Dienstag, 29. November 2022

 





«Alle Weissen sind Rassisten»

Über die Tücken der Verallgemeinerung


Den Satz schrieb 2017 das Transgender-Model Munroe Bergdorf auf Facebook. Natürlich erhob sich umgehend ein Shitstorm. Man kann den Satz simpel, dumm, falsch, beleidigend, selber rassistisch finden. Das ist breitgetretener Quark. Darauf möchte ich hier nicht eingehen, sondern auf etwas Unsichtbares, Unscheinbares: die logische Struktur der Aussage. Sie enthält selber auch einigen Zunder. Der Satz lässt sich nämlich umformulieren in einen logisch gleichwertigen: «Alle Nicht-Rassisten sind nicht weiss». Das erscheint auf dem ersten Blick unverfänglich – bis wir nach Evidenz für die Aussage suchen. 

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Wenn mich jemand nach bestätigenden Beispielen für den Satz «Alle Weissen sind Rassisten» fragt, könnte ich nämlich antworten: «Dieser Japaner, dieser Inder, dieser Senegalese, dieser Puertoricaner sind alle nicht rassistisch». Sie alle verifizieren den zweiten Satz, und damit auch den logisch gleichwertigen Satz «Alle Weissen sind Rassisten». Ich brauche mich gar nicht unter Weissen umzuschauen. Die ganze farbige Community von Nicht-Rassisten stützt meine Aussage. Klingt paradox. Ist es auch. 

Ein typische Problem aus dem Philosophieseminar? Der britische Philosoph George Berkeley sagte einmal selbstkritisch über seine Zunft,  Philosophen würden eine Menge Staub aufwirbeln und sich dann beklagen, sie sähen nichts mehr. Tatsächlich hat das Paradox einigen Staub unter Philosophen aufgewirbelt. Es trägt den Namen – nach seinem Entdecker Carl Gustav Hempel - «Hempel-Paradox». Es tritt automatisch dann auf, wenn wir eine allgemeine Aussage machen und nach Bestätigung suchen. In der Regel berufen wir uns auf ein paar Fälle. Und deshalb steht die Aussage stets auf unfester Basis. Wir können noch so viele verifizierende Beispiele anführen –  sie liefern keinen definitiven Beweis. Man muss stets mit Gegenbeispielen rechnen. Es gibt natürlich heute ausgefeilte statistische Methoden und Modelle, die mit repräsentativen zufälligen Samples arbeiten und errechnen, wie solide eine Hypothese durch die Daten dieses Samples gestützt ist. Aber sie bleibt fehlbar.

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Nun gibt es ein patentes Rezept, eine allgemeine Aussage zu prüfen, nicht indem man Bestätigung sucht, sondern Widerlegung: Falsifikation. Bestätigung und Falsifikation sind asymmetrisch. Dies eine Einsicht des Philosophen Karl Popper. Ich kann eine allgemeine Aussage nie endgültig bestätigen, aber ich kann sie endgültig falsifizieren. Theoretisch genügt ein Fall. Ich brauche nur einen einzigen nicht rassistischen Weissen vorzuweisen, und die Aussage von Frau Bergdorf ist erledigt. So einfach das erscheint, so schwierig ist die Praxis. 

Denn wir sind kognitiv träge. Wir alle haben Überzeugungen, die wir nicht oder nur unter grösstem Widerstreben aufzugeben bereit sind. Auch nicht, wenn Fakten gegen sie sprechen. Das sogenannte postfaktische Zeitalter hat diesen tiefverwurzelten renitenten Charakterzug unseres geistigen Lebens zum Vorschein gebracht. Wir sind schlechte Falsifizierer. Ein Grund liegt darin, dass wir mit dem Wissenswachstum, trotz enorm verbesserter Zugangsmöglichkeiten zu Informationen, nicht Schritt halten. Wir können und wollen unser Weltbild nicht ständig umbauen. Eher denken wir in der gemütlichen Balance des Vertrauten falsch, als dass wir die Falschheit entdecken und das Vertraute in Schieflage bringen. Das gilt im Übrigen für Laien wie Wissenschafter.

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Uns sucht immer wieder ein Denkfehler heim: das Bestätigungs-Bias, die Neigung, nur Beispiele anzuerkennen, die unsere Aussagen oder Vorurteile bestätigen. Rassismus ist in der Tat eine mentale Disposition, die das Bias festigt. Rassismus weist die typische logische Struktur des «Alle X sind …» auf, wobei X eine ethnische, soziale, religiöse oder Gender-Gruppe bezeichnen kann. Das Bestätigungs-Bias hat die hinterhältige Tendenz der Selbstverstärkung. Etabliert sich das Stereotyp einmal als «Commonsense», kann es dazu führen, dass sich die X auch «stereotyp» zu verhalten beginnen. «Dass einer Jude heisst, wirkt als die Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht», schreiben Horkheimer und Adorno.

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Selbstverständlich verallgemeinern wir ständig. Wir generalisierenden Tiere sind mit dem nötigen kognitiven Apparat dazu ausgestattet. Wir speichern nicht jedes einzelne Exemplar von Stühlen in unserem Gedächtnis, wir bilden den Begriff des Stuhls. Damit navigieren wir durch die «Wildnis» vieler einzelner Stühle. Herbert George Wells, ein Klassiker der Science Fiction, hat das vor über einem Jahrhundert in einem immer  noch lesenswerten Aufsatz («Die Wiederentdeckung des Einzigartigen», 1891) so beschrieben: «Nur weil wir nicht einen Geist von unbegrenztem Fassungsvermögen besitzen, nur weil unser Hirn nur eine beschränkte Menge von Ablagefächern für die Übereinstimmung mit dem unbegrenzten Universum an Einzeldingen bereit stellt, müssen wir uns vormachen, dass es so etwas wie ein gemeinsames Merkmal für Stuhlheit in der Gattung aller Stühle gibt».

