Sonntag, 26. November 2017

Das Hirn hat kein Bewusstsein







NZZ, 17.11.2017


Bewusstsein beruht auf Gehirnprozessen. So weit, so klar. Aber was für Prozesse sind das? Die Hirnforscher winden sich. Nun, eigentlich handelt es sich nicht direkt um Bewusstseinsprozesse, sondern um hirnphysiologische Vorgänge, die sich abspielen, wenn ich etwa einen Wutanfall oder Schmerzen habe, in jemanden verliebt bin, ein Gedicht schreibe oder beabsichtige, im Sommer nicht in die Ferien zu reisen: neuronale Korrelate von Bewusstsein, wie der Fachterminus lautet. Und was genau darf man sich darunter vorstellen? Hier winden sich die Hirnforscher noch mehr: Nun, eigentlich haben wir bloss Vermutungen, und zwar ziemlich viele. Eine kleine Auswahl gefällig? 40-Hertz Oszillationen im zerebralen Cortex, intralaminare Nuklei im Thalamus, wiederverwendbare Schleifen im thalamokortikalen System, erweiterte Aktivität im retikulär-thalamischen System, Neuronen in der Area striata des visuellen Kortex’, die auf präfrontale Areale projizieren. - Das genügt. Alles klar?  Gewiss nicht. Muss auch nicht.

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Nur schon die Quantität aktueller wissenschaftlicher und philosophischer Erklärungsversuche des Bewusstseins macht misstrauisch. Und dieses Misstrauen befeuert den Gedanken, den Spiess einmal umzudrehen, das heisst, statt nach dem Problem des Bewusstseins nach dem Bewusstsein des Problems zu fragen: Warum und wie konnte es überhaupt entstehen und eine derart prominente Stellung einnehmen?

Die Frage erscheint umso plausibler, als wir alle ein Bewusstsein haben, die wenigsten aber ein Problem mit ihm. Was sehen wir eigentlich, wenn wir eine Person bewusst handeln sehen, wenn sie zum Beispiel auf dem Markt an einer Orange riecht? Sehen wir ihr Bewusstein, ihre Absicht? Nein, wir sehen ihr Gesicht, ihre Gesten, ihren Körper. Da unsere Körper, generell unsere Sinne das Medium sozialen und geistigen Lebens sind; und da wir nicht das Bewusstsein einer Person sehen, sondern ihren agierenden Körper, kommen wir leicht zum Schluss, Bewusstein sei etwas „hinter“ den Sinnen, „innerhalb“ des Körpers, speziell in einem Organ namens Hirn mit seinen fast 90 Milliarden vernetzten Zellen.

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Und genau da wird das Bewusstsein zu einem Problem. Im Gehirn der Person geht etwas vor, und dieser Vorgang zeigt sich meist in sichtbaren Aktionen; umgekehrt deuten wir Aktionen als Manifestationen unsichtbarer Prozesse im Gehirn. Das Wechselspiel bereitete uns kaum grosses Kopfzerbrechen, würden uns heute nicht einige Philosophen und Wissenschafter mit der kühnen Behauptung beschwatzen, „im Prinzip“ sei das, was im Gehirn geschieht, das einzig Reale und das, was wir bewusst tun, „blosser“ Effekt dieses Geschehens in unserem Kopf. Nicht ich entscheide mich für diese oder jene Orange auf dem Markt, es ist das „Lustareal“ in meiner Amygdala, welches das eigentlich für mich tut.

Diese Idee ist alles andere als einleuchtend. Wahrscheinlich finden sie die meisten Menschen sogar ziemlich „gestört“, wenn sie nicht gerade Philosophen sind wie René Descartes im 17. Jahrhundert. Dessen „gestörtes“ Verhältnis zur Welt und zum Menschen äusserte sich in einer Philosophie, die im Körper, also auch im Gehirn, einen komplexen organischen Automaten sieht, worin ausschliesslich bewusstlsose, „mechanische“ Prozesse ablaufen. Da wir Menschen bewusst handelnde Wesen sind - wie kommt dieses Bewusstsein in den Automaten? Lange Zeit fand man diese Frage nicht der Erörterung wert. Noch in den späten 1980er Jahren stand im International Dictionary of Psychology über das Bewusstsein folgendes: „Es ist unmöglich, zu spezifizieren, was es ist, was es tut, oder warum es sich entwickelte. Nichts Lesenswertes ist darüber geschrieben worden.“

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Aber dann versetzte der Philosoph David Chalmers der einschlägigen Scientific Community vor über zwanzig Jahren einen Adrenalinstoss, indem er der Frage nach dem Bewusstsein den heute notorischen Namen gab: das „harte Problem“. Das Gehirn, so Chalmers, stellt uns alle Arten von Fragen über Prozesse auf neuronaler Ebene. Aber das eigentliche – das „harte“ – Problem ist: Wie und warum kommt es dazu, dass sich viele dieser Prozesse wie „von innen“, von einem Subjekt, anfühlen? Wie kann ein Stück Materie so etwas Mysteriöses erzeugen wie die Erfahrung, ein solches Stück Materie zu sein, das zu sich selbst erst noch „Ich“ sagt?

