Freitag, 18. März 2022

 





NZZ,  13.3.2022

Nie wieder – also immer wieder

Geschichte ist das, woraus wir nicht lernen


Vor einem Vierteljahrhundert klotzte der Politologe Francis Fukuyama mit der These vom «Ende der Geschichte». Damit suggerierte er in neohegelianischer Weise, dass der globale Siegeszug der Demokratie nun einen Schlusspunkt hinter die lange Geschichte von Autokratien setzen würde. Aber der Weltgeist von Fukuyama hat sich epochal geirrt.  Fundamentalistischer Terrorismus, lokale Kriege, Zunahme an Autokratien falsifizierten in der Folge die These auf bitterböse Weise. Die Geschichte kehrt zurück, und zwar gemeiner denn je. 


Und es schlägt die Stunde der konjunktivischen Geschichtsexegeten mit ihren Rückblicken im Was-wäre-wenn-Modus: «Hätten wir doch..», Wären wir doch..», «Müssten wir nicht wissen, dass..» Sind wir geschichtsvergessen? Ist «Nie wieder Krieg» nur die Rückseite von «Immer wieder Krieg»? Gehört Kriege führen zu unserer Natur?


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Damit ist die biologisch-ethologische Perspektive angesprochen. Und hier sticht ein interessantes Paradox des britischen Primatologen Richard Wrangham ins Auge: Das Paradox der Güte. Als individuelle Bürger moderner Gesellschaften mögen wir gewaltloser und zivilisierter miteinander umgehen. Wir haben uns evolutionär selber gezähmt. Der Mensch ist nicht mehr des anderen Menschen Wolf, sondern des anderen Menschen Hund. Wenn wir das Gewaltmonopol an eine übergeordnete Instanz abgeben – die alte Idee von Thomas Hobbes - , dann mag es auf individueller Ebene weniger Hauen und Stechen geben. Aber wir haben - vor allem dank Wissenschaft und Technik - zugleich ein ungeheures Potenzial der Gewaltausübung und des Kriegs auf kollektiver Ebene entwickelt. Individuell netter, kollektiv potenziell gewalttätiger. Auf technisch avancierter Stufe können ganze Gesellschaften zu Tötungsmaschinen mutieren, wenn die zivile Bevölkerung in die «Heimfront» einbezogen wird. 

A propos Wissenschaft und Technik: Der moderne Krieg ist der Vater der Innovation. Die Atomtechnologie stammt aus dem Zweiten Weltkrieg; die Computertechnologie aus den Informationswettrüsten des Kalten Krieges. Die Fortsetzung ist heute der Cyberkrieg mit den Deepfakes. Halten wir uns die unaufhaltsame Automatisierung von Waffen vor Augen. Grosse Digitalunternehmen investieren in Militär- und Sicherheitstechnologie. Man ver-sucht sogar schon, den Waffen mittels künstlicher Intelligenz ethische Codes einzuprogrammieren, damit ihr Kalkül selber «entscheiden» kann, wo und wann sie eingesetzt wer-den. Was, wenn sie sich zur selbstlegitimierenden übergeordneten Instanz entwickeln?

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Die Möglichkeit, Gewalt auszuüben, ist eine Sache; die Legitimität dazu, eine völlig andere. Und damit wechseln wir von der biologischen zur ideologischen Perspektive. Die wohl schlimmsten Kriege sind jene, die Grossmachtallüren ideologisch schminken. Denn sie neigen zu metaphysischen Überhöhungen – im Namen einer nationalen Essenz, eines höheren Willens, der Rettung der Welt vor ihrem Verfall. Verhängnisvoll ist der «unparteiische» geschichtsenthobene Blick, der sich nichtsdestoweniger durch die Geschichte gerechtfertigt sieht. Dass über 90 Prozent der ukrainischen Bevölkerung sich 1991 für die Unabhängigkeit von Russland entschieden, ist nichts gegen «die Geschichte», die «will», dass die Ukraine zu Russland gehört. Wie oft schon hat man das Argument gehört, auf der «richtigen» Seite der Geschichte zu stehen. Das Problem an diesem Argument ist, dass es Geschichte mit persönlicher Geschichtsklitterung verwechselt. Eine fortschreitende Form geistigen Defizits, das sich im bösesten Fall mit der agressiven Aktion zu kurieren sucht. Geschichtsmetaphysik als Vorstufe zur Geistesgestörtheit. 


Natürlich sind  individuelle Verhaltensstörungen immer Faktoren in der Entstehung von Kriegen. Gerade im letzten Jahrzehnt häufen sich die Fälle, die eigentlich in die Psychiatrie gehörten, statt in politische Entscheidungsgremien. Das jüngste Beispiel der Ukraine ist nur das vorläufige Ende der Serie. Aber wir sollten uns nicht zu sehr aufs Individualpsychologische versteifen. Auf dem Tapet steht vielmehr die Frage, wie und was wir aus der Ge-schichte lernen. 