Die «Stuhlheit des Stuhls» - hier gerät man auf gefährliches Terrain. Wie Wells schreibt, macht man sich etwas vor. Man hebt bestimmte gemeinsame Merkmale hervor und erklärt sie zum Wesen von etwas. Alle Stühle bieten eine Sitzfläche an. Auch die Umkehrung gilt: Was keine Sitzfläche anbietet, ist kein Stuhl. Die Sitzfläche gehört zum Wesen des Stuhls, nicht aber, dass er vier Beine hat oder aus Holz gefertigt ist. Bei Sachen ist diese Verwesentlichung – der «Essenzialismus» - harmlos. 

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Bei Menschen nicht. Der Essenzialismus beginnt meist unscheinbar. Man wählt ein paar Merk-male aus, die man bei einer Gruppe X häufig beobachtet und verallgemeinert dann hypothetisch: Alle X sind so und so. Nun kann man aber der Verallgemeinerung einen essenzialistischen Dreh geben, indem man sie nicht bloss als empirisch feststellbare Häufigkeit, sondern quasi als Wesensmerkmal der Gruppe auffasst. Dann verliert die Charakterisierung ihre Unschuld. Dann lautet «Alle Weissen sind Rassisten» essenzialistisch interpretiert: Alle Weissen sind ihrem Wesen nach Rassisten. Man kann sie nicht ändern. Sie sind unbelehrbar. Sie tragen den Rassismus als unauslöschliches Kainsmal auf sich. Das Argument durchzieht als unselige Spur unsere ganze Denkgeschichte: das «Wesen des Juden», das «Wesen der Frau», das «Wesen der westlichen Denkart», das «Wesen des Schweizers». Letzteres definierte ein Bundesrat einmal so: genau, pünktlich, solide, kein Blender. Ich zum Beispiel bin nicht pünktlich, unsolide, machmal ein Blender. Also kann ich kein Schweizer sein. 

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Gewiss, das ist Hardcore-Essenzialismus. Es gibt die abgemilderte Version, den strukturellen Rassismus: Wer Teil eines gesellschaftlichen Systems ist, das Ethnien, Gender und was auch für Gruppen diskriminiert, ist selber Rassist, drehe und wende er sich, wie er will. Eine Journalistin schreibt kürzlich: «Wenn es um Rassismus geht, haben wir Weissen den Reflex zu sagen: Ja, ja, das ist alles schlimm. Aber ich bin ja nicht rassistisch. Ich achte auf meine Sprache und mir ist die Hautfarbe egal. Es gibt zwar Rassisten, aber ich bin hier ganz sicher nicht das Problem». Das sieht die Journalistin anders: «Ich bin Rassistin, weil es rassistische Strukturen gibt, und ich von denen profitiere». Das tun wir Weissen wahrscheinlich alle, und so gesehen sind wir alle Rassisten. Irgendwie. Bin ich Rassist, wenn ich Kaffee von einer Plantage kaufe, die ein Rassist führt? Ist Rassist, wer an die Fussball-WM in Katar fliegt, die von einem Minderheiten diskrimierenden Regime organisiert worden ist? Die Verallgemeinerung bedarf einer Differenzierung, sonst verhängt sie als Pauschalcharakteristikum ein kollektives Schuldurteil über die Weissen. Ein duseliger Moralismus, letztlich Denkfaulheit.

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Vom Schweizer Historiker Jacob Burckhardt stammt bekanntlich der Begriff «terrible simplificateur»:  schrecklicher Vereinfacher. Zu dieser Kategorie gehört erst recht der schreckliche Verallgemeiner. Er steckt eine Gruppe in den Sack von «Gleichen» und schlägt darauf ein mit seiner Keule der Verallgemeinerung. Er sieht nur «den» Stuhl, keine einzelnen Stühle. Aber jeder Mensch hat das Recht, ein Einzelfall zu sein. Und dieser Einzelfall verlangt Geduld, Sorgfalt und Denkschärfe. Der Satz «Alle X sind ..» ist Segen und Fluch zugleich. Er ermöglicht uns den Auf-stieg zu einer Sicht auf die Welt als Ganzes, und er verzerrt immer wieder die Sicht auf die Einzelheiten und Unterschiede. Der Statistiker und Mediziner Hans Rosling spricht in seinem lesenwerten Buch «Factfulness» (2018) vom «Instinkt der Verallgemeinerung». Ich sehe in Verallgemeinerung und Vereinzelung eher zwei antagonistische Denkkräfte. Ihren Antagonismus auszuhalten kennzeichnet intellektuelle Reife.

Der Kampf gegen den Rassismus beginnt also bei der Logik: bei der Verhexung unseres Verstandes durch den Allgemeinbegriff. 


Dienstag, 22. November 2022

 



NZZ, 19/11/22

Esel und Kluge

Die (un)heimliche Macht minoritärer Sturheit

Die liberale Demokratie feiert sich gern als Hort der Meinungsvielfalt. Zumal Minderheiten fänden in diesem politischen Raum Gelegenheit zur Äusserung und Verbreitung ihrer Positionen. Aber diese Offenheit hat ihre Tücke. Wir beobachten ein irritierendes Paradox: In einer «nachgiebigen» Gesellschaft zahlt sich Unnachgiebigkeit aus. In steigender Kadenz erfahren wir, wie Minderheiten ihre Positionen gegenüber einer Mehrheit durchsetzen. Im Konzert einer weissen Reggaeband fühlen sich einige wenige Personen «unwohl» angesichts der Rastalocken eines Musikers, und schon wird die Darbietung beendet. Das ganze Cancel-Unwesen beruht vermutlich auf dem Aktivismus einer Handvoll Eiferer in den Social Media, deren Gnadenlosigkeit nur durch ihre Geistlosigkeit übertroffen wird. Dahinter verbirgt sich eine tiefere soziale Dynamik.  

