltungsgedankens in der Politik

Im Rückblick erscheint die Attacke von 9/11 wie ein düsteres Fanal der kommenden Jahrzehnte. 2002 publizierte der «Guardian» einen «Brief an das amerikanische Volk», verfasst von Osama Bin Laden.  Er suchte darin die Attacke zu begründen, indem er alle Amerikaner zu Unterdrückern erklärte: 

«Ihr habt uns in Palästina angegriffen, das Blut, das aus Palästina floss, muss gesühnt wer-den (..) Die Sühne ist uns anbefohlen, von unserer Religion und unserer Idee, dass die Unterdrückten ein Recht darauf haben, die Agression umzukehren (..) Erwartet von uns nichts anderes als den Dschihad, Widerstand und Vergeltung (..) Wenn wir attackiert werden, dann haben wir das Recht, zurückzuschlagen. Wenn ihr unsere Dörfer und Städte zerstört, dann steht uns das Recht zu, eure Dörfer und Städte zu zerstören (..) Wenn ihr unsere Zivilbevölkerung tötet, dann töten wir rechtmässig eure Zivilbevölkerung».

Was man von einem solchen Begründungsschwulst auch halten mag, er zeigt seine Virulenz in der Zeit nach 9/11. Der Terrorismus ist bedenklich und bedrohlich genug. Wirklich beunruhigend ist er meiner Meinung nach als Symptom einer allgemeineren Entwicklung: des Wiederauflebens des Rachegedankens in der Politik. 

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Am 2. Mai 2011 exekutierte eine Spezialeinheit der US-Navy Bin Laden in dessen Heim in Pakistan. Präsident Obama verkündete dem amerkanischen Volk: «Justice has been done». Und damit bediente er sicher ein vorherrschendes Gefühl, das eine populäre Zeitung so zum Aus-druck brachte: «Wir haben ihn! Endlich wurden wir gerächt!» Solche Wortwahl erinnert an Vendettas. Besonnenere Zeitgenossen wunderten sich allerdings, wie Obama, immerhin ein ausgebildeter Jurist, sich an einer solchen Formulierung vergreifen konnte. Was für eine Gerechtigkeit meinte er eigentlich?

Gerechtigkeit, so wie wir sie gewöhnlich verstehen, verlangt ein Rechtssystem. Und ihr wird Genüge getan, indem man einen Verdächtigen vor Gericht stellt, das über ihn urteilt, nach dem üblichen juristischen Prozedere. Obwohl kein Zweifel hinsichtlich der Schuld Osamas bestand, machten die Amerikaner kurzen Prozess und töteten ihn. Sie zahlten es ihm heim. Und damit praktizierten sie im Grunde genau jene Rachejustiz, die bei Terroristen gang und gäbe ist. 

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In der Rache meldet sich ein Erbe aus frühester Menschheit, ein Atavismus, so lautet die gängige «aufgeklärte» Ansicht. In der Rache kollidieren Moral und Recht. Und die Erzählung von der primitiven Rache zur aufgeklärten Gerechtigkeit gehört zur Folklore des «westlichen» Selbstverständnisses, die moderne Justiz habe sich endgültig von der früheren Rachejustiz emanzipiert. 

Dieses Selbstverständnis wird heute in Frage gestellt, zum Beispiel vom Philosophen Fabian Bernhardt in seinem Buch «Rache. Über einen blinden Fleck der Moderne». Aber das ist hier nicht das Thema, sondern die Infektion der Politik durch den Rachegedanken. Die Islamisten sind die Pioniere, wie das deutlich in Bin Ladens Brief zum Ausdruck kommt. Die Terroranschläge sind nicht Kriegsakte gegen «den» Westen, sie erfolgen im Zeichen der Revanche. Die Ideologen des Terrors verstehen sie als Antwort auf die Erniedrigung und Kränkung der islamischen Kultur durch die Entwicklung der modernen Zivilisation, die ja nun tatsächlich primär in Europa und Nordamerika stattgefunden hat. 

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Dieses Gefühl der Erniedrigung ist die eigentliche Brutstätte des Racheaffekts. Demagogen aller Art bedienen sich Taktiken zur Weckung dieses Affekts. Man redet dem Publikum zunächst ein, wie stark es gedemütigt werde. Dann sucht man nach den Urhebern dieser Erniedrigung. Schliesslich stellt man sich als die Figur dar, die Vergeltung zu üben verspricht. 

Ein Schulbeispiel lieferte Donald Trump in seinem Wahlkampf 2016. Er begann auf dem Register der Erniedrigung und Bedrohtheit: «Unser Land ist in ernsthaften Schwierigkeiten. Wir haben keine Siege mehr (..) (Die Chinesen) lachen über uns als Einfaltspinsel. Sie schlagen uns im Geschäft.» Dann suchte er im zweiten Schritt die Schuldigen: «Wenn Mexiko seine Leute schickt, schickt es nicht die Besten (..) Es schickt Leute mit einem Haufen von Problemen, und diese Leute bringen ihre Probleme zu uns. Sie bringen Drogen. Sie bringen Kriminalität. Sie sind Vergewaltiger (..) Und all dies kommt nicht nur von Mexiko, sondern von überall her aus dem Süden (..) und es kommt wahrscheinlich – wahrscheinlich – aus dem Mittleren Osten». Schliesslich öffnete der Überbringer schlechter Nachrichten seinen Wundermittelkoffer: «Nun braucht unser Land (..) einen wirklich grossen Führer (..), einen Führer, der ‘The Art of the Deal’ schrieb, der unsere Jobs zurückbringt, unser Militär (..) Wir brauchen jemanden, der dem Markenzeichen USA wieder zu Grösse verhilft: Make America Great Again (MAGA)». Diesem Niveau bleibt Trump bis heute treu. An einer Konferenz der Konservativen 2023 sagte er: «Ich bin euer Krieger. Ich bin eure Gerechtigkeit. Und für all die, denen Unrecht getan wurde: Ich bin eure Vergeltung». 