Und hier erinnert man sich spontan des vielzitierten, Mark Twain zugeschriebenen Bon-mots: Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Das ist die Krux der Historiographie. Dass sich die Geschichte nicht wiederholt, kann man so interpretieren: Sie läuft nicht «gesetzesmässig» ab; dass sie sich reimt, bedeutet: Sie zeigt wiedererkennbare Muster durch die Zeiten hindurch. Die entscheidende Frage ist, wie man diese Muster versteht: explikativ oder narrativ, als wissenschaftliche Erklärung oder als Erzählung?


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Fragen wir einen Experten der Erzählung. Tolstoi schreibt in «Krieg und Frieden» (11. Teil): «Die aus einer unzähligen Menge menschlicher Willensäusserungen resultierende Bewegung der Menschheit vollzieht sich in stetiger Folge. Die Gesetze dieser Bewegung zu verstehen ist das Ziel der Geschichtsforschung (...) Nur wenn wir einen unendlich kleinen Einzelteil (das Differential der Geschichte, d. h. die gleichartigen Bestrebungen der Menschen) zum Gegenstand der Betrachtung machen, und uns auf die Integralrechnung verste-hen (die Kunst, die Summe dieser unendlich kleinen Einzelteile zu berechnen), nur dann können wir hoffen, zu einem Verständnis der Gesetze der Geschichte zu gelangen.»


Tolstoi lebte in der Epoche der wissenschaftlichen Klassik. Sie hielt das Ideal des Laplace’schen Dämons hoch, des erhabenen Beobachters, dem sich das Weltgeschehen von einem quasi-göttlichen Gesichtspunkt aus nach determinierender Dramaturgie präsentiert. Setzt man eine solche Position voraus – vielleicht identifizierte sich der Autor Tolstoi da-mit - , dann ergibt es auch Sinn, nach den historischen Gesetzmässigkeiten zu fragen. Ge-schichte als quasi-physikalischer Prozess. 


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Die Vorstellung ist längst antiquiert, vielleicht verfechten sie noch ein paar marxistische Fossilien. Aber sie findet ihre moderne Nachfolgerin in den Big Data Sciences. Wir müssen nur eine genügend grosse historische Datenmenge haben und darüber «lernende» Algorithmen schicken, um in der Geschichte wiederkehrende Muster zu entdecken – so lautet die Devise. Der mathematische Ökologe Peter Turchin hat die sogenannte Kliodynamik eingeführt, eine auf statistischer Modellierung basierende Disziplin, die im Speziellen Aufstiegs- und Niedergangszyklen von Imperien studiert. Kliodynamik hat ihren Namen von der griechischen Muse der Geschichtsschreibung – Clio. Nach eigenem Erkenntnisanspruch möchte diese Geschichtsforschung mit mathematischen Methoden die alte «deuten-de» Geschichtsschreibung ablösen und sich vor allem auch als verlässlicheres Prognoseinstrument profilieren, nicht zuletzt im Sinn der Vermeidung früherer Fehler. 

Schön und gut, über Modelle in der historischen Forschung zu verfügen, die effizientere Diagnose- und Prognosemittel bereitstellen. Aber werden wir daraus klüger? Selbst wenn wir «makrohistorische Regelmässigkeiten» und ihre Dynamiken kennen,  handeln wir auch danach? Ein Autokrat wird wahrscheinlich eher bestrebt sein, diese Regelmässigkeiten umzuschreiben. Er will nicht aus der Geschichte lernen, sondern Geschichte machen. Die Vergangenheit ist ihm eigentlich scheissegal. Die Geschichte schreibt immer der Sieger, sagt er sich. Heute kehrt die Geschichte wieder mit der unausweichlichen Frage: Wer ist eigentlich die Siegerin, Demokratie oder Autokratie? Die Frage sollte uns bis in die Träume be-gleiten.

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Und nicht zuletzt: Mit der Geschichte kehren auch die «Monster» zurück - im Sinn einer Warnung vor historischen «Rezidiven». Man kann in Putin das verfaulende Endstadium eines alten kriegerischen Tugendideals sehen: des Furcht einflössenden, unerbittlichen, die Eigenlogik zum Irrsinn treibenden, höheren Mächten und Zielen verpflichteten Alpha-Mannes. Das Ideal hat seine blutige Furchen durch die Jahrhunderte gezogen. Die Historiker haben sie gründlich studiert. Aber die Monster sind nach wie vor unter uns. Geschichte, so könnte man daraus zu schliessen geneigt sein, ist das, woraus wir nicht lernen. Hoffentlich ein Fehlschluss. 