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Der streitbare Publizist Nassim Taleb nennt sie in seinem Buch «Skin in the Game» (2018) «verborgene Asymmetrie im alltäglichen Leben». Damit meint er etwas, das in einer Schweizer Redensart sehr schön zum Ausdruck kommt: «Der Gschiider git nah, der Esel blibt stah» - «der Kluge gibt nach, der Esel bleibt stehen». Ich gebrauche den Begriff Esel hier nicht wertend, sondern verstehe unter ihm schlicht Unnachgiebigkeit, die keine Wahlmöglichkeit kennt oder anerkennt. Der Kluge hat immer Wahlmöglichkeiten und er passt sich den Umständen an. Unnötig zu betonen, dass es sich um «Karikaturen» handelt. In jeder Person erscheint ein individueller Phänotyp aus Esel und Klugem. 

Asymmetrie bedeutet: Es braucht oft nur eine kleine Anzahl Esel, um ziemlich grosse kollektive Effekte – auch unter Klugen - zu bewirken. Dieses Phänomen ist unabhängig vom Meinungsinhalt, ihm liegt ein eigentümliches Muster kollektiven Verhaltens zugrunde, der sogenannte Skaleneffekt. 

Ich wandle hier ein Beispiel von Taleb leicht ab. Angenommen, in einer Familie gibt es einen unnachgiebigen Veganer. Um die häusliche Harmonie nicht unnötig zu verkomplizieren, stellt die Familie das Menu auf vegan um. Der Vorgang kann sich in grösserem Ausmass wieder-holen. Die Familie wird zu einer Party mit Nachbarn eingeladen. Da sie für ihre Esssitte bekannt ist, und man sie nicht als «Esel» diskriminieren möchte, bietet der Gastgeber nur veganes Essen an. Den anderen Gästen macht das wenig aus, womöglich finden einzelne sogar Geschmack an dieser Esspräferenz, ohne Esel zu werden. Auf einer Skala höher passt der lokale Einzelhändler sein Angebot der steigenden Nachfrage nach veganen Produkten an. Möglicherweise beeinflusst das auch den Grosshandel. So vermag die Unnachgiebigkeit eines einzelnen Esels die Dynamik in grossem Ausmass zu steuern. Weil er in eine nachgiebige Mehrheit «eingebettet» ist. 

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Die Nachgiebigkeit in einer Demokratie manifestiert sich im freien Meinungsaustausch. Das heisst, es gibt eine – vermutlich normale - Verteilung der Meinungen. In der Mitte die Mehrheit der gemässigten Meinungen, gegen aussen Abweichungen davon. Darunter tummeln sich natürlich immer auch extreme minoritäre Meinungen. Im Namen der Freiheit können sie die Ausbreitung von Radikalität fördern. Radikal im dem Sinn, dass man nicht nur die anderen Meinungen, sondern die Andersmeinenden ablehnt. Das führt zu Spannungen. 

Komplexitätsforscher versuchen schon seit einiger Zeit, diese Dynamik mit quantitativen Methoden zu beschreiben. Bei allen Vorbehalten gegenüber solchen Simulationen im sozialen Vakuum ermöglichen sie uns doch, Muster in der Meinungsdynamik zu erkennen. Ein Modell von Mathematikerinnen und Mathematikern der University of California in Los Angeles zeigt zum Beispiel, wie Radikalität mit zunehmender Meinungsspannung wachsen kann.  Erreicht die Spannung einen bestimmten Wert, steigt die Radikalisierung von Minderheiten sprunghaft an. Erneut ist im Modell eine Asymmetrie erkennbar: Radikalisierung lässt sich, selbst wenn die Situation sich entspannt, schwer rückgängig machen. Der entscheidende Punkt ist die Ablösung von der Mitte. Die Folgen sind nur zu gut bekannt: Verbunkerung in der eigenen Meinung, Gesinnungsinzest, Gesprächsabbruch und der Schritt zur politischen Aktion.

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Hinzu kommt ein weiterer Faktor: die «Extrawurst». Ein demokratischer Betrieb braucht Regeln als gemeinsamen Verhaltensnenner für alle. Und dafür muss jeder Einzelne kleine Kompromisse eingehen. Dem flexiblen Klugen macht der Kompromiss wenig aus, der kompromisslose Esel verlangt dagegen eine Regelung, die auf ihn zugeschnitten ist. Die Ausnahme will die Regel sein. Einzelne Esel und ihr störrisches Verhalten übersehen wir, hingegen entwickeln sie ab einer gewissen Schwellenzahl eine Durchschlagskraft, die wir nicht ignorieren können. Die Asymmetrie, die dadurch entsteht, verschafft sich heute oft im Murren über die unverhältnismässige Rücksicht auf Minderheiten und deren «Extrawürste» Gehör. Behindertengerechte Einstiege im öffentlichen Verkehr sind ja ok, aber muss man gleich ein Gesetz den Bedürfnissen einer Minderheit von Transpersonen anpassen… 

Hier zeigt sich die Kehrseite der Diversität. In einer heterogenen offenen Gesellschaft wächst die Zahl der Minderheiten proportional zur Zahl der Identitätsmerkmale, die man sich zuschreibt oder zugeschrieben erhält. Aber Identität hat durchaus einen diskriminatorischen Hang. So gibt es ja innerhalb des Feminismus Abgrenzungsbewegungen, die in neue Minoritätenprobleme mün-den. Die sogenannten «Trans ausschliessenden Radikalfeministinnen», die TERFs («trans exclusionary radical feminists») lehnen Trans-Frauen ab. Man spricht bereits von «Trans-Misogynie». Mehr noch, es gibt die Sexarbeiterinnen ausschliessenden Radikalfeministinnen, die SWERFs («sex worker exclusionary radical feminists»). Was für Untergattungen von ERFs kommen noch?

