NZZ, 17.11.2017
Bewusstsein
beruht auf Gehirnprozessen. So weit, so klar. Aber was für Prozesse sind das?
Die Hirnforscher winden sich. Nun, eigentlich handelt es sich nicht direkt um
Bewusstseinsprozesse, sondern um hirnphysiologische Vorgänge, die sich
abspielen, wenn ich etwa einen Wutanfall oder Schmerzen habe, in jemanden
verliebt bin, ein Gedicht schreibe oder beabsichtige, im Sommer nicht in die
Ferien zu reisen: neuronale Korrelate von Bewusstsein, wie der Fachterminus
lautet. Und was genau darf man sich darunter vorstellen? Hier winden sich die
Hirnforscher noch mehr: Nun, eigentlich haben wir bloss Vermutungen, und zwar
ziemlich viele. Eine kleine Auswahl gefällig? 40-Hertz Oszillationen im
zerebralen Cortex, intralaminare Nuklei im Thalamus, wiederverwendbare
Schleifen im thalamokortikalen System, erweiterte Aktivität im retikulär-thalamischen
System, Neuronen in der Area striata des visuellen Kortex’, die auf präfrontale
Areale projizieren. - Das genügt. Alles klar?
Gewiss nicht. Muss auch nicht.
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Nur schon die Quantität aktueller wissenschaftlicher und
philosophischer Erklärungsversuche des Bewusstseins macht misstrauisch. Und dieses
Misstrauen befeuert den Gedanken, den Spiess einmal umzudrehen, das heisst,
statt nach dem Problem des Bewusstseins nach dem Bewusstsein des Problems zu
fragen: Warum und wie konnte es überhaupt entstehen und eine derart prominente
Stellung einnehmen?
Die Frage erscheint umso plausibler, als wir alle ein
Bewusstsein haben, die wenigsten aber ein Problem mit ihm. Was sehen wir
eigentlich, wenn wir eine Person bewusst handeln sehen, wenn sie zum Beispiel auf
dem Markt an einer Orange riecht? Sehen wir ihr Bewusstein, ihre Absicht? Nein,
wir sehen ihr Gesicht, ihre Gesten, ihren Körper. Da unsere Körper, generell
unsere Sinne das Medium sozialen und geistigen Lebens sind; und da wir nicht
das Bewusstsein einer Person sehen, sondern ihren agierenden Körper, kommen wir
leicht zum Schluss, Bewusstein sei etwas „hinter“ den Sinnen, „innerhalb“ des
Körpers, speziell in einem Organ namens Hirn mit seinen fast 90 Milliarden
vernetzten Zellen.
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Und genau da wird das Bewusstsein zu einem Problem. Im
Gehirn der Person geht etwas vor, und dieser Vorgang zeigt sich meist in
sichtbaren Aktionen; umgekehrt deuten wir Aktionen als Manifestationen
unsichtbarer Prozesse im Gehirn. Das Wechselspiel bereitete uns kaum grosses
Kopfzerbrechen, würden uns heute nicht einige Philosophen und Wissenschafter mit
der kühnen Behauptung beschwatzen, „im Prinzip“ sei das, was im Gehirn
geschieht, das einzig Reale und das, was wir bewusst tun, „blosser“ Effekt
dieses Geschehens in unserem Kopf. Nicht ich entscheide mich für diese oder
jene Orange auf dem Markt, es ist das „Lustareal“ in meiner Amygdala, welches
das eigentlich für mich tut.
Diese Idee ist alles andere als einleuchtend. Wahrscheinlich
finden sie die meisten Menschen sogar ziemlich „gestört“, wenn sie nicht gerade
Philosophen sind wie René Descartes im 17. Jahrhundert. Dessen „gestörtes“
Verhältnis zur Welt und zum Menschen äusserte sich in einer Philosophie, die im
Körper, also auch im Gehirn, einen komplexen organischen Automaten sieht, worin
ausschliesslich bewusstlsose, „mechanische“ Prozesse ablaufen. Da wir Menschen bewusst
handelnde Wesen sind - wie kommt dieses Bewusstsein in den Automaten? Lange
Zeit fand man diese Frage nicht der Erörterung wert. Noch in den späten 1980er
Jahren stand im International Dictionary of Psychology über das Bewusstsein
folgendes: „Es ist unmöglich, zu spezifizieren, was es ist, was es tut, oder
warum es sich entwickelte. Nichts Lesenswertes ist darüber geschrieben worden.“
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Aber dann versetzte der Philosoph David Chalmers der
einschlägigen Scientific Community vor über zwanzig Jahren einen
Adrenalinstoss, indem er der Frage nach dem Bewusstsein den heute notorischen
Namen gab: das „harte Problem“. Das Gehirn, so Chalmers, stellt uns alle Arten
von Fragen über Prozesse auf neuronaler Ebene. Aber das eigentliche – das
„harte“ – Problem ist: Wie und warum kommt es dazu, dass sich viele dieser
Prozesse wie „von innen“, von einem Subjekt, anfühlen? Wie kann ein Stück
Materie so etwas Mysteriöses erzeugen wie die Erfahrung, ein solches Stück
Materie zu sein, das zu sich selbst erst noch „Ich“ sagt?
Aus solchen Fragen sind heute zwei Forschungsstränge
gewachsen, mit einer durchaus nachvollziehbaren Logik. Erstens: Das Gehirn ist
ein Naturprodukt, also auch das Bewusstsein. Und zweitens: Das Gehirn ist ein
überaus komplexes Naturprodukt, also ist es naheliegend, Bewusstsein quasi als
Ausdruck dieser Komplexität zu betrachten. Beide Forschungsstränge lassen sich
von zwei Paradigmen mit unterschiedlichen Akzenten leiten: vom Algorithmus-Paradigma
und vom Biologie-Paradigma.
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Das erste Paradigma wird heute prominent vertreten von Christof
Koch, Neuroinformatiker am Allen Institute for Brain Science in Seattle. Zusammen
mit dem Psychiater Giulio Tononi arbeitet er am Projekt einer neuartigen
Informationstheorie, die gestatten soll, Bewusstsein als eine objektive
messbare Eigenschaft von Systemen zu studieren. Die Grundidee der sogenannt
„integrierten Informationstheorie“ (IIT) ist einfach: Als bewusste Wesen sind
wir fähig, eine Vielzahl von Eindrücken zu unterscheiden und doch nehmen wir in
ihnen etwas als gestalthaftes Ganzes wahr. Ein Smartphone kann in einer
gewaltigen Pixelmenge an Information Unterscheidungen vornehmen. Das aber
genügt nicht für das Bewusstsein, die Pixel müssen auch miteinander zu
Gestalten „integriert“ sein. Tononis Theorie definiert eine Masszahl für die
Dichte solch differenzierter und integrierter Information, in Bits. Sie wird
als „Phi“ (Φ) bezeichnet.
Für einen Moment öffnet sich hier eine erregende Aussicht:
Allem kann ein Phi-Wert zugeschrieben werden, einem Menschen, einer Katze, einem
Google-Auto oder einem Smartphone. Entscheidend ist nur, dass die Elemente
eines Systems, handle es sich nun um Neuronen, Dioden oder was auch immer, ein
gewisses Mass an Integriertheit aufweisen. So schreibt denn Koch auch: „Ganz gleich, ob der