NZZ, 20.6. 2020
Die
Ausnahme ist die Regel
Vom Risiko zur Ungewissheit
– eine Revolution
Epidemien sind episodisch. Sie haben einen Anfang und ein
Ende. Das verleitet zum Fehlschluss, dass nach dem Ende „alles vorbei ist“. Man
könnte von der Illusion der fortgesetzten Normalität sprechen. Ich möchte diese
Sichtweise sozusagen umstülpen: Der Normalfall ist ein kurzfristiger „glücklicher“
Zeitabschnitt in einer fortlaufenden Abfolge von nicht-normalen Ereignissen.
Auf eine Formel gebracht: Die Ausnahme ist
die Regel.
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Gemünzt auf hochtechnisierte Gesellschaften heisst das: Das Epidemische - das „über das ganze Volk
Verbreitete“ – ist nicht episodisch, sondern chronisch. Und dies aufgrund der komplexen
Verkehrs-, Produktions-, Verteilungs-, Energieversorgungs-, Finanz-,
Kommunikationsnetze. Je vernetzter ein System, desto anfälliger und leitfähiger
wird es für die Ausbreitung lokaler Störungen. Es herrscht nicht die lineare
Kausalität, sondern die Netzkaskade: die Störung verstärkt sich. Ein Virus
bricht aus seiner ökologischen Nische aus und verursacht eine Pandemie; ein
Baum fällt bei einem Gewitter auf eine elektrische Leitung und legt die
Kommunikation eines Landesteils lahm; ein Bot infiziert das Internet der Dinge
und die Dinge spielen verrückt. Hohe Vernetztheit bedeutet auch hohe Verletzlichkeit.
Zu dieser Verletztlichkeit gehört unsere Ungewissheit angesichts von
Situationen, wie wir sie gerade in der Pandemie erleben. Hier haben wir es mit zwei
Fragedimensionen zu tun, einer biologisch-epidemiologischen und einer soziologisch-politischen:
Was wissen wir über das Virus und seine Verbreitungswege? Und: Was wissen wir über
die gesellschaftlichen Kollateralfolgen der Pandemie?
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Mit Ungewissheit beschäftigt sich die Wahrscheinlichkeitstheorie,
ein formidables Denkwerkzeug. Sein Axiom lautet: Unser Wissen ist „riskant“, im
Sinne von unvollständig und ungewiss. In zahlreichen Disziplinen – zum Beispiel
in Betriebsökonomie, Kerntechnologie, Chemie, Pharmakologie – hat sich das Risikokalkül
eingebürgert. Kalkül mit dem Ungewissen – das klingt nach einem hölzernen
Eisen. Aber wie der Mathematiker Ivar Ekeland bemerkt, „müssen wir uns
eingestehen, dass ein einziges vernachlässigtes oder unbemerktes Risiko die
ganze Verlässlichkeit einer Berechnung ausser Kraft setzen kann, die auf
bekannten Risiken beruht.“ Das Risiko existiert also immer, dass Risikoabschätzungen
falsch sind.
Um nochmals auf die Illusion der fortgesetzten Normalität
zurückzukommen. Sie beruht auf dem sogenannten „Truthahn-Fehlschluss“. Ein
Truthahn wird gefüttert. Er leitet daraus induktiv die Regel ab: Wenn ich an
diesem Tag Futter kriege, dann auch am nächsten Tag. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung
demonstriert, dass die Chance, nicht geschlachtet zu werden, mit jedem Tag
steigt und schliesslich fast Gewissheit annimmt. Nur rechnet der Truthahn nicht
mit dem Thanksgiving Day. Beinahe hundertprozentig gewiss erwartet er am Vortag
Futter und gerät am nächsten Tag mit Gewissheit unter das Messer. Anthony
Fauci, einer der bestausgewiesenen Virologen, sagte am 26. Januar, das
Coronavius stelle „ ein sehr, sehr geringes Risiko für die USA“ dar. Er war ein
Truthahn. Lernte allerdings schnell.
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Das Risko ist Ungewissheit unter einem bekannten
Gesichtspunkt der Informiertheit. Man kennt das Spektrum der erwartbaren Ereignisse,
macht Annahmen über sie und versieht sie mit entsprechenden
Wahrscheinlichkeiten. Genau das ist die Aufgabe von Modellen. Sie stecken den
Horizont des Möglichen ab. Ungewissheit herrscht dann, wenn dieser Horizont
diffus ist, die Einschätzung einer Situation nach mehreren – möglicherweise
unbekannten - Gesichtspunkten verlangt, wenn also das Spektrum der möglichen
Ereignisse (auch von extremen) nicht völlig bekannt ist. Der Truthahn kennt nur
die Möglichkeit des Gefüttertwerdens, was ihn in der fatalen eindimensionalen Gewissheit
eines risikolosen Lebens wiegt.
