Samstag, 27. Januar 2024


NZZ, 24.1.24

Wildnis dank Technik

Unberührtheit der Natur ist ein antiquierter Wert

Der Mensch gefährdet Natur zunehmend, das ist altbekannt. Leicht prangert man dabei die Technik als Handlangerin an. Und das ist zu kurzsichtig. Die Frage stellt sich vielmehr, ob Technik auch zur Rettung der Natur beitragen kann. Etwa dadurch, dass man ihr durch automatische Systeme auf die Sprünge hilft. Gentechniker designen Bakterien, die Plastik abbauen. Oder Robotiker konstruieren künstliche Bienen – «Robobees» - , die mangels natürlicher das Bestäuben über-nehmen. 

Wie scheel man solche Bemühungen auch betrachtet, sie deuten den Horizont eines weit grösseren Unterfangens an. Umweltforscherinnen und -forscher der Universitäten Harvard und Maryland nennen es die «automatische Kuratierung von wilden Orten».  Sie schreiben: «Die Erhaltung von wilden Orten verlangt zunehmend intensive menschliche Interventionen (..) Könnte ein Deep-Learning-System die Autonomie nichtmenschlicher ökologischer Prozesse erhalten ohne direkte menschliche Einwirkung?» 

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Man spricht von computergestützter Nachhaltigkeit. Sie widerspricht unserem traditionellen öko-logischen Denken, das tief geprägt ist vom Gegensatz Technik-Natur. In der Antike unterschied man streng zwischen Menschengemachtem und Gewachsenem. Aber eigentlich sind Ökosysteme immer schon Komplexe aus Menschen, anderen Lebewesen und Technik. Man denke an Getreidefelder oder Forste. «Wilde» Natur ist eine Komponente dieses Komplexes. Wir erhalten sie, indem wir sie gestalten, also unsere besten Instrumente benutzen.

Und dazu gehören lernende Algorithmen. Sie werden heute schon vielfältig im «Nature Watching» eingesetzt. Zum Beispiel installiert die Organisation Rainforest Connection Sensoren als «Wächter des Waldes» in Nationalparks auf den Philippinen, in Indonesien und Costa Rica. Global Fishing Watch nutzt Satellitendaten in der Verfolgung und Verhinderung von illegaler Fischerei. Ohnehin betreibt man heute Tierbeobachtung in Echtzeit vermehrt aus externer Satellitenperspektive. Um den ganzen Globus spannt sich eine immer dichtere interaktive Technosphäre – die «Smart E-arth». Das Ausmass einer solchen technikgestützen Wildnis lässt sich nur erahnen. Die kanadische Umweltforscherin und Unternehmerin Karen Bakker spricht von einem «Internet der Erdlinge».   

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Hier bricht jedoch der latente Widerspruch auf. So wie der Erdling Mensch in der Ausbeutung der Natur die Hauptrolle spielt, so auch in ihrer Schonung. Wir müssen aufpassen, dass wir Schonung nicht wiederum anthropozentrisch verstehen, das heisst, unter der schützenden Hand des «Internets der Erdlinge» Natur nach wie vor primär als Ressource, als «Dienstleisterin» des  konsumierenden Lebensstandards betrachten.  Manifestiert sich nicht verdächtig genug die Tendenz, Umweltschutz als Schutz dieses Standards zu begreifen? Sind Smart-Earth-Technologien nicht die neuesten Ausgeburten eines digitalen Kapitalismus, der sich grüngewaschene Selbstabsolution erteilt? Wer beteiligt sich mehrheitlich an den Umweltdateninitiativen? Google, Micro-soft, IBM, Hewlett Packard, CISCO. Sie spielen schon in der allgegenwärtigen Überwachungstechnologie des Menschen eine (un)heimliche Vorreiterrolle. 

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Trotzdem: Eine «nachwilde» Natur schliesst die menschliche Intervention, also eine umsichtige, «sorgende» Öko-Technik auf einem sich erwärmenden Planeten ein. Die Betonung liegt auf «Um-sicht», einer Umwertung der Werte, in dreierlei Hinsicht. Erstens die Hinterfragung des «Muskismus», einer grössenwahnsinnigen Ideologie der Technik als Garantin haltlosen Wachstums «wie immer»;  zweitens eine Konzeption der Technik, die in ihr nicht – und dies seit der Antike – bloss  Zwang und Gewaltanwendung gegen die Natur sieht; drittens die Aufwertung eines alten Wildnisbegriffs: der natura naturans, einer «nicht gebauten», einer schaffenden, nur partiell kontrollierbaren Natur. 

Bruno Latour, der französische Philosoph und Gaia-Hohepriester, sprach von einem «Parlament der Dinge», in dem neben menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen auch Artefakte ihre Stimme einbringen können. Statt einer solch überkandidelten Vision meint Umsicht nüchtern den Appell: Lerne endlich die «Wildheit» der Natur, der anderen Erdlinge kennen! Sie können ohne uns leben, und sie haben ihre eigene kognitive Ausstattung, um zu überleben. Vielleicht eine bessere als der Mensch, dieses «exzentrische» Tier. Wir wissen viel zu wenig, was für unbekannte Unbekannte in dieser «Wildheit» stecken. 

Ohnehin wird sich im Anthropozän die menschliche Intervention noch deutlicher als das erweisen, was sie schon immer war: ein Hasardspiel. Die Evolution ist Meisterin dieses Spiels – und sie lacht immer zuletzt. 









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