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Es verlockt, zumindest hypothetisch das Aufleben des Rachegedankens mit der ethnisch-kulturellen Zersplitterung der Welt in Zusammenhang zu bringen. Im Zuge der Postmoderne, des antikolonialistischen Denkens und der «Identity-first»-Manie scheint der universelle Begriff des Menschen an Attraktivität einzubüssen und einem neuen Stammesbegriff Platz zu machen. «Wir Menschen» heisst jetzt zuerst «Wir Palästinenser», «Wir Deutschen», «Wir Eurasier», «Wir Chinesen». «Make america great again» dünstet ebenfalls diesen tribalen Geist aus. Mit «America» meint Trump natürlich die Clan-Halbwelt der Trickster, Verführer und Lügner. 

Das heisst, die Verpflichtung zu einem all die Stammes-Wir übergreifenden Regelwerk erweist sich als schwach bindend. Ein typisches Anzeichen für den Rückfall ins alte Vergeltungsdenken. Trotz UNO-Charta spricht man heute schon fast abschätzig über eine sogenannte regel-basierte Weltordnung. Wo aber kein übergeordnetes Regelwerk existiert, fasst der Rachegedanken Fuss. Ganz offensichtlich und tragisch ist der Israel-Palästina-Konflikt von diesem Gedanken durchtränkt. Vergeltungsschlag folgt auf Vergeltungsschlag, und bisher fehlt jegliche schlichtende Instanz. Ein Perpetuum mobile der Gewalt. Es lässt sich ebenfalls im Russland-Ukraine-Krieg beobachten. Ständig  hören wir in dem Medien von Vergeltungsschlägen. Man mag sie als strategische Züge deuten, aber im Untergrund dürfte auch hier der Rachegedanke mitmischen.  

So ist bekannt, dass für Putin der Mauerfall 1989 eine tiefe Kränkung darstellt, die «der» Westen Russland zugefügt hat. Deshalb wird nach der Ansicht des russischen Soziologen Grigori Judin dieser Krieg nicht aufhören, solange es den «Rächer» Putin gibt. Weil dessen Vergeltungsmotiv als Teil seiner Existenz unauslöschbar sei: «Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet und genau hier befindet sich Wladimr Putin ausnahmsweise in Resonanz mit weiten Teilen der Gesellschaft (..) Diese Emotion ist Kränkung, eine ungeheure, grenzenlose Kränkung. Eine Kränkung, die durch nichts gelindert werden kann». Und dieses Ressentiment verbreitet sich epidemisch in all jenen Weltgegenden, die unter globaler Ungleichheit leiden. Judin: «Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, neigen dazu, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen». 

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Vor über dreissig Jahren klotzte der Politikwissenschaftler Francis Fukujama mit dem Postulat des Endes der Geschichte, also des flächendeckenden Siegszugs der liberalen Demokratie – und damit auch der Rechtsstaatlichkeit - auf der Erde. Ein von Eigendünkel eingefärbter, geradezu fahrlässiger Optimismus. Die Geschichte beginnt jetzt erst richtig, und sie wird von Emotionen geprägt sein. Das Rachemotiv wird keine unbedeutende Rolle spielen. Verdrängen wir im Hochmut der «Aufgeklärten» nicht dieses Motiv, denn gerade im Verdrängten entwickelt es seine diabolischen Potenz. 




















Dienstag, 23. Juli 2024

 


NZZ, 8.8.24

Die Aura der athletischen Leistung

Über den Homo sportivus optimus

Angesichts der «übermenschlichen» Performance des Tour-de-France-Siegers Tadej Pogacar spricht der ehemalige Radrenntrainer Antoine Vayer von «Mutanten».  Damit bringt er ein Unbehagen zum Ausdruck, das viele Sportbeobachter schon einmal heimgesucht haben dürfte:  Handelt es sich bei diesen Athleten eigentlich um eine neue Gattung - sind das Hybride zwischen Mensch und Maschine? Und die Frage  stösst uns auf eine hundertjährige Sportgeschichte, die sich eigentlich als eine Technikgeschichte entpuppt. 

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Spitzensport ist das Verlangen nach physiologischer Transzendenz: man will über seinen eigenen Körper hinauswachsen, obwohl ihm natürliche Grenzen gesetzt sind. Noch 1927 schrieb der englische Physiologe und Nobelpreisträger Archibald V. Hill: «Es gibt einen Widerstand, der der Muskelsubstanz inhärent ist und der mit steigender Geschwindigkeit ebenfalls ansteigt. Dieser Widerstand fungiert als automatische Bremse, die ein Tier daran hindert, sich zu schnell fortzubewegen und auf diese Weise derart hohe Geschwindigkeiten seiner Extremitäten zu erreichen, dass diese unter ihren eigenen Trägheitsbelastungen brechen würden».