Der Ungewissheit lässt sich keine Kennzahl – eine Wahrscheinlichkeit
– zuordnen, aber deswegen ist sie nicht weniger ernst zu nehmen. Der Wahrscheinlichkeitskalkül
ist heute unverzichtbar, auch deshalb, weil er auf massive Datenevidenz
abstellen kann. Es handelt sich hier um „bekannte Unbekannte“, also um
herkömmliche Risikofaktoren. Man weiss, wonach man fragt: etwa nach der
Prävalenz einer Krankheit in einer Bevölkerungsgruppe, der Letalitätsrate, den
dominanten Übertragungswegen und so weiter. Aber Datenevidenz genügt nicht. Wir
bekommen es zusehends mit der anderen, unbequemeren Sorte von Ungewissheit zu
tun, mit dem „unbekannten Unbekannten“ ausserhalb des Spektrums des Erwartbaren,
also mit dem Thanksgiving Day für den Truthahn.
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Risikoanalysen reduzieren Ungewissheit auf das Erwartbare. Dabei
lehrt uns die akute Lage eher das Gegenteil: die Beinahe-Gewissheit des Unerwarteten.
Was für den Truthahn der Thanksgiving Day, ist für uns das neue Coronavirus. In
in einer realen Problemsituation lauern stets Thankgiving Days - wir vermehren
die günstigen Bedingungen ihres Auftretens durch zunehmend fragilere
Interaktionen.
Nun vernehmen wir allerdings den lauter werdenden Ruf nach
wissenschaftsbasierten Entscheiden, nach dem verlässlichen, untrüglichen Fachurteil,
und zwar idealerweise als eindeutiger Handlungsanweisung.
Ein gefährlicher Irrtum, aus zwei Gründen. Erstens lassen
sich Wissenschafter berufsmässig von bestimmten Paradigmen leiten, und sie
neigen oft dazu, die Probleme exklusiv nach ihrem Paradigma zu modellieren –
wodurch dieses sich zu einem kognitiven blinden Fleck entwickeln kann. Und wenn
das individuelle Expertenurteil kaum grossen Spielraum für Zweifel und Ambiguität
offen lassen mag, so erweist sich dieser Spielraum im Expertenkollektiv als
erstaunlich weit. Ein wissenschaftsbasierter eindeutiger Entscheid ist ein
hölzernes Eisen.
Das wirft zweitens ein akutes Licht auf die Politik.
Wissenschafter sehen sich oft gerade in Krisensituationen dazu verführt oder gedrängt,
trotz fehlenden Konsenses ein eindeutiges Urteil abzugeben, was darauf
hinausläuft, „gegen aussen“ einen Pseudokonsens zu mimen. Nun ist aber eine
politische Krise keine rein wissenschaftliche Problemsituation. Wenn ein
Politiker mit dem Anspruch auftritt, seine Entscheide allein „wissenschaftsbasiert“
zu treffen, dann verhehlt er, dass in seine Entscheide immer auch noch „etwas
anderes“ geflossen ist: ideologische Voreingenommenheit, Druck von
Interessegruppen, persönliches Verständnis bzw. Unverständnis der Lage – kurz: „etwas
anderes“ entpuppt sich als exakt das, wofür sich der Politiker zu verantworten
hat.
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Dies alles spricht weder gegen Fachurteile und Risikoabschätzungen,
noch gegen die stets raffiniertere Diagnose-
und Prognosetechnologie. Wir müssen sie nur in einer neuen Problemkonstellation
sehen, das heisst, die meisten drängenden Probleme als irreduzible
Ungewissheiten anerkennen. Dazu muss man das Unkalkulierbare und Mehrdeutige
von Situationen wahrnehmen können, alternative Szenarien gegen „Sachzwänge“ aufwerten,
ein Was-wäre-wenn-Denken kultivieren. Nicht bloss die disziplinäre Exzellenz
von Spezialisten ist gefragt, sondern die transdisziplinäre Virulenz von
Generalisten. Wir brauchen „Igel“, die über eines sehr viel wissen, als auch
„Füchse“, die über sehr viel einiges wissen. Wir brauchen Navigation auf
Sichtweite und Visionen über das Sichtbare hinaus. Das SARS-Virus ist den
Wissenschaftern schon seit einiger Zeit bekannt. Sie können sein Genom lesen. Nur
eines fehlt: der Gedanke, dass darin Ungelesenes schlummert. Extrem
Unwahrscheinliches geschieht ständig. Man muss es sich nur vorstellen können. Wäre
der Ausdruck nicht derart abgegriffen, würde ich so etwas wie
Ungewissheits-Kompetenz vor dem unbekannten Unbekannten einfordern. Und dazu
gehören Imagination und Perspektivenflexibilität. Wer hätte gedacht, dass ein
unbekanntes Virus so mir nichts dir nichts „aus der Wildnis“ auf den Menschen
überspringt. Nun schlägt die postpostfaktische Realität in ihrer urwuchtigen
Unerwartetheit zurück.
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