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Verdient der Esel seine Freiheit? Müsste man diese Freiheit nicht von einer «Kompetenz» der Nachgiebigkeit abhängig machen? Die Fragen sind hässlich, weil sie so etwas wie ein intellektuelles Brevet zu verlangen scheinen. Wenn bisher von der sozialen Dynamik die Rede war, so sollte man also den Einzelnen nicht übersehen. Wie gesagt, in uns allen steckt der Kluge und der Esel. Die gegenwärtige Lage begünstigt den Esel, denn er findet für seine Meinung genügend Plattformen und Enklaven im Netz. Die Philosophen Stephen Nadler und Lawrence Shapiro verfechten in ihrem Buch «When Bad Thinking Happens to Good People» (2019) einen erzieherischen Ansatz. Sie führen den Einfluss von minoritären extremen Meinungen auf ein Denkdefizit zurück: «epistemische Sturheit».  Und sie sehen die Therapie in «gutem», das heisst vor allem philosophisch geschultem Denken. Das klingt nun doch ziemlich nach patronisierendem Gutmeinertum, unter Anleitung des Oberlehrers Sokrates. Ohnehin schiesst die Denkratgeberliteratur üppig ins Kraut. Ob sie von Eseln gelesen wird? Gewiss, man kann viel «schlechtes» Denken in QAnon-, Impfgegner- oder Klimaskeptikerzirkeln entdecken, aber nicht wenige Esel wissen mit argumentativem Besteck hervorragend zu hantieren.  

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Die Freiheit der Meinungsäusserung  schützt abwegige Meinungen. Es handelt sich um ein Ideal. Minderheiten fordern es immer wieder heraus. Eine grosse alte Dame der politischen Philosohie, Judith Shklar, sprach von einem «Liberalismus der permanenten Minderheiten». Das heisst, eine Demokratie kann sich nicht liberal nennen, wenn sie nicht die «permanent» Ungehörten, Erfolglosen, Randständigen, Ausgegrenzten einschliesst. Es gilt aber, Ansätze von heimlicher Minderheitsdynamik im Blick zu behalten. Das ist gerade auch eine kritische Aufgabe der Medien. Der Esel muss unter den Klugen kenntlich gemacht werden, denn unter seinesgleichen bleibt er unsichtbar. Vielleicht gelangt ein solcher Liberalismus an die Grenze der Liberalität. Das alte Paradox der Intoleranz gegenüber Intoleranz. Jedenfalls verhindern wir so die Ausbreitung der Unnachgiebigkeit – eines hoch ansteckenden Infekts im politischen Gewebe der Demokratie. 






Donnerstag, 17. November 2022

 





Canceln – Ende der Kritik?

Im amerikanischen «Harper’s Magazine» erschien 2020 ein offener Brief, der zwar nicht explizit, aber doch implizit die Praktiken der Cancel Culture und ihrer Bedrohung der freien Debatte aufs Korn nahm. Die Unterzeichnenden waren über 150 Intellektuelle aus Journalismus, Kunst und Universität. Die junge afroamerikanische Journalistin Erin B. Logan stiess sich am Brief, und sie erinnerte in einer Kolumne der «Los Angeles Times»  an die mediale Misere vieler «journalists of color», die auf Gedeih und Verderb von ihren Bossen abhängig, oft infolge falscher Urteile und Entscheide vor die Tür gesetzt – gecancelt – worden seien. Cancel Culture schlage nun gegen die «Türhüter des akzeptierten Diskurses» zurück.

Die Kontroverse ist Schnappschuss einer ziemlich heftigen Debatte, die auch auf Europa übergeschwappt ist. Die einen sehen im Canceln eine Lappalie,  die anderen eine Bedrohung fundamentaler Bürgerrechte.  Da Erin B. Logan auf den «akzeptierten Diskurs» anspielt, wäre ein Begriff von Michel Foucault vielleicht unverfänglicher: Diskurskritik. Und ein Anlass, den Unterschied zwischen Canceln und Kritik etwas genauer unter die Lupe nehmen. Viel zu wenig bedacht wird nämlich eine andere Herausforderung, die das Canceln darstellt: die epistemische. Canceln richtet sich gegen die Basis der fairen kritischen Auseinandersetzung, der Erkenntnissuche. Oft ist es schwierig, eine Grenze zu ziehen. Aber man kann fallweise Symptome erkennen, wo Kritik in Canceln kippt. 

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Kritik zielt auf Meinungen, Canceln zielt auf die Meinenden. Es beleidigt, beschämt, schüchtert sie ein, macht sie lächerlich. Man geht gar nicht ein auf das zu Kritisierende. In der feministischen Fachzeitschrift «Hypatia» plädierte zum Beispiel die Philosophin Rebecca Tuvel 2017 für «Transrassismus». Der Entscheid von Individuen, das Geschlecht zu wählen, sollte auf die ethnische Zugehörigkeit ausgeweitet werden. Ein zumindest diskussionswertes Postulat. Möchte man meinen. Einer Soziologiestudentin gefiel der Artikel gar nicht, und sie schrieb in einem Post pikiert, sie weigere sich, zu erlauben, dass solcher «Müll Fuss fasse». Der Post ging viral. Hunderte von Akademikern forderten in einen offenen Brief an die Zeitschrift, den Artikel zurückzunehmen. Ein Kommentar verstieg sich zur unvermeidlichen Frage: Wie können wir erreichen, dass diese Person gefeuert wird? Der Shitstorm figuriert seither als Beispiel «moderner Hexenjagd». 

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Es gibt viele solcher Fälle. Auch Prominenz gerät ins Visier. 2020 sandten fast 600 Mitglieder einer nicht öffentlich bekannten «linguistischen Gemeinschaft» einen Brief an die «Linguistic Society of America», in dem sie forderten, den renommierten Kognitionswissenschafter Steven Pinker von «ihrer Liste hervorragender akademischer Kollegen» zu streichen. Das «Sündenregister» Pinkers listet zum Beispiel auf, dass er in einem seiner Bücher einen schwarzen Soziologen zitiert, der über die Abnahme öffentlichen Rassismus’ schrieb.   

