Mittwoch, 24. Juni 2020







NZZ, 20.6. 2020

Die Ausnahme ist die Regel
Vom Risiko zur Ungewissheit – eine Revolution


Epidemien sind episodisch. Sie haben einen Anfang und ein Ende. Das verleitet zum Fehlschluss, dass nach dem Ende „alles vorbei ist“. Man könnte von der Illusion der fortgesetzten Normalität sprechen. Ich möchte diese Sichtweise sozusagen umstülpen: Der Normalfall ist ein kurzfristiger „glücklicher“ Zeitabschnitt in einer fortlaufenden Abfolge von nicht-normalen Ereignissen. Auf eine Formel gebracht: Die Ausnahme ist die Regel.  

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Gemünzt auf hochtechnisierte Gesellschaften heisst das:  Das Epidemische - das „über das ganze Volk Verbreitete“ – ist nicht episodisch, sondern chronisch. Und dies aufgrund der komplexen Verkehrs-, Produktions-, Verteilungs-, Energieversorgungs-, Finanz-, Kommunikationsnetze. Je vernetzter ein System, desto anfälliger und leitfähiger wird es für die Ausbreitung lokaler Störungen. Es herrscht nicht die lineare Kausalität, sondern die Netzkaskade: die Störung verstärkt sich. Ein Virus bricht aus seiner ökologischen Nische aus und verursacht eine Pandemie; ein Baum fällt bei einem Gewitter auf eine elektrische Leitung und legt die Kommunikation eines Landesteils lahm; ein Bot infiziert das Internet der Dinge und die Dinge spielen verrückt. Hohe Vernetztheit bedeutet auch hohe Verletzlichkeit. Zu dieser Verletztlichkeit gehört unsere Ungewissheit angesichts von Situationen, wie wir sie gerade in der Pandemie erleben. Hier haben wir es mit zwei Fragedimensionen zu tun, einer biologisch-epidemiologischen und einer soziologisch-politischen: Was wissen wir über das Virus und seine Verbreitungswege? Und: Was wissen wir über die gesellschaftlichen Kollateralfolgen der Pandemie?  

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Mit Ungewissheit beschäftigt sich die Wahrscheinlichkeitstheorie, ein formidables Denkwerkzeug. Sein Axiom lautet: Unser Wissen ist „riskant“, im Sinne von unvollständig und ungewiss. In zahlreichen Disziplinen – zum Beispiel in Betriebsökonomie, Kerntechnologie, Chemie, Pharmakologie – hat sich das Risikokalkül eingebürgert. Kalkül mit dem Ungewissen – das klingt nach einem hölzernen Eisen. Aber wie der Mathematiker Ivar Ekeland bemerkt, „müssen wir uns eingestehen, dass ein einziges vernachlässigtes oder unbemerktes Risiko die ganze Verlässlichkeit einer Berechnung ausser Kraft setzen kann, die auf bekannten Risiken beruht.“ Das Risiko existiert also immer, dass Risikoabschätzungen falsch sind.
Um nochmals auf die Illusion der fortgesetzten Normalität zurückzukommen. Sie beruht auf dem sogenannten „Truthahn-Fehlschluss“. Ein Truthahn wird gefüttert. Er leitet daraus induktiv die Regel ab: Wenn ich an diesem Tag Futter kriege, dann auch am nächsten Tag. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung demonstriert, dass die Chance, nicht geschlachtet zu werden, mit jedem Tag steigt und schliesslich fast Gewissheit annimmt. Nur rechnet der Truthahn nicht mit dem Thanksgiving Day. Beinahe hundertprozentig gewiss erwartet er am Vortag Futter und gerät am nächsten Tag mit Gewissheit unter das Messer. Anthony Fauci, einer der bestausgewiesenen Virologen, sagte am 26. Januar, das Coronavius stelle „ ein sehr, sehr geringes Risiko für die USA“ dar. Er war ein Truthahn. Lernte allerdings schnell.

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Das Risko ist Ungewissheit unter einem bekannten Gesichtspunkt der Informiertheit. Man kennt das Spektrum der erwartbaren Ereignisse, macht Annahmen über sie und versieht sie mit entsprechenden Wahrscheinlichkeiten. Genau das ist die Aufgabe von Modellen. Sie stecken den Horizont des Möglichen ab. Ungewissheit herrscht dann, wenn dieser Horizont diffus ist, die Einschätzung einer Situation nach mehreren – möglicherweise unbekannten - Gesichtspunkten verlangt, wenn also das Spektrum der möglichen Ereignisse (auch von extremen) nicht völlig bekannt ist. Der Truthahn kennt nur die Möglichkeit des Gefüttertwerdens, was ihn in der fatalen eindimensionalen Gewissheit eines risikolosen Lebens wiegt.