Montag, 14. März 2022






NZZ, 12.3.2022

Fast Science

Ein neuer Forschungsstil greift Platz: Fast Science. Nichts demonstriert das deutlicher als der Ausbruch der Pandemie. Hier ist der Imperativ der «schnellen» Forschung sicher angezeigt. Er gebietet ein rasches anwendungsorientiertes Wissenswachstum, nicht nur über das Virus, sondern auch über die individuellen und kollektiven Kollateralfolgen seiner Verbreitung. Dadurch ändern sich wissenschaftliche Normen, und mit ihnen wandelt sich der erkenntnistheoretische Charakter der Forschung. 

Einen offensichtlichen Zug dieses Charakters beobachtet man gegenwärtig in der Flut der einschlägigen Publikationen. Medizinische Fachzeitschriften wie «The Lancet» müssen ein Vielfaches der üblichen Anzahl von Artikeln bewältigen. Forscher beginnen zudem, ihre Resultate nicht über traditionelle «esoterische» Fachkanäle mitzuteilen, sondern in «exoterischen» sozialen Medien oder Online-Preprints ohne Peer-Review. Schnelle Meinung und Stellungnahme sind gefragt. Virologen und Epidemiologen brechen auf Twitter Streitigkeiten vom Zaun. Und Laien fühlen sich ermuntert, mitzureden. Alle muten sich eine Expertise zu, es entsteht eine wilde Peer-Community aus Qualifizierten und Unqualifizierten. 

Ein anderes Symptom ist die schnelle Verlautbarung von Resultaten. Ein Pharmaunternehmen gab jüngst die Pressemitteilung heraus, dass ein orales Mittel gegen Covid-19 – Molnupiravir – sich in der Testphase befinde. Die Tests sind nicht abgeschlossen, Peer-Reviews fehlen, aber prompt war in der Zeitung der aufgepimpte Titel «Nun gibt es die Pille gegen Covid» zu lesen. Eine vorläufige «Lösung» macht die Runde, ohne dass man deren Auswirkungen bereits solide studiert hätte. Nur schon die Ankündigung ist sexy. Fast Science dient auch mehr oder weniger transparenten politischen Absichten. Richard Horton, Chefredaktor des «Lancet», verhehlte seine Abneigung gegen Trump nicht. Als eine Studie die Unwirksamkeit von Hydrochloroquin – ein von Trump gepriesenes Mittel – «belegte», wurde sie im Schnellverfahren publiziert. Sie erwies sich als Fake. 

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Den anderen eine Nasenlänge voraus sein - das galt natürlich schon in früheren Zeiten, zumal in «heissen» Gebieten wie etwa der Teilchenphysik oder der Mikrobiologie. Die Erkennnissuche ist getrieben von Neugier, sagt man. Aber man muss sich diese Neugier genauer vorknöpfen. Ist sie von Hektik getrieben, richtet sie sich häufig nicht primär darauf, was die Dinge im Innersten zusammenhält, sondern darauf, wie man die Dinge möglichst schnell in den Griff kriegen kann. Opportune «Tasks» anstelle von offenem Problematisieren. Das Schielen auf Spin-offs. «Instrumentalisierte» Kreativität auf Nachfrage, im Dienst absehbarer Anwendbarkeit.


Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler produzieren Wissen. Dieses spezifische Produkt hat in der Regel das Format von Hypothesen oder Modellen, nicht von ausgearbeiteten Theorien. Zum Ausformulieren bräuchte man Zeit. Vielleicht ist die Ära der Grosstheorien ohnehin vorbei. Es gab sie ja eigentlich auch nur in der Physik. Modelle, die Prognosen gestatten, genügen. Ein tieferes Verständnis der kausalen Zusammenhänge erfordert viel Aufwand – finanziellen, organisatorischen und eben: zeitlichen. Stattdessen stehen heute  immense Datenmassen zur Verfügung. Sie sind nur noch algorithmisch, also statistisch zu bewältigen. Statistik aber erklärt nicht, sie liefert bloss Material – Korrelationen - für den Modellbau. 


Und hier tritt ein weiteres Problem zutage. Forscher, die in den Datengewässern fischen, können mit dem Netz effizienter statistischer und computerisierter Methoden eine Unmenge «schneller» Korrelationen fangen. Der Neurowissenschaftler und Schriftsteller Erik Hoel sieht darin eine Mutation der Wissenschaft zum «Science Game»: «Man stelle sich vor, eine Wählscheibe zu bedienen, und jedes Mal, wenn man sie leicht dreht, produziert man ein besonderes wissenschaftliches Papier.» Und selbstkritisch spricht Hoel über seine eigene Disziplin: «Die meisten von uns Neurowissenschaftlern sehen in der Magnetresonanzmaschine nicht ein Multmillionen-Gerät. Wir sehen überhaupt kaum etwas Physikalisches. Für die meisten von uns handelt es sich um eine praktische Wählscheibe, um Papers am laufenden Band zu produzieren. Stecke Leute in die Maschine und publiziere jedes hübsche Bild, das sie ausspuckt.» 