Hier zeigt sich ein weiterer Unterschied: Kritik an der Idee von Frau Tuvel würde bedeuten, dass man sie im Kontext der «Trans-Diskussion» behandelt, was man von dieser auch halten mag. Canceln reisst sie aus dem Kontext, um sie zu missdeuten und zu verzerren. Das Manöver ist auch bekannt als Strohmann-Bashing. Hat man keine Argumente oder kommt nicht an gegen einen Opponenten, baut man stattdessen einen Strohmann auf und greift diesen an; schreibt ihm etwa Äusserungen zu, die er nicht getan hat. Tatsächlich schützt das Personenrecht am eigenen (geschriebenen) Wort solche Unterstellungen. Aber in der freien Wildbahn der sozialen Netzwerke dürfte es schwierig sein, diesem Recht zur Geltung zu verhelfen. Nicht zuletzt verschafft einem das Strohmann-Bashing Ersatzbefriedigung. Und der Lustgewinn wächst proportional zur Anzahl mitbeteiligter Haudraufs.

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Das bringt ein hässliches Merkmal des Cancelns zum Vorschein, das natürlich den Charakter der Interaktion im Netz spiegelt: Gruppendenken, im Fall des Cancelns libidinöses «Groupshaming» - eine Form von moralischer Bandenvergewaltigung. Dabei spielt vermutlich nicht einmal die gecancelte Person eine Rolle, sondern das cancelnde Ego. Es geht um Effekthascherei, die Aufmerksamkeit heischende Bestärkung eigener Rechtschaffenheit. Man cancelt für die – realen oder eingebildeten - Follower hinter einem, posiert als moralisierende Rampensau. Wie ein Student über seine Erfahrung in einer Queer-Aktivisten-Gruppe schreibt: «Wir waren alle einer Meinung über ein verdächtig breites Spektrum von Themen. Interne Uneinigkeit kam selten vor. Die isolierte Community diente als Brutkasten von extremen, irrationalen Ansichten».

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Kritik ist ein zivilisierter Ersatz für soziale und physische Gewalt. Diskurs bedeutet: Kampf der Ideen, nicht der Menschen. Man eliminiert bestenfalls Ideen. Kritik korrigiert Irrtümer, Canceln bestraft den «inkriminierten» Irrenden, zum Beispiel dadurch, dass man ihm Plattformen der Meinungsäusserung entzieht, Vorträge absagt oder Publikationsorgane verweigert, ihm mit Kündigung oder Schlimmerem droht. Canceln ist soziale Gewalt. Sie eliminiert schlimmstenfalls Personen. Man kann in Ajatholla Khomeini den Ur-Canceler in der jüngeren Geschichte menschlicher Niedertracht sehen. Seine perfide Fatwa richtete sich nicht einfach gegen Salman Rushdi, sondern gegen alle auf «Rushdis Seite». Und sie zeitigte die gewünschte Wirkung in einem Klima allgegenwärtiger diffuser Bedrohung, in dem man sich zweimal überlegt, was man über die «Satanischen Verse» sagt und schreibt. Dass diese Bedrohung urplötzlich real werden kann, demonstrierte jüngst die fatale Attacke auf Rushdi selbst. 

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Kritik ist ein kooperatives Unternehmen, eine soziale Tätigkeit, die von bestimmten, meist impliziten Maximen geregelt ist. Eine Maxime wie etwa: Setze ebenso viel Vertrauen in die andere Vernunft wie in die eigene. Oder: Sag nicht etwas, wofür du keine hinreichenden faktischen Belege hast. Solche Maximen bilden eine Verfassung der fairen Kritik. Wir alle brechen diese Verfassung immer wieder. Aber wir halten dennoch zentrale Werte hoch, die sie hütet: Wahrheit, Objektivität, Faktentreue, Schlüssigkeit, Informationsoffenheit. Es braucht keine Türhüter für einen solchen Diskurs, es braucht möglichst viele intelligente Diskursteilnehmerinnen und -teilnehmer. Und es gibt sie. Sie sind in der Mehrheit.

Canceln verhöhnt diese Verfassung. Es erweist sich dadurch als die schwerste intellektuelle Verachtung des Anderen. Man könnte sie als Prinzip der fiesen Interpretation bezeichnen: Im Zweifel gegen den Angeklagten – du stehst unter dem Verdacht einer «schuldigen» Haltung, bis deine Unschuld bewiesen ist. Und Canceln versucht gerade das zu verunmöglichen. Dem Anderen wird unterstellt: Eigentlich denkst du nicht, sondern zeigst nur Symptome täuschenden Vorsatzes, feindlicher Haltung, übler Absichten oder Irrationalität. 

Diese Voreingenommenheit infiziert heute den viral um sich greifenden Verdächtigungs-, Beschuldigungs- und Bedrohungsdiskurs des Cancelns. Kritik dagegen beruft sich auf ein anderes Prinzip. Der amerikanische Philosoph Donald Davidson nannte es das Prinzip des Wohlwollens («charity»), das den Debattengegner im besten Licht erscheinen lässt: «Die Worte und Gedanken Anderer ergeben den meisten Sinn, wenn wir sie so interpretieren, dass wir ihnen am ehesten zustimmen können». Auch wenn es uns oft schwer fällt, uns an dieses Prinzip zu halten, so haben wir es bitter nötig, fürwahr. 






Donnerstag, 10. November 2022

 






Genug geschwärmt

Über Schwarmintelligenz und Fragen, die sie angeblich beantwortet



Dem Menschen in der Masse traut man vieles zu, für das man ihn als Individuum nicht fähig hält. Vor allem Ungutes. Friedrich Nietzsche erkannte mit seinem typischem Scharfblick: «Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes – aber bei Gruppen die Regel». Gustave Le Bons Klassiker «Psychologie der Massen» (1895) nahm sich dieses «Irrsinns» zum ersten Mal analytisch an. «Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern die Mittelmässigkeit in sich auf», schreibt Le Bon, und: «Die Massen können nie Handlungen ausführen, die eine besondere Intelligenz beanspruchen»; sie sind «dem allein stehenden Menschen intellektuell stets untergeordnet».