Aus solchen Fragen sind heute zwei Forschungsstränge gewachsen, mit einer durchaus nachvollziehbaren Logik. Erstens: Das Gehirn ist ein Naturprodukt, also auch das Bewusstsein. Und zweitens: Das Gehirn ist ein überaus komplexes Naturprodukt, also ist es naheliegend, Bewusstsein quasi als Ausdruck dieser Komplexität zu betrachten. Beide Forschungsstränge lassen sich von zwei Paradigmen mit unterschiedlichen Akzenten leiten: vom Algorithmus-Paradigma und vom Biologie-Paradigma.
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Das erste Paradigma wird heute prominent vertreten von Christof Koch, Neuroinformatiker am Allen Institute for Brain Science in Seattle. Zusammen mit dem Psychiater Giulio Tononi arbeitet er am Projekt einer neuartigen Informationstheorie, die gestatten soll, Bewusstsein als eine objektive messbare Eigenschaft von Systemen zu studieren. Die Grundidee der sogenannt „integrierten Informationstheorie“ (IIT) ist einfach: Als bewusste Wesen sind wir fähig, eine Vielzahl von Eindrücken zu unterscheiden und doch nehmen wir in ihnen etwas als gestalthaftes Ganzes wahr. Ein Smartphone kann in einer gewaltigen Pixelmenge an Information Unterscheidungen vornehmen. Das aber genügt nicht für das Bewusstsein, die Pixel müssen auch miteinander zu Gestalten „integriert“ sein. Tononis Theorie definiert eine Masszahl für die Dichte solch differenzierter und integrierter Information, in Bits. Sie wird als „Phi“ (Φ) bezeichnet.

Für einen Moment öffnet sich hier eine erregende Aussicht: Allem kann ein Phi-Wert zugeschrieben werden, einem Menschen, einer Katze, einem Google-Auto oder einem Smartphone. Entscheidend ist nur, dass die Elemente eines Systems, handle es sich nun um Neuronen, Dioden oder was auch immer, ein gewisses Mass an Integriertheit aufweisen. So schreibt denn Koch auch: „Ganz gleich, ob der Organismus oder das Artefakt aus dem alten Tierreich oder von seinen rezenten Siliziumnachkommen stammt, ganz gleich, ob das Ding Beine hat zum Laufen, Flügel zum Fliegen oder Räder zum Rollen – wenn es differenzierte und integrierte Informationszustände aufweist, fühlt es sich nach etwas an, ein solches System zu sein; das System hat eine innere Perspektive.“

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Wie fühlt es sich an, ein Smartphone zu sein? Die Frage klingt einigermassen verrückt, für digitale Ureinwohner vielleicht weniger als für digitale Einwanderer. Aber bleiben wir auf dem Teppich: Alle Systeme mögen einen bestimmten Phi-Wert haben. Wenn uns darunter solche mit Bewusstsein bekannt sind – Menschen oder Katzen -, dann folgt daraus einfach, dass gewisse uns bekannte bewusste Systeme einen bestimmten Phi-Wert haben. Aber bedeutet umgekehrt ein bestimmter Phi-Wert auch ein entsprechendes Bewusstsein? Ein Mensch hat einen höheren Phi-Wert als eine Katze; eine Katze einen höheren Phi-Wert als ein Smartphone; ein Smartphone einen höheren Phi-Wert als ein Proton? Was soll das aber über Bewusstsein aussagen? Hat man auf diese Weise nicht einfach eine bestimmte Eigenschaft definiert, mit der sich komplexe Systeme vergleichen lassen? Boshafter gefragt: Hat man das Problem des Bewusstseins nicht einfach mit einer Notnagel-Definition geschickt weggezaubert?
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Natürlich gibt sich im Algorithmus-Paradigma der von Rechenprozessen besessene Zeitgeist zu erkennen. Der amerikanische Philosoph John Searle hat sich als einer der scharfsinnigsten und streitlustigsten Gegner dieses Paradigmas profiliert. Der Kampfruf seines Biologie-Paradigmas könnte lauten: Matter matters! Was das Bewusstsein sonst noch ist, primär ist es ein neurobiologisches Phänomen, und „es hängt ebenso kausal von der spezifischen Biochemie seines Substrats ab wie Laktogenese, Photosynthese oder jeder andere biologische Prozess.“