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Fast Science zementiert überdies ein Machtgefälle zwischen Erster und Dritter Welt. Das zeigt vor allem die Agrarforschung. Viele internationale, nationale und private Geldgeber sind in reichen, technisch hochentwickelten Ländern beheimatet, und sie unterstützen den «heimischen» Forschungsstil. Die Ökologinnen Marci Baranski und Mary Ollenberger beleuchten in ihrem lesenswerten Artikel über die Grüne Revolution den Hang zur «Westlastigkeit», das heisst, zu einem Forschungsstil, der von avancierten Wissenschaften wie Biochemie und Molekularbiologie, so-wie deren technologischen Anwendungen geprägt ist.  Ein Ziel liegt zum Beispiel in möglichst universell anpflanzbaren Getreidesorten – künftig wahrscheinlich auch vermehrt genmodifizierten. Dazu führt man Tests auf «schnellen» Böden durch, das heisst im Gelände, dessen Randbedingungen man gut kennt und kontrollieren kann. Aber meist sind die Felder der armen Kleinbauern in der Dritten Welt nicht von solch idealer Art. Im Gegensatz zu den Testfeldern von Forschungsinstituten erweisen sie sich als «verunreinigt» durch Wildwuchs, Unebenheiten, Unkraut, unterschiedliche Bodenbeschaffenheit von Sand bis Lehm, Schädlings¬befall, unvorhersehbare Wetterbedingungen und durch was noch für Unwägbarkeiten. In der Regel wissen die einheimischen Bauern über solche lokalen Parameter am besten Bescheid. Das führt allerdings zu einem Zielkonflikt: Will man (relativ) schnelle Lösungen via avancierter Agrartechnologie, erhält man Resultate, die oft lokal nicht verlässlich und anwendbar sind; will man lokal verlässliche und anwendbare Resultate, muss man die Kompetenz der einheimischen «Barfussexperten» miteinbeziehen, was den Forschungsgang sehr wahrscheinlich verlangsamt. Wo die Präferenz in diesem Zielkonflikt bei vorwiegend westlichen Investoren und Sponsoren liegt, dürfte leicht zu erraten sein.


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Das ist nur eine Auswahl von Symptomen der Ausbreitung von Fast Science. Weitere Beispiele wären die Unterbewertung von Scheitern und Misserfolgen im Erkenntnisprozess, ethische Konflikte, das Ausblenden der Wissenschaftsgeschichte, die heutigen Curricula zur «schnellen» Professionalisierung und Spezialisierung, die «schnellen» Symposien und Konferenzen, die einen Austausch über Fachgrenzen hinweg kaum zulassen. Ein irreversibler Prozess? 


Es gibt durchaus Anzeichen, dass das Problem erkannt wird. Eine Gruppe von deutschen Wissenschaftlern – «Slow Science Academy» - publizierte vor zehn Jahren ein Manifest, das mit den Worten beginnt «Wir sind Wissenschaftler. Wir bloggen nicht. Wir twittern nicht. Wir nehmen uns Zeit.» Und es endet mit «Habt Geduld mit uns, wenn wir denken».  2013 erschien das Buch «Une autre science est possible. Manifeste pour un ralentissement des sciences » der belgischen Wissenschaftsphilosophin Isabelle Stengers. Und im April 2021 plädierten die Psychologin Luciana Leite und die Biologin Luisa Maria Diele-Vegas für ein ausgewogenes «Jonglieren» zwischen schneller und langsamer Forschung.  

Es wäre falsch - nein, fatal, in solchen Interventionen bloss Marginalitäten zu sehen. Von den Rändern her kommen oft die wichtigsten Impulse. Das Kernproblem ist nicht die Dynamik, sondern das Ethos der Forschung. Es geht weniger um Beschleunigung als um mangelnde Zeit. Fast Science sieht in allem Ausserdisziplinären blosse Zeitverschwendung. Und damit stellt sich die Frage, ob denn nicht genau diese «Verschwendung» das Wesen des kreativen Prozesses aus-macht. Was, wenn uns die Zeit ausgeht, uns mit dieser Frage zu beschäftigen? Wir tun gut daran, hier eine langfristige forschungs- und bildungspolitische Aufgabe zu erkennen, um einem heimlichen Degenerationsprozess vorzubeugen: der Verdrängung der Neugier durch die Gier nach Neuem. 






Das Monster in uns Der Hang zum Unmenschlichen ist menschlich Jüngst war in den Medien von den «Hamas-Monstern» die Rede. «Yahia Sinwar – da...