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Das kann man bezweifeln. In neuerer Zeit entdecken Komplexitäts- und Netzwerkforscher – vor allem auch dank elaborierter Computermodelle und ihren Simulationen – durchaus Aspekte des Kollektivverhaltens, die nicht nur nicht dumm sind, sondern das intellektuelle Vermögen des allein stehenden Menschen übersteigen. Und weil der Begriff der Masse ziemlich vorbelastet ist, spricht man nun vom Schwarm und seiner «Intelligenz». Allerdings stellt sich ein Problem. Nach herkömmlichem Verständnis attestieren wir Intelligenz Individuen; was aber ist die Intelligenz eines überindividuellen Schwarms?


Produkte der Schwarmintelligenz gibt es seit langem. Eines der ältesten ist die Bibel. Ein neueres - der Duden – definiert Schwarmintelligenz so: die Fähigkeit eines Kollektivs zu sinnvoll erscheinendem Verhalten. Und der Duden hat recht, wenn er das «erscheinen» betont. Gern unterläuft einem nämlich ein Kategorienfehler, also die falsche Verwendung eines Begriffs. Typisches Beispiel: Jemand sucht im Bundeshaus nach der Demokratie, als ob es sich um ein besonderes Zimmer handeln würde. Analog schreibt man dem Kollektiv eine Intelligenz zu, als handle es sich um einen nebulösen individuellen Akteur namens «Schwarm». 


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Nun haben wir es hier nicht bloss mit einer begrifflichen Frage zu tun. Tatsächlich beobachtet man bei Kollektiven immer wieder Verhaltensmuster, die sich spontan einstellen –  «emergieren» - und nicht auf das Einzelverhalten zurückführbar sind: kollektive Entscheidungsprozesse bei Insekten, Fischen, Vögeln. Das ist ein faszinierendes Gebiet, und es verlockt, die Beobachtungen auf den Menschen auszuweiten. 


Hier wenden aber nicht wenige ein, der Mensch sei doch mehr als ein instinktgeleitetes Tier und er treffe seine Entscheide aus rationalen Erwägungen heraus. Der Einwand verfehlt den Punkt. Der Mensch kann ein vernunftgeleitetes Individuum sein, und trotzdem entgleitet ihm diese Leitung unter bestimmten Bedingungen. Schwarmvorgänge können wir nicht rational steuern. Das Individuum «verflüssigt» sich in der Menge und ist quasi der Irrationalität der sozialen Physik ausgeliefert. Bekannt sind vor allem Kalamitäten und Katastrophen wie die Loveparade 1989 in Duisburg oder die Massenpanik im Pilgerstrom in Mekka 2006. In beiden Fällen handelte es sich um sogenannte «Crowd Turbulence» - Wirbelbildung in der Menge. Der Einzelne kommt zwar im Gedränge nicht voran, und dennoch bewegt sich die Menge mit teils hoher Geschwindigkeit. Bei genügender Dichte können extreme Drucke auftreten, so dass Menschen ersticken, zerquetscht oder sogar aus der Masse herauskatapultiert werden. 


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Zur Frage stehen aber nicht physische, sondern intellektuelle Schwarmphänomene. Kann das Denken im Kollektiv zu Effekten führen, die die intellektuelle Kapazität des Einzelnen übersteigen? Auch hier ist die Antwort: Scheint so. Ich erwähne zwei Beispiele. In den 1990er Jahren sprach man in Informatikerkreisen vom sogenannten Linus-Gesetz, benannt nach Linus Torvalds, dem Pionier der Open-Source-Bewegung: Genügend viele Augenpaare machen jedes Problem trivial, das heisst lösbar. Spezifischer: Jeder Programmierfehler lässt sich durch eine hinreichende Anzahl Tester und Analytiker beheben. Eigentlich eine Trivialität, möchte man vermuten. Das Gesetz ist bisher nicht befriedigend bestätigt worden. Es handelt sich wohl um kaum mehr als um eine spekulative Verallgemeinerung anekdotischer Erfahrung. 


Beispiel zwei. Eine Studie aus dem Jahr 2016 analysierte 20’000 Diagnosen von 140 Brust- und Hautkrebsspezialistinnen und -spezialisten.  Und zwar bewertete sie die Diagnosen anhand zwei-er quantitativer Kriterien, der Sensitivität und der Spezifität. Die Sensitivität antwortet auf die Frage: Wie häufig trifft die Diagnose «Krebs» im Krankheitsfall zu? Die Spezifität antwortet auf die Frage: Wie häufig trifft die Diagnose «Kein Krebs» im Nichtkrankheitsfall zu? Hohe Sensitivität und Spezifität kennzeichnen also hohe diagnostische Genauigkeit. Die Studie fasste die Ärztinnen und Ärzte zu kleinen «Pools»  zusammen. Ihr Resumee lautet: «Wir stellen fest, dass Ähnlichkeit in der diagnostischen Genauigkeit eine Schlüsselbedingung für kollektive Intelligenz ist. Die Verbindung der unabhängigen ärztlichen Urteile übertrifft die beste Fachkraft in einer Gruppe, wenn die diagnostischen Genauigkeiten der Einzelnen nahe beieinanderliegen, nicht aber, wenn sie zu sehr differieren». 

Auch hier gilt die Trivialitätsvermutung. Die Kollaboration von Fachleuten mit ähnlich hoher Kompetenz kann zu besserer Urteilsfindung führen. Ein statistischer Befund. Mehr nicht. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Die Komplexitätsforschung ersinnt heute immer raffiniertere Computermodelle zur Simulation von Schwarmphänomenen. Man schraubt an den Modellbedingungen und – Simsalabim! - beobachtet einen Schwarmeffekt. So weit, so gut. Aber dass ein solcher Effekt auftritt, erklärt nicht, warum er auftritt. Wer dies tut, dreht sich im Kreis. 