So plausibel dieser Einwand anmutet, der Teufel meldet sich spätestens dann, wenn es das Programm Bewusstsein-aus-Neurobiologie im Detail auszuführen gilt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Searle gebraucht gern die Analogie „Bewusstsein ist eine geistige Eigenschaft des Hirns in dem Sinne, in dem Flüssigkeit eine Eigenschaft eines Systems von Molekülen ist“. Aber die Analogie trägt nicht. Wenn wir erklären, wie sich H2O-Moleküle über die Van-der-Waals-Kräfte zu einem neuartigen Aggregat namens Flüssigkeit verbinden, dann haben wir alles über Flüssigsein erklärt. Wenn wir aber erklären, wie sich Neuronen auf ungeheuer komplexe Art vernetzen, dann haben wir noch überhaupt nichts über Bewusstsein erklärt. Von den Hirnvorgängen zum Bewusstein führt ein kategorialer Sprung. Wie „kausale Kräfte des Gehirns“ Bewusstsein erzeugen, bleibt ein Rätsel. Diese Kräfte sind nichts als Gehirnmetaphysik.

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Der Mensch ist Materie, ein physikalischer Körper, in dem sich Myriaden biochemischer Prozesse abspielen – und er ist zugleich etwas, das sich auf der Grundlage dieser Materie allein nicht verstehen lässt. Anders als Moleküle, Steine und Planeten „gehorchen“ wir nicht einfach physikalischen Gesetzen, und anders als Bakterien, Pflanzen und Tiere leben wir in einem Reich der Kultur, Geschichte, Moral, Religion, wo unsere Handlungen weit weniger von materiellen als von mentalen Faktoren bestimmt werden. Dies zu konstatieren, ist heute nicht unkontrovers, denn obwohl die sogenannt „harten“ Wissenschaften –  primär Neurobiologie und Künstliche Intelligenz – ihre Mühe mit dem Mentalen haben, neigen sie nichtsdestoweniger dazu, es in den „ontologischen Mülleimer“ zu werfen, um hier einen Ausdruck des Philosophen Sidney Shoemaker zu verwenden. Das heisst genauer gesagt, dass man die Wörter „Bewusstsein“ oder „mental“ in zwei Bedeutungsteile aufspaltet; den einen – messbaren -  übergibt man den Natur- und Gehirnwissenschaften, den anderen – qualitativen - entsorgt man im Kübel der Kultur- und Geisteswissenschaften. Vieles, was heute unter dem Label „Neurophilosophie“ kursiert, ist geprägt von einer solchen Abfuhrmentalität.
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Anzumerken bleibt, dass das Problem des Bewusstseins so etwas wie einen hochdotierten Debattentourismus hervorgebracht hat: Koryphäen – man müsste schon fast sagen: Pop-Grössen - aus Wissenschaft und Philosophie treffen sich regelmässig auf Plattformen, referieren und diskutieren über den neuesten Stand der bewussten Dinge. Am bekanntesten sind wohl die TED-Talks. In der Schweiz gibt es die Biennale zu Wissenschaft, Technik und Ästhetik, die von der Neuen Galerie Luzern im Januar 2018 bereits zum 12. Mal veranstaltet wird. So richtige High-End-Philosophie findet sich auf Luxusjachtfahrten im Grönlandeis, wie sie ein russischer Internetmogul 2014 sponsorte. David Chalmers, der daran teilgenommen hatte, berichtete: „Es würde mich nicht im geringsten wundern, wenn wir (..) in hundert Jahren eine komplette Karte des Hirns hätten - und die einen immer noch fragen: ‚Ja, aber was darauf ist nun das Bewusstein?’, während die anderen ausrufen: ‚Nein, nein, nein, genau das da ist Bewusstsein!’ “.

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Es kommt einem mitunter vor, als sässen alle die ausgeklügelten Hypothesen über die neuronalen Korrelate des Bewusstseins in einem Wartezimmer, um Einlass zu bekommen ins Sprechzimmer des Bewusstseins. Die Erwartung ist dabei, dass das Bewusstsein bestimmte Hypothesen gutheissen würde, andere nicht. Idealerweise würde eine Hypothese übrigbleiben, der Hirnschlüssel zum Bewusstsein. - Aber die Türe zum Sprechzimmer öffnet sich nicht. Die Wissenschaft sitzt nach wie vor geschäftig im Wartezimmer. Viele Forscher harren aus, weil sie dafür Geld kriegen, viel Geld. Einige haben das Wartezimmer freilich schon verlassen. Und ein paar wenige fragen sich, ob es überhaupt eine Türe gibt.

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