Als man aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Arenen und auf den Strassen vermehrt beobachtete, wie Athleten diesen «inhärenten» Widerstand überwanden, begann sich die Debatte der Sportmediziner um die «physiologische Pathologie» des Spitzensports zu drehen. In seinem Buch «Edu¬cation physique et la Race» schrieb etwa der französische Pionier der Sportmedizin Philippe Tissié unumwunden, dass «sportbedingte Erschöpfung beim gesunden Menschen so etwas wie eine experimentell verursachte Krankheit hervorruft (..) Der Athlet ist ein Kranker.»

Dabei sollte es freilich nicht bleiben. Mit der wachsenden gesellschaftlichen Anerkenung des Leistungssports wurde auch die Frage laut, was denn «biologische Grenze» der Leistung bedeute. Der Spitzensportler stösst eine herkömmliche Werteordnung um: Nicht die gesunde (normale) Physiologie definiert den Rekord, sondern der Rekord definiert die gesunde Physiologie. Immer gebieterischer begann das Experimentierfeld der Ultraphysiologie das Recht zu verlangen, Normen zu setzen. Wer weiss denn, wie weit man die Leistungsgrenze treiben kann, wenn nicht der Athlet selbst? Spitzensport ist die Freiheit, mit der Gesundheit Missbrauch zu treiben. Ganz nach Brecht: «Der grosse Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein». 

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Antoine Vayers Rede von den «Mutanten» weist auf eine andere Grenzauflösung hin. Athlet und Gerät gleichen sich zunehmend an. Der Sportlerkörper ist das Bild, das sich moderne Wissenschaft und Technologie von ihm machen: eine organische Maschine. Der Athlet ist nur zu bereit, die neuesten Errungenschaften der medizinischen und biochemischen Forschung zwecks Leistungssteigerung an sich zu testen. Dadurch liefert er sich – ob er will oder nicht – dem Maschinenbild aus und verhilft ihm gleichzeitig zu gesellschaftlich-kultureller Anerkennung. Er macht sich zum Verbündeten eines hochfahrenden Fortschrittsprojekts, welches die Maschine nicht nur als ebenbürtig zum Menschen betrachtet, sondern als weit leistungsfähiger. Die Entwicklung des Geräts ist nicht an biologische Grenzen gebunden. Wenn man den menschlichen Körper der Kategorie des Technischen zuschlägt, dann gibt man ihn frei zum scheinbar grenzenlosen Umbau. Sport wird Technologiefortsatz. 

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Sport strebt nach Exzellenz, und Exzellenz basiert auf einer Mixtur aus (genetischer) Lotterie und harter Arbeit. Die harte Arbeit wird nun freilich immer mehr unterstützt durch die neuen Mittel der Menschenverbesserung. Und hier liegt der entscheidende Punkt: Bis jetzt verstanden wir unter «menschlich» das, was wir aus dem von der Natur Gegebenen machen. Gewiss, wir ergänzen und verbessern diese Gabe seit alters mit Hilfsmitteln jeder Art. Trotzdem stand bislang unsere «Natur» nicht in Frage. Genau sie aber wird durch das Bio-Enhancement herausgefordert. Die Biologie kann technisch aufgerüstet werden. Menschsein bedeutet nun für eine Avantgarde, das Menschsein hinter sich zu lassen: Transhumanismus. Und in dieser Sicht werden wir uns abgewöhnen zu fragen, was von der Natur und was von der Technik stammt. 

Heute stehen Gentests zur Verfügung, die das Potenzial eines Menschen bestimmen lassen. Das  heisst, dass die Lotterie immer mehr beeinflusst werden kann. Und es gibt Philosophen wie zum Beispiel Julian Savulescu in Oxford, die diese Manipulation des natürlichen Zufalls nachgerade zum sportethischen Gebot der Aufhebung natürlicher Ungleichheit erheben: «Dadurch, dass wir allen leistungssteigernde Mittel erlauben, ebnen wir das Spielfeld». Wer nicht dopt, ist selber schuld.

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Antoine Vayer wünscht sich dagegen einen «wahrhaftigeren» Sport. Was soll man sich darunter vorstellen? Eine Enklave der «puren» sportlichen Leistung? Wenn wir von der tendenziellen Grenzauflösung zwischen Natürlichem – «Reinem» - und Künstlichem – «Gedoptem» - ausgehen, dann mutet der Appell an die Wahrhaftigkeit heute ziemlich nostalgisch  an. Wir bemerken hier eine Parallele zur Kunst. Auch sie wird durch Technologie «gedopt». Die neuesten Systeme der Künstlichen Intelligenz machen sich anheischig, nun selber kreativ zu sein, malerische, musikalische, literarische Werke zu produzieren. Die Künstler befürchten, dass diese Einmischung des Technischen die Wahrhaftigkeit ihrer Werke – ihre Aura - gefährdet. Das muss umso mehr für den Athleten gelten. Er ist Autor und Werk in Person, sein Rekord soll auf einmalige Weise demonstrieren, was er aus sich selbst gemacht hat. Walter Benjamins Feststellung über das Kunstwerk gilt besonders für das «Sportwerk»: Wird es technisch reproduzierbar, verliert es seine Aura.  