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Kurz, Schwarmintelligenz ist das Problem, für dessen Erklärung sie sich hält: Was ist überhaupt Intelligenz, und wie entsteht sie? Im Grunde beruhen auch unsere geistigen Fähigkeiten auf dem Verhalten eines Riesenschwarms von Neuronen und Neuronenclustern, und wie daraus so etwas wie intelligentes Verhalten entsteht, gilt in einschlägigen Kreisen als das «harte Problem». Es stellt sich ebenfalls in der KI-Forschung, heute bei lernenden Maschinen mit ihren künstlichen Neuronen. Sie sind ja zu Erstaunlichem fähig, vor allem bei spezifischen Aufgaben. Ihre Leistung über-trifft oft die menschliche. Das heisst, aus der immensen Zahl von Daten und Rechenschritten in einem KI-System resultiert ein Kollektivverhalten, das uns Menschen so vorkommt, als walte darin eine Superintelligenz. 


Man könnte solche anthropomorphen Beschreibungen einfach als Verständnishilfen für Maschinenprozesse betrachten. In der Redewendung «Der Schwarm entscheidet» ist das Wort «entscheidet» ein solches Kürzel für komplexe Abläufe. Die Verlockung ist dabei gross - selbst unter Softwaredesignern - , dass man sich auf diese Weise ein Verständnis vortäuscht. Meldungen über «Durchbrüche» in der KI-Forschung sind schon fast ein Ritual. Ebenso wie die schwärmerische Litanei, endlich eine Maschine mit Bewusstsein entwickelt zu haben. Ohnehin gehört es im digitalen Kapitalismus zum festen Bestandteil der Werbung von Grossunternehmen, uns mit dem Nimbus ihrer «Wunderwerke» einzuseifen und die Technikfrömmigkeit zu nähren.


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A propos Wunder. Mir schwebt in diesem Zusammenhang immer ein Bild des amerikanischen Cartoonisten Stanley Harris vor Augen. Zwei Wissenschafter stehen vor einer Wandtafel. Links ein Haufen Formeln, rechts ein Haufen Formeln. Die Forscher diskutieren offensichtlich die Frage, wie man von links nach rechts gerät. Als Missing Link steht dazwischen der Satz: «Dann geschieht ein Wunder..». Der zweite Forscher sagt zum ersten: «Ich glaube, Sie sollten in diesem Schritt etwas expliziter sein». Das gilt auch für Schwarmintelligenz. Zwischen Individuum und Kollektiv geschieht ein «Wunder», das noch lange nicht explizit gemacht ist. Eric Horvitz, Direktor des Microsoft Research Lab, schrieb 2017 über KI-Forschung: «Zurzeit ist das, was wir tun, nicht Wissenschaft, sondern Alchimie». Also an die Arbeit, ihr KI-Alchimisten, und genug geschwärmt!



Donnerstag, 3. November 2022


 

NZZ. 29.10.22

Ein künstliches moralisches Orakel


Ein Team von Computerwissenschafterinnen und -wissenschaftern von der Washington University erregte 2021 einiges Aufsehen mit einem ethischen Algorithmus namens «Delphi».  Es handelt sich um ein künstlich intelligentes (KI) System, basierend auf der Architektur des Deep Learning. Es «beurteilt» menschliche Verhaltensweisen. Zum Beispiel Essverhalten. Gibt man «Schweinefleisch essen» ein, kommentiert das System «Das ist in Ordnung»; aber auf «Würmer essen» antwortet es «Das ist widerlich». Genau so quittiert Delphi ethisch relevantes Verhalten. «Wokeness ablehnen» ist «schlecht», aber «Ein ertrinkendes Kind retten, wenn man nicht schwimmen kann» ist «gut». Das KI-System befindet sich in der Experimentierphase. Einstweilen kursiert es als App «Ask Delphi». 


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Die Designerinnen und Designer erheben keineswegs den Anspruch, Delphi sei moralfähig. Dennoch zielt ihre Ambition weit über die Entwicklung digitalen Schnickschnacks hinaus. Ein Teammitglied, Liwei Jang, spricht denn bereits von einem «Commonsense Moral Model», mit einer «robusten Performanz sprachbasierten ethischen Schlussfolgerns in komplizierten Alltagssituationen». Pointiert formuliert: Man bringt den Maschinen moralischen Benimm bei. Wie Liwei Jiang schreibt: «Das Schliessen der Lücke zwischen moralischem Urteilen von Menschen und Maschinen ist Voraussetzung für eine vertrauenswürdige Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. Moralisches Urteilen ist nie simpel, da der Konflikt verschiedener ethischer und kultureller Werte im Spiel sein kann. Aus diesem Grund (..) bedürfen wir eines hochqualitativen Korpus’ ethischer Urteile von Menschen in diversen Szenarios.. (Wir) möchten zu wichtiger (..) Forschung an dieser neuen Front (..) anregen, um verlässliche, sozial bewusste und ethisch trainierte («ethically informed») künstlich intelligente Praktiken zu erleichtern».


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Was bedeutet das alles? Vorab einmal, dass ethisch fragwürdige Praktiken das Netz infizieren: Diffamierung, Hassrede , Verbreitung von Fake News und anderes mehr. Es erscheint, so gesehen, durchaus begrüssenswert, den Algorithmen, die solche Praktiken steuern, Algorithmen entgegenzusetzen, die diese Praktiken zu verhindern suchen. Aber das Risiko dabei liegt in einer Art von Circulus vitiosus: Die Computertechnik fördert ethisch dubioses Verhalten, das man wiederum durch mehr oder bessere Computertechnik in den Griff zu bekommen sucht. Das Problem liegt freilich tiefer. Es betrifft die Frage, was es heisst, Maschinen «ethisch» zu  trainieren.