Der Ungewissheit lässt sich keine Kennzahl – eine Wahrscheinlichkeit – zuordnen, aber deswegen ist sie nicht weniger ernst zu nehmen. Der Wahrscheinlichkeitskalkül ist heute unverzichtbar, auch deshalb, weil er auf massive Datenevidenz abstellen kann. Es handelt sich hier um „bekannte Unbekannte“, also um herkömmliche Risikofaktoren. Man weiss, wonach man fragt: etwa nach der Prävalenz einer Krankheit in einer Bevölkerungsgruppe, der Letalitätsrate, den dominanten Übertragungswegen und so weiter. Aber Datenevidenz genügt nicht. Wir bekommen es zusehends mit der anderen, unbequemeren Sorte von Ungewissheit zu tun, mit dem „unbekannten Unbekannten“ ausserhalb des Spektrums des Erwartbaren, also mit dem Thanksgiving Day für den Truthahn.  

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Risikoanalysen reduzieren Ungewissheit auf das Erwartbare. Dabei lehrt uns die akute Lage eher das Gegenteil: die Beinahe-Gewissheit des Unerwarteten. Was für den Truthahn der Thanksgiving Day, ist für uns das neue Coronavirus. In in einer realen Problemsituation lauern stets Thankgiving Days - wir vermehren die günstigen Bedingungen ihres Auftretens durch zunehmend fragilere Interaktionen.

Nun vernehmen wir allerdings den lauter werdenden Ruf nach wissenschaftsbasierten Entscheiden, nach dem verlässlichen, untrüglichen Fachurteil, und zwar idealerweise als eindeutiger Handlungsanweisung.  

Ein gefährlicher Irrtum, aus zwei Gründen. Erstens lassen sich Wissenschafter berufsmässig von bestimmten Paradigmen leiten, und sie neigen oft dazu, die Probleme exklusiv nach ihrem Paradigma zu modellieren – wodurch dieses sich zu einem kognitiven blinden Fleck entwickeln kann. Und wenn das individuelle Expertenurteil kaum grossen Spielraum für Zweifel und Ambiguität offen lassen mag, so erweist sich dieser Spielraum im Expertenkollektiv als erstaunlich weit. Ein wissenschaftsbasierter eindeutiger Entscheid ist ein hölzernes Eisen.

Das wirft zweitens ein akutes Licht auf die Politik. Wissenschafter sehen sich oft gerade in Krisensituationen dazu verführt oder gedrängt, trotz fehlenden Konsenses ein eindeutiges Urteil abzugeben, was darauf hinausläuft, „gegen aussen“ einen Pseudokonsens zu mimen. Nun ist aber eine politische Krise keine rein wissenschaftliche Problemsituation. Wenn ein Politiker mit dem Anspruch auftritt, seine Entscheide allein „wissenschaftsbasiert“ zu treffen, dann verhehlt er, dass in seine Entscheide immer auch noch „etwas anderes“ geflossen ist: ideologische Voreingenommenheit, Druck von Interessegruppen, persönliches Verständnis bzw. Unverständnis der Lage – kurz: „etwas anderes“ entpuppt sich als exakt das, wofür sich der Politiker zu verantworten hat.

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Dies alles spricht weder gegen Fachurteile und Risikoabschätzungen, noch gegen die stets raffiniertere Diagnose-  und Prognosetechnologie. Wir müssen sie nur in einer neuen Problemkonstellation sehen, das heisst, die meisten drängenden Probleme als irreduzible Ungewissheiten anerkennen. Dazu muss man das Unkalkulierbare und Mehrdeutige von Situationen wahrnehmen können, alternative Szenarien gegen „Sachzwänge“ aufwerten, ein Was-wäre-wenn-Denken kultivieren. Nicht bloss die disziplinäre Exzellenz von Spezialisten ist gefragt, sondern die transdisziplinäre Virulenz von Generalisten. Wir brauchen „Igel“, die über eines sehr viel wissen, als auch „Füchse“, die über sehr viel einiges wissen. Wir brauchen Navigation auf Sichtweite und Visionen über das Sichtbare hinaus. Das SARS-Virus ist den Wissenschaftern schon seit einiger Zeit bekannt. Sie können sein Genom lesen. Nur eines fehlt: der Gedanke, dass darin Ungelesenes schlummert. Extrem Unwahrscheinliches geschieht ständig. Man muss es sich nur vorstellen können. Wäre der Ausdruck nicht derart abgegriffen, würde ich so etwas wie Ungewissheits-Kompetenz vor dem unbekannten Unbekannten einfordern. Und dazu gehören Imagination und Perspektivenflexibilität. Wer hätte gedacht, dass ein unbekanntes Virus so mir nichts dir nichts „aus der Wildnis“ auf den Menschen überspringt. Nun schlägt die postpostfaktische Realität in ihrer urwuchtigen Unerwartetheit zurück.

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