Donnerstag, 14. Juli 2022

 



NZZ, 12.7.22


Der Schlimmstmöglichkeitssinn

Der französische Philosoph André Glucksmann schrieb 2015 kurz vor seinem Tod: «Wer davon überzeugt ist, dass es die ganz grosse Krise, die grosse Katastrophe nicht mehr geben kann, handelt sie sich erst recht ein». Glucksmann bezog sich auf den Einmarsch Russlands in die Krim 2014. Der Satz passt wie massgeschneidert auch auf die gegenwärtige Situation. Wir friedensgewohnten und konfliktentwöhnten Bürger westlicher Demokratien haben deren Verletzlichkeit aus unserem Denkhorizont nahezu ausgeschlossen. Der Publizist Richard Herzinger diagnostizierte kürzlich ein Wahrnehmungsdefizit: die Gefahrenverleugnung. Verbunden mit dieser Verleugnung sei «ein kollektiver Verlust des Kurzzeitgedächtnisses in Bezug auf frühere katastrophale Erfahrungen mit der vernichtenden Gewalt agressiver Feinde von Freiheit und Menschenwürde». 


Uns fehlt, um hier den viel benutzten Begriff von Robert Musil etwas zu dehnen, ein Schlimmstmöglichkeitssinn. Schlimmstmöglichkeitssinn bedeutet weder Paranoia noch Panikmache. Er ist vielmehr ein angemessenes intellektuelles Sensorium für die komplexe Unwägbarkeit der Welt, für die Banalität des Anormalen und Extremen. Auf die simpelste Formel gebracht lautet der Schlimmstmöglichkeitssinn: Das Normale ist nicht zu begreifen ohne das Anormale. Wir begreifen Gewaltlosigkeit nicht ohne Gewalt, Frieden nicht ohne Krieg, Moral nicht ohne Amoral, Menschlichkeit nicht ohne Unmenschlichkeit. Was aber ist das Erste, was das Abgeleitete? Eine Huhn-Ei-Frage.


***


Nehmen wir die Gewalt. Ihre Androhung kann Gewalttätigkeit verhindern. Nach einer weit verbreiteten Sicht hat uns dies bisher vom Schlimmstmöglichen, vom ultimativen nuklearen Knall, verschont. Androhung braucht Macht im Rücken. Macht bedeutet Gewaltbefugnis: Ermächtigung zu gewaltförmigen Sanktionen. Das ist zweischneidig. Befugte Sanktionen nennen wir Regulierung. Der Polizist, der uns zum Anhalten zwingt, tut dies im Namen der Verkehrsregelung. Bei einer beliebigen Person dagegen würden wir von Nötigung sprechen. Das kann im schlimmsten Fall zu Gewalttätigkeiten führen. Der Polizist nötigt uns mit Fug und Recht. Und verhindert in der Regel Gewalttätigkeiten. Alte Kampfkünste lehren uns, mit Gewalt zu rechnen, damit man sie «sublimieren» kann.


Wer hielt den Gewaltexzess in der Ukraine für möglich, schlimmstmöglich? Leben wir nicht in einer zivilisierten globalen Verkehrsordnung? In einer Welt, wo der gewaltfreie Diskurs vor-herrscht, der zwanglose Zwang des besseren Arguments, der ausgehandelte Vertrag, die begründete Entscheidung? Wer aber bestimmt Fug und Recht dieser Ordnung? Die Frage begleitet uns im postkolonialen, postwestlichen, postuniversalistischen, post-Habermas’schen Universum wie ein Tinnitus. Wenn Nationen die Ordnung nicht anerkennen, können sie sie als «Nötigung» empfinden und sich dagegen wehren. Wer ist Gewaltausübender, wer ist Gewalterleider? Zumindest nach einem einflussreichen nationalfaschistischen philosophischen Zündler – Alexander Dugin – sieht sich Russland in einem Ausnahmezustand – als geopolitischer Partisan - , bedroht durch den Universalismus der liberalen Ordnung. Sie entscheide überall, und das hält Dugin für eine «organische Ungerechtigkeit». Gegen diese «Gewalt» hilft nur Gegengewalt. Sie hat uns «westliche Nötiger» ganz offenkundig auf dem falschen, auf dem Gewaltlosigkeitsfuss erwischt. 


***


Nehmen wir den Krieg. Begreifen wir Frieden aus dem Krieg oder Krieg aus dem Frieden? Michel Foucault beschäftigte sich 1976 in seinen Vorlesungen am Collège de France mit dieser Frage. Und zwar ging er aus vom Clausewitz-Satz «Krieg ist Politik mit anderen Mitteln», genauer von der Umkehrung: Politik ist Krieg mit anderen Mitteln: «Die politische Macht fängt nicht dann an, wenn der Krieg aufhört (..) Der Krieg ist nicht zu Ende. Zunächst hat er den Staaten zur Geburt verholfen: Recht, Frieden und Gesetze werden im Blut im Schlamm der Schlachten geboren (..) Man muss aus dem Frieden den Krieg herauslesen.» 