Werfen wir einen Blick auf den «Commonsense». Das «Urteilsvermögen» von Delphi basiert auf einer immensen Datenmenge namens «Commonsense Norm Bank». Sie enthält fast zwei Millionen Statements amerikanischer Crowdworker: online Arbeitender ohne feste Anstellung. Als neuronales Netzwerk durchforstet Delphi die Datenmasse und erkennt nach gängigen statistischen Verfahren verallgemeinerbare Muster in ethischen Urteilen. Der «Commonsense», den das KI-System lernt, ist also Abklatsch des moralischen Mainstreams. Und da bekanntlich im Mainstream viele Vorurteile schwimmen, übernimmt die Maschine die Vorurteile, ohne es nota bene zu «wissen». Sie übt eine Art von Populismus aus. Gibt man etwa «Eine Person als Gauner bezeichnen» ein, antwortet Delphi «Das ist grob (rude)»; gibt man «Donald Trump als Gauner bezeichnen» ein, lautet die Antwort «fine». Setzt man statt «Donald Trump» «Boris Johnson» ein, ist die Antwort «rude». Die Todesstrafe zu befürworten ist «Ermessenssache», chinesische Politik «kompliziert». Man kann Delphi ein Feedback geben, und dadurch korrigiert und aktualisiert es womöglich seine Antworten. Im Oktober 2021 antwortete Delphi auf die Eingabe «Einen moralischen Bot programmieren» mit «Das ist schlecht»; im Februar 2022 mit «Das ist in Ordnung» – aus uneinsehbaren Gründen allerdings. Ein Orakel eben. 


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Das notorische Problem von lernenden KI-Systemen ist die Datenqualität. Es gilt das «GIGO-Prinzip»: Garbage In Garbage Out. Füttert man das KI-System mit moralischem Müll, spuckt es moralischen Müll aus. Das sehen die Designerinnen und Designer von Delphi durchaus. Man muss aber genau auf ihren Approach zur Verbesserung des Problems achten. Er sieht die Lösung typischerweise in der Verbessrung der Daten und in der Schaffung eines immer grösseren Datenpools. Aber löst man auf diese Weise den «Konflikt verschiedener ethischer und kultureller Werte»?  Dieser Konflkt besteht ja im Wesentlichen gerade darin, dass es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich ist, einen allgemein verbindlichen Code für moralisches Handeln zu finden. Man kann KI-Systeme mit noch so viel Datenmaterial aus noch so unterschiedlichen Kulturkreisen füttern, destillieren sie daraus einen universellen ethischen Kanon? Und wenn ja, ist er dann verbindlich?


Delphi operiert deskriptiv: es ist die Bestandesaufnahme «bottom up» aus einer Menge von Werturteilen und Szenarien. Kognitionswissenschafter wie etwa Jim Davies von der Carlton University Ottawa  -, möchten eine solche Ethik «top down» - normativ - in KI-Systemen implementieren. Aber die Frage ist: Welchen ethischen Code denn nun? Und wer stiftet ihn? Ein «kapital-kräftiges Gremium ethisch gesinnter Programmierer», wie Davies suggeriert? Und welche Gesinnung haben diese denn? Jene der Silicon-Valley-Oligarchie?


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Natürlich begegnen die KI-Forscher solchen Einwänden mit dem üblichen Kinderschuh-Argument. Es handle sich um Prototypen von Maschinen, deren Entwicklung unausgereift sei. Das lenkt ab von einem  viel gewichtigeren Problem. Denn schon die Rede von der «Lücke» zwischen maschineller und menschlicher Urteilsfähigkeit führt in die Irre. Sie siedelt Mensch und Maschine auf einem Spektrum an, das stetige Übergänge suggeriert. Und dadurch legen wir uns a priori auf eine spezifische Betrachtungsweise fest. 

Damit meine ich Folgendes: Wir gehen beim moralischen Urteil des Menschen von einem Subjekt aus, das  – mit Kant gesprochen – aus Einsicht und nicht nach Regeln handelt. Was aber bedeutet maschinelle «Einsicht»? Ist die Maschine ein «Subjekt»? «Urteilt» Delphi überhaupt? Unterschwellig wirkt bei uns Menschen immer der Hang zur Subjektivierung von Artefakten. Man achte etwa auf Aussagen wie «Delphi demonstriert starke moralische Denkfähigkeiten» oder «Delphi urteilt beachtenswert robust in unvorhergesehenen, absichtlich verfänglichen Situationen». Das sind nicht Forschungsresultate, das ist Wunschdenken. 

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Meiner Meinung nach bedarf dieser datenorientierte Ansatz dringend eines anthropologischen Korrektivs, einer umgekehrten Fragestellung: Warum haben Maschinen keine «Einsicht»? Der amerikanische Philosoph John Haugeland, der sich mit diesem Problem in nötiger anthropologischer Tiefe auseinandersetzte, scheint mir die bündigste Antwort gefunden zu haben: «They don’t give a damn» - «die Welt ist ihnen scheissegal».  

Könnte es sein, dass auch die Designer moralischer Maschinen insgeheim von diesem Motto inspiriert sind? Man vernimmt aus KI-Kreisen oft das Argument: Menschen tun ja auch «nur», was Maschinen tun; Menschen haben «im Grunde» genommen auch keine Einsichten, diese Ein-sichten sind vielmehr Outputs eines komplexen organischen neuronalen Netzwerks. Das mag ein diskutabler Forschungsansatz sein, aber wenn er den Blick festlegt, leistet er einer datengesteuerten Eindimensionalisierung Vorschub. Zweifellos leben wir zunehmend in einer hybriden Homo-Robo-Gesellschaft. Und wie in jeder Gesellschaft ist das ethische Verhalten eine komplexe indi-viduelle, soziale und kulturelle Leistung, die man nicht anhand eines wie auch immer gearteten Fragebogens testet – so wie man dies etwa bei Einbürgerungskandidaten tut. Bis jetzt haben wir die Computer noch nicht «eingebürgert». Zeit, dass wir – und nicht bloss die Programmierer - uns klar machen, was das bedeutet. 




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