Wir wollen im Sport Eigenleistung unter der wachsenden Zudringlichkeit der künstlichen Fremdleistung sehen, Authentizität in zunehmend unauthetischeren Lebensumgebungen. Das Skandalon liegt gar nicht so sehr im Doping, sondern im Umstand, dass man dem wissenschaftlich-industriell-wirtschaftlich-medialen Riesenkomplex Spitzensport nach wie vor den Mantel der «sauberen» athletischen Eigenleistung umhängen möchte; dass man immer wieder so tut, als bekäme man das Hamsterrad unter Kontrolle, das der dopinggeständige Radfahrer Jörg Jaksche mit beissender Lakonie einmal so beschrieben hat: «Nur wer dopt, gewinnt. Nur wer gewinnt, kommt in die Medien. Nur wer in den Medien ist, macht seine Sponsoren glücklich. Nur glückliche Sponsoren geben auch im nächsten Jahr noch frisches Geld.»

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Im Grunde sind wir heute Zeugen eines tiefen und schleichenden Charakterwandels des Sports. Wenn wir bisher - und immer noch - in der sportlichen Leistung unsere natürlichen Gaben bewundern und schätzen, so ist doch festzustellen, dass die Technisierung und in ihrem Gefolge die Ökonomisierung auch das Ziel der sportlichen Aktivität umdefiniert. Die Süssholzraspler der hehren Werte täuschen uns kaum noch darüber hinweg, dass der Sport prioritär an seinem monetarisierbaren Unterhaltungswert gemessen wird. Für Pierre de Coubertin bedeutete das «schneller, höher, stärker» noch die Kultivierung einer «harten, geistig-sittlichen Muskulatur». Heute will das Publikum sich von «mutierten» Athleten faszinieren lassen. Und es zahlt dafür auch wacker. 

Natürlich betreiben wir Sport auch um des Vergnügens willen. Aber die intensive Bewirtschaftung des Vergnügens raubt ihm genau das, was man mit Schiller als sein Ethos definieren könnte: das spielerische Moment. Der Mensch ist nur da ganz Sportler, wo er spielt. Und gerade im Spiel liegt ja der Ansatz der Erziehung zur Freiheit. Heute verhält es sich eher so, dass der Sport diese Freiheit unter dem Zwang der Marktgesetze verliert. Und deshalb ist der technisch aufgerüstete «Homo sportivus optimus» die symptomatische Gestalt einer Gesellschaft, die im Begriff ist, dem Spiel seinen befreienden Charakter auszutreiben.  




Samstag, 6. Juli 2024




Conditio transhumana

Aus der Trickkiste der technologischen Fabulanten

Wird die Welt immer schlechter, träumt man gern von guten alten Zeiten. Oder von guten neuen. Seit einiger Zeit macht sich eine umtriebige Truppe von Philosophen, Wissenschaftern und Ingenieuren daran, uns auf eine Zukunft einzustimmen, in der die meisten Probleme der Menschheit gelöst sein werden. Das Projekt des radikalen Transhumanismus, wie es genannt wird, entwirft aus den neuen bio-, info- und neurotechnischen Möglichkeiten eine entsprechende neue Anthropologie, die Abschied vom Menschen nimmt, wie wir ihn kannten. Ihr Anliegen lautet etwas plakatiert: Die gegenwärtigen Probleme der Menschheit sind mit dem herkömmlichen Menschen nicht lösbar. Also muss ein neuer, „problemadaptierter“ Mensch her, das heisst: Man muss den herkömmlichen Menschen mit wissenschaftlich-technischen Mitteln neu designen, um die Probleme zu lösen. 

Das  Märchen vom Altern und Tod

Einer dieser Transhumanisten ist der Philosoph Nick Bostrom. Er erzählt uns das Märchen von Altern und Tod, dem tyrannischen Drachen, dessen Appetit man befriedigen musste, indem man ihm jeden Tag bei Einbruch der Dunkelheit zehntausend Männer und Frauen ablieferte. Schliesslich aber wurde der Drache besiegt, die Menschheit von der Tyrannei des Alterns und des Todes befreit.  

Bostrom ist nicht naiv. Er schlägt mit dem literarischen Format des Märchens geschickt drei Fliegen mit einer Klappe. Erstens macht er den wissenschaftlich-technologischen Kampf gegen Altern und Tod auf einem gemeinverständlichen „kindlichen“ Niveau plausibel; zweitens spricht er unsere tiefsten Instinkte an - wer fürchtet sich nicht vor dem Tod? – ; und drittens lädt er diesen Kampf moralisch auf. Die Auseinandersetzung mit Drachen steht seit je im Zeichen Gut-gegen-Böse. Bostrom sagt es ausdrücklich: „Wir haben zwingende moralische Gründe, die menschliche Seneszenz loszuwerden.“ Das Leben ist kurz, die Technik währt lang, sagte schon Hippokrates. Also protzt man das Leben technisch auf, damit es lange währt.

Du sollst dich verbessern!

Das Beispiel scheint mir geeignet zu sein, um auf drei Tricks aufmerksam zu machen, mit denen im Ausmalen zukünftiger besserer Welten gern gearbeitet wird. Erstens erklärt man es zur Pflicht des rationalen Menschen, das Projekt zu unterstützen. Bostrom beschreibt zum Beispiel das transhumane Leben in seinem „Brief aus Utopia“.  Man werde dort spielend 170 Jahre alt, verfüge über kognitive Fähigkeiten unerhörten Ausmasses, streue Glück in Form von ein paar Körnchen in den Tee, höre Musik, die sich zu Mozart so verhält, wie Mozart zu schlechter Musak, und so weiter. Wie also kann ein vernünftiger Mensch die Wonnen solcher künftiger Existenz ausschlagen? Schnell verfängt man sich allerdings hier im Fehlschluss vom Mittel auf den Zweck: Wir haben die Mittel zur radikalen Menschenverbesserung, ergo ist die radikale Menschenverbesserung auch der Zweck. Die Diskussion verlässt den Horizont des Wissenschaftlich-Technischen nicht mehr. Der Imperativ „Du musst dich verbessern!“ stutzt dem Wünschen, sofern es nicht ein wissenschaftlich-technisches ist, die Flügel. Wer anderes wünscht, handelt unvernünftig, ja, unmoralisch.

Jammertal-Verstärker

Zweitens erhöht sich die Wünschbarkeit der Utopie dadurch, dass man den Ist-Zustand der Welt möglichst in Grautönen malt. Nennen wir dies den Jammertal-Verstärker. Er arbeitet, meist verdeckt, auf eine Umwertung der Werte hin. Erinnern wir uns des Märchens von Bostrom. Alter und Tod sind der Drache, den es zu besiegen gilt. Das hat durchaus eine gewisse Plausibilität. Zumindest: Wer hegt nicht den Wunsch nach einem genussvollen, beschwerdefreien Alter? Aber das ist nicht zwingend der Wunsch, ein ewiges Alter zu haben. Mit dieser überdrehten Logik operiert indes das radikale Enhancement. Und sie hat tatsächlich etwas von der Logik des Märchens. Der König ist krank. Also muss ein Heilwasser oder ein Zaubervogel her. Der Mensch altert und stirbt. Also muss eine entsprechende Heiltechnologie her. Versteckt unterstellt man, das Alter sei eine Krankheit, von der man zu „gesunden“ hat. Die Utopie dichtet uns ein Defizit an, erklärt das Normale um zum Pathologischen. 

Unvermeidlichkeit der Transhumanität

Drittens artikuliert Transhumanismus einen mehr oder weniger ausgeprägten Technik-Deter¬minis¬mus: Technik entwickelt eine Eigendynamik, man kann gegen sie (das heisst: gegen die grossen Technikunternehmen) so oder so nichts unternehmen. Dadurch umgibt sich die Utopie mit einer Aura des Unausweichlichen. 

There is no alternative. Das transhumanistische Zukunftsszenario eröffnet sich uns als „zwingender“ Ausgang aus der biologischen Evolution. Was die Natur stümperhaft zusammengebastelt hat, übernimmt nun der Mensch und führt es als bewusstes Design fort. Seine „Bestimmung“ ist es, sich zu verbessern, sich verbessernd über sich hinauszuwachsen. Damit ist dem ganzen Projekt auch gleich eine kryptoreligiöse Weihe verliehen, die es für nicht wenige umso attraktiver macht. 

Der „disruptive“ Unterschied zwischen alten und neuen Techno-Utopien

Die drei Momente – In-die-Pflicht-nehmen, Jammertal-Verstärker und Unvermeidlichkeit – machen den Propagandakern der Techno-Utopisten aus. Dabei sei ausdrücklich betont, dass dem technischen Fortschritt immer schon ein gewisser utopischer Drang innewohnt. Seit er sich der Technik bedient, nimmt also der Mensch quasi am transhumanen Projekt teil. Was heute hingegen ins Gewicht fällt, ist die Verfügbarkeit machtvoller Technologien, welche diese Träume zu realisieren versprechen. 

Die Realisierungsmöglichkeit markiert den „disruptiven“ Unterschied zwischen alten und neuen Utopien. Platons Vision einer von Philosophen geführten Gesellschaft war harm-los, weil es sich tatsächlich um eine Vorstellung jenseits des Machbaren handelte. Heute führen nicht Philosophen-Könige das Zepter, sondern Digitalunternehmen-Könige mit ihren Software-Wächtern. Und sie haben die Macht, die Gesellschaft wirklich nach ihren Visionen zu verändern. Schon heute brüstet sich Google damit, dem Nutzer sagen zu können, was er will, bevor er weiss, was er will. 

Things bite back

Zur bekannten Ironie der Technik gehören die nichtindendierten Effekte von Innovationen. „Things bite back“, wie es im Englischen schön heisst. Wir kennen ja bereits Enhancement mit Botox, Steroiden, Viagra. Und wir kennen auch ihre Nebenwirkungen: Lähmungserscheinungen und Infektionen bei Botox; Herzprobleme bei Steroiden; niedriger Blutdruck und Priapismus bei Viagra. Wir haben keine Ahnung, wie das bei einem total transformierten menschlichen „Metakörper“ wirklich aussehen würde. Technophantasien, die diese Unkenntnis nicht als Parameter berücksichtigen, unterscheiden sich kaum von altem magischen Denken: der Zaubertrank hat die gewünschte Wirkung, ohne Kollateraleffekte. Aber genau diese Wunschwirkung haben Technologien nicht. Und je „totaler“ sie werden, desto grösser das existenzielle Risiko, dass der Kollateralschaden zu einem Total-schaden auswächst. 

Etwas fehlt

Es handelt sich, aufs Ganze gesehen, um Technologien der Transzendenz, die uns angeboten werden. Sie übernehmen das Geschäft der Theologen. Ray Kurzweil ist der Johannes der Täufer der neuen Religion: Die Singularität ist nahe herbeigekommen! - Nochmals: Die Visionen der Menschenverbesserer entspringen durchaus  plausiblen Wünschen und Zielen. Der Krebskranke wünscht sich eine Therapie, die anschlägt; der Querschnittsgelähmte eine intelligente Prothese; der Blinde einen Chip im Seh-Areal des Hirns. Das sind prinzipiell begrüssenswerte Posten im Projekt der Leidensverminderung und Mangelbehebung. Utopien gehen aus von der Grunderfahrung „Etwas fehlt“, um die griffige Kurzformel von Ernst Bloch zu zitieren.  Der Transhumanismus verspielt genau da seine Plausibilität, wo er dieses „Etwas fehlt“ in ein „Alles fehlt“ verwandelt, und die schlaraffische Omnikompetenz zum Massstab des Humanen macht. 

Und vergessen wir eines nicht: Transhumanismus bedeutet im Grunde nicht die Überwindung des Menschen, sondern eines Menschenbildes. Gut möglich, dass wir bald schon auch das transhumane Menschenbild überwunden haben werden. Immerhin stünde es uns gar nicht so schlecht an, vermehrt wieder das Humane im Transhumanen zu bedenken. 




Donnerstag, 6. Juni 2024

Freitag, 31. Mai 2024



NZZ, 30.5.24

Das Monster in uns

Der Hang zum Unmenschlichen ist menschlich

Jüngst war in den Medien von den «Hamas-Monstern» die Rede. «Yahia Sinwar – das Monster von Gaza». Solche Dämonisierung – oder genauer «Monsterisierung» -  hat Tradition. Ein Buch über den Massenmörder Anders Breivik trägt den Titel «The Utoya Monster», ein Film über den Inzesttäter Josef Fritzl «Geschichte eines Monsters». Regelmässig bezeichnet man Untaten, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigen, als «monströs». Den Titel «Monster» reservieren wir – oft mit heimlichem erotischem Schaudern - für Menschen, deren psychisches und intellektuelles Universum sich unserem Verständnis entzieht. Deshalb ist der Begriff auch eine Warnung; «monstrare» bedeutet zeigen und warnen. 

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Wovor eigentlich? Sicher vor physischer Bedrohung. Monster wollen Böses, sie wollen von uns Besitz ergreifen, uns vergewaltigen, unser Blut saugen, uns töten. Grund genug, sich vor ihnen zu fürchten. Aber physische Gefahr allein genügt nicht, um sie von anderen Bedrohungen zu unterscheiden. Ein Krokodil kann durchaus eine physische Gefahr darstellen, ist aber kein Monster. Und warum nicht? Weil man es einer eindeutigen Kategorie zuschlagen kann. Das Krokodil ist ein Tier. 

Zum Monstersein braucht es eine andere Aura der Gefahr. Man könnte sie die Gefahr der Uneindeutigkeit nennen. Monster passen in kein Kategoriensystem, sei dies natürlich oder kulturell. Sie sind ein Affront gegen die Natur, die Sitte, das Recht. Wir wissen kognitiv nicht, was wir mit diesem uneindeutigen Ding anfangen sollen. Wenn es keine reelle Gefahr anzeigt, so doch eine virtuelle. Und gerade diese Virtualität – das Gerücht, der Verdacht, die Imagination - macht jemanden zum Monster. Als Zwitterkategorie eignet es sich gut zur Dämonisierung des Anderen. Transmenschen werden oft als solche «uneindeutige» Wesen wahrgenommen. 

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Die britische Fernsehserie «Black Mirror» schildert dystopische Zukunftsszenarien einer völlig technisierten Gesellschaft. In einem Szenario ist die menschliche Spezies von monströsen humanoiden Wesen bedroht. Ein spezieller Trupp von Monsterjägern verfolgt und eliminiert sie. Wie sich allerdings herausstellt, ist den Monsterjägern ein Modul ins Gehirn implantiert worden, das sie andere Menschen als Monster wahrnehmen lässt. Beim Helden der Geschichte funktioniert dieses Modul nicht, weshalb er entdeckt, dass er kein tapferer Verteidiger der menschlichen Spezies ist, sondern am Vernichtungsfeldzug einer verachteten Bevölkerungsgruppe teilnimmt. 

Das ist Science Fiction. Freilich brauchen wir gar keine fiktiven Gehirnimplantate, um in anderen Menschen Monster zu sehen. Gewöhnlich nehmen wir Artgenossen spontan als Mitmenschen wahr. Aber immer wieder mischt die Ideologie des «Untermenschentums» mit, die uns suggeriert, gewisse Mitglieder unserer Spezies seien nicht «eigentlich» menschlich. Wir kennen die Ideologie sattsam aus den Traktaten der Nazis oder der weissen Suprematisten. Jüngst auch aus dem Mund des stellvertretenden Bürgermeisters von Jerusalem, Arieh King. Er erklärte angesichts von fast nackten Palästinensern, die in einer Sandgrube festgesetzt worden waren: Könnte er entscheiden hätte er die Gefangenen mit Bulldozern lebendig begraben; sie seien keine Menschen oder menschliche Tiere, sondern Untermenschen.  

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Wie stark und nachhaltig freilich dieses Ideengezücht in unseren Köpfen wuchern mag, es verdrängt den mitmenschlichen Urblick nie völlig. Oder eher, es spaltet ihn auf in zwei Teilblicke, die sich unter Umständen nicht mehr vertragen. Dieser unheimliche Zwiespalt ist in uns allen angelegt. Und er wird in dem Moment zur Monstrosität, in dem die Ideologie unsere Wahrnehmung derart in Bann schlägt, dass wir andere Menschen gegen die Evidenz unserer Sinne und gegen die innere Stimme unserer Empathie nicht mehr als «unseresgleichen» qualifizieren. Dann geschieht etwas, das im Tierreich eine Ausnahme ist: die Gewalthemmung gegenüber Angehörigen der eigenen Spezies verschwindet nahezu total. Die Hamas-Terroristen sahen in ihren Opfern zweifellos Menschen, und gerade weil die Opfer Menschen waren, wurden sie unmenschlich massakriert. Ein japanischer Veteran des Zweiten Weltkriegs sagte in einem Interview: «Wenn wir chinesische Frauen vergewaltigten, dann betrachteten wir sie als Menschen; wenn wir sie töteten, als Schweine». 

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Wir sind offenbar anfällig für diese «normale» Geistesgestörtheit. Es bedarf dazu gar nicht erst der Ideologie. Auch tradierte Vorurteile, Ängste, tiefverwurzelter ethnischer Hass können den Widerspruch am Köcheln halten. 1993 wütete der Mob im rumänischen Dorf Hadareni pogromartig gegen Roma. Zahlreiche Häuser wurden niedergebrannt, drei Roma getötet. Eine Dorfbewohnerin äusserte sich dazu wie folgt: «Wir sind stolz auf unsere Taten. Eigentlich wäre es sogar besser gewesen, wenn wir mehr Leute verbrannt hätten und nicht nur deren Häuser. Wir verübten keinen Mord – wie kann man das Töten von Zigeunern Mord nennen? Zigeuner sind nicht wirkliche Menschen, weisst du. Sie töten einander. Sie sind Kriminelle, untermenschlich, Ungeziefer».   

Das Vokabular des letzten Satzes enthüllt den ganzen monströsen Widerspruch: Roma sind Kriminelle, also Menschen, und gleichzeitig Ungeziefer, also nicht Menschen – eigentlich sind sie weder noch, nämlich untermenschlich. Die Frau lebt mit diesem Widerspruch in Seelenruhe. Sie demonstriert die «einleuchtende» Logik der Unmenschlichkeit, deren Spur sich vom Dorfpogrom in Rumänien bis zum Genozid in Ruanda zieht. Das teuflische Motiv, andere Menschen als Ungeziefer zu behandeln, liegt exakt darin, dass sie kein Ungeziefer sind. 

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Entmenschlichung beginnt im Kopf. Im Denken und Reden über andere, nicht im Behandeln an-derer, obwohl beides untrennbar zusammenhängt. Der Hang zur Unmenschlichkeit ist menschlich, und ihm wohnt oft eine mörderische logische Stringenz inne. Wir sollten also Humanität auch, nein, vor allem von ihrem entgegengesetzten Pol - der Monstrosität - her denken. Adorno nannte diesen Pol «Auschwitz» und schrieb: «Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung». Aber zu dieser Erziehung gehört notwendig das Memento, dass Ansätze zu Auschwitz immer möglich sind. 

Das forderte Susan Sontag eindringlich: «Wer sich ständig davon überraschen lässt, dass es Verderbtheit gibt, wer immer wieder mit erstaunter Enttäuschung (oder gar Unglauben) reagiert, wenn ihm vor Augen geführt wird, welche Grausamkeiten Menschen einander antun können, der ist moralisch oder psychologisch nicht erwachsen geworden. Von einem gewissen Alter an hat niemand mehr ein Recht auf solche Unschuld oder Oberflächlichkeit, auf soviel Unwissenheit oder Vergesslichkeit». 

Moralische Reife erlangen wir also, indem wir das Monster in den Horizont des Menschenmöglichen einbeziehen. Dann können wir ihm ins Auge sehen – in uns selbst. Fürchten müssen wir es immer. 

Freitag, 24. Mai 2024

 


Der Frosch im Kochtopf


Wenn sich die Dinge langsam und unmerklich verändern, ist man sich der Drastik der Entwicklung kaum bewusst. Man gebraucht hiezu oft das warnende Bild des Frosches im Kochtopf. Er springt aus dem siedenden Wasser, aber lässt sich zu Tode kochen, wenn man die Wassertemperatur stetig leicht erhöht. Die Analogie ist ein Slippery-Slope-Argument. Sie warnt uns vor Trägheit oder Widerwillen gegenüber nötigen Massnahmen und Verhaltensänderungen. Wir seien zum Beispiel angesichts der graduellen Umweltverschlechterungen wie Frösche im Topf, hört man, wir würden erst herausspringen, wenn es zu spät ist – sofern wir das dann noch können. Oder wir seien zuwenig wachsam gegenüber antidemokratischen Bewegungen in gegenwärtigen liberalen Gesellschaften, und wir würden dies erst merken, wenn die Diktatur sich etabliert hat. 

Was sagt die Biologie dazu?

Frösche sind Amphibien. Sie sind Kaltblütler, das heisst, sie produzieren nicht selbst ihre Körpertemperatur wie wir Säuger. Sie zapfen externe Energiequellen an, am häufigsten Sonnenlicht. Vom Gesichtspunkt der Effizienz aus betrachtet ist das sehr klug. Wir Warmblütler müssen viel essen, um die nötige Körpertemperatur zu erhalten. Kaltblütler brauchen viel weniger Nahrung als Energiezufuhr. 

Natürlich merken Frösche, wenn ihre Umgebung zu kalt oder zu heiss ist. Sie  regulieren ihren internen Temperaturhaushalt, indem sie Sonnenlicht suchen, wenn ihnen kalt ist. Wenn ihnen zu warm ist, verdunsten sie Wasser, um dem Körper Wärme zu entziehen, auf die Art und Weise, wie wir Menschen schwitzen. Jede Spezies hat ihr eigenes kritisches Temperaturmaximum. Bei Menschen beträgt es etwa 42 Grad; bei Fröschen zwischen 25 bis 30 Grad. Ein Frosch kann während einer bestimmten Zeit in einer Umgebung mit Temperatur über dem Maximum aushalten, bis er aus der Umgebung flüchtet. Im Übrigen sitzen Frösche nicht einfach so herum, sie sind bewegungsfreudig, was ja auch in der Redensart «Sei kein Frosch!» zum Ausdruck kommt: Lauf nicht davon, wenn die Situation brenzlig ist. 

Lobotomisierte Frösche

Seit Galvanis Experimenten mit Froschschenkeln ist der Frosch ein probates Versuchstier – ein «Präparat» - in der medizinischen Forschung. Hunderttausende dieser Tiere verendeten verstümmelt und verstückelt auf Labortischen. Und mussten auch in den Kochtopf springen. Im späten 19. Jahrhundert stand vor allem das Nervensystem des Froschs im Fokus des Interesses. Der deutsche Mediziner Friedrich Leopold Goltz - entschiedener Befürworter der Vivisektion - führte sogenannte «Ausschaltungsversuche» am Zentralnervensystem des Frosches durch, um Aufschlüsse über die Reflexvorgänge zu erhalten. Er verglich dabei Frösche, die er lobotomisiert – Teile ihres Gehirns entfernt – hatte, mit normalen Fröschen. Goltz erhöhte die Wassertemperatur auf 56 Grad innerhalb von zehn Minuten. Und er stellte fest, dass die hirnlosen Tiere im heissen Wasser blieben, während die behirnten heraussprangen. Natürlich betrachten wir aus heutiger Sicht solche Experimente mit eigentlich trivialem Ausgang als grausam. Aber wir müssen beden-ken, dass die Kenntnis über Vorgänge im Nervensystem – verglichen mit heute - noch dürftig war. Im Übrigen bezweifeln moderne Biologen die Aussagekraft des Experiments. 

Das Haufen-Paradox

Trotzdem ist die Metapher nützlich. Einmal als die Frage, wie wir auf fein abgestufte, kaum bemerkte Weise in gefährliche Situationen hineinrutschen können. Wann ist es zu spät? Das ist ein uraltes philosophisches Problem, bekannt als das «Haufen-Paradox» (Sorites-Paradox). Es hat zu tun mit den sukzessiven kleinen Veränderungen eines Zustands bis zu jenem Punkt, wo der Zustand sich in einen neuen verwandelt. Wir beginnen mit einem Sandkorn und fügen ein weiteres hinzu. Haben wir nun einen Sandhaufen vor uns? Nein. Dann fügen wir ein weiteres Korn hinzu. Immer noch kein Haufen. Wenn wir die Prozedur weiter führen, sagen wir bis zu einer Million Körnern, können wir immer noch argumentieren: Bisher war das kein Haufen, also auch jetzt nicht. Paradox, wir kommen nach dieser Logik nie zu einem Sandhaufen. 

Nun ja, das ist eher etwas für philosophisch geneigte Naturelle. Für gewöhnlichere ist die Metapher ein Hinweis darauf, wie wir Menschen quasi als «selbst-lobotomisierte» Frösche auf bestimmte, offensichtliche Gefahren nicht reagieren. Die Welt ist nämlich voller Kochtöpfe. 





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