Das erinnert nun frappant und unangenehm an einen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der mit eisigem Scharfsinn das Freund-Feind-Schema verfochten hat, an Carl Schmitt, den Anwalt der Nazi-Justiz: «Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Der Krieg folgt aus der Feindschaft (..) Krieg ist nur die äusserste Realisierung der Feindschaft (..) Er muss als reale Möglichkeit vorhanden bleiben, solange der Begriff des Feindes seinen Sinn hat.» Man mache sich bewusst, dass die Schmittsche Ideensaat gegenwärtig in techno-autokratischen Kreisen Chinas und fascho-autokratischen Kreisen Russlands prächtig aufgeht. Der Krieg gegen den äusseren und inneren Feind bestimmt für diese machtsüchtigen Kamarillen die Wirklichkeit. 


***


Um uns Friedlicherem zuzuwenden: Der Schlimmstmöglichkeitssinn aktualisiert ein altes stoi-sches Prinzip des praktischen Lebens,  die praemeditatio malorum, das Ausdenken des Schlimmstmöglichen. Es aus dem Denkhorizont auszuschliessen ist eine Form von Blindheit. Man muss dabei Stoizismus und Pessimismus deutlich auseinanderhalten. Der Pessimist sagt «Es wird immer schlimmer»; der Stoiker sagt «Was wäre, wenn es immer schlimmer würde». Die Differenz zwischen Indikativ und Konjunktiv erscheint geringfügig, ist aber wesentlich. Der Stoiker zeigt sich gerade im Angesicht des Schlimmstmöglichen als Optimist, denn er glaubt an die unbegrenzte Macht des Konjunktivs, der Phantasie. Man wägt die möglichen, auch die schlimmsten Ausgänge einer Geschichte ab, und ist dadurch auf unerwartete Eventualitäten gefasst. Das kann aus Furcht und Schreckenstarre befreien. Jedenfalls ist dieses Denken des Schlimmstmöglichen etwas anderes, als sich übervorsichtig durch die Furcht bestimmen zu lassen. Auch etwas anderes, als das Übel, das kommen könnte, nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen. 


Wir kennen natürlich jemanden, der alles Geschehen auf die schlimmstmögliche Wendung hin dachte. «Das Mögliche ist ungeheuer» schrieb der Dramatiker der Katastrophe, Friedrich Dürrenmatt. In seinem und im Sinn Musils plädiere ich für so etwas wie eine Anthropologie des Schlimmstmöglichen. Sie denkt den Menschen von seinem Grenzfall, von seiner Unmenschlichkeit her. Jeder ist bereit, unter Umständen dem anderen Leid und Schaden zuzufügen. Wir kennen diese Umstände nicht. Hinzu kommt aber noch etwas anderes. Der Mensch ist das Tier, das Normen setzt – soziale, politische, ethische - , aber er ist auch fähig, ja bereit, jegliche Norm zu brechen, wenn er sich im Besitz der dazu nötigen Legitimation wähnt. Eine solche Legitimation kann ein einfacher Befehl sein, sie kann darin bestehen, dass man sich vom anderen bedroht fühlt, ja, ihn als «anderen» definiert. Mit dem Menschen betritt der befugte Gewalttäter, Massakrierer und Vernichter die Welt. Das Schlimmste an ihm ist nicht, dass er Grausames tut, sondern stets wieder eine Lizenz findet, Grausames von Rechts wegen – also ohne Schuldbewusstsein - zu tun. Wiegen wir uns übrigens nicht in der Illusion, humanistische Bildung helfe per se gegen Inhumanität. 


Wenn wir das Normale nicht ohne das Extrem begreifen, müssen wir zwingend – gerade in der aktuellen Debatte um die «Putinversteher» -  einen Unterschied statuieren: Das Extrem begreifen heisst nicht, es zu rechtfertigen. Das ist der Fehlschluss der Lobhudler kriegerischer Virilität, der Technologen und Ästheten der Gewalt, der Kokettierer mit dem Ausnahmezustand. Ihnen allen muss man den Satz des Philosophen Odo Marquard entgegenschleudern: Es ist vernünftig, den Ausnahmezustand zu vermeiden. Das Schlimmstmögliche ist ein rationales Denkregulativ. Wir visieren es nicht an, um es zu erreichen, vielmehr hilft es uns zu erkennen, wovon wir wegkommen wollen oder sollten. Das Schlimmstmögliche hat durchaus das Potenzial, uns freundlicher zu machen. Es ist das Beste, was uns passieren kann – solange es nicht passiert.


  Die Geburt des Terrors aus dem Geist des Spektakels Terroristen kämpfen eine Art von Tai  Chi: sie nutzen die Kraft des Gegners zu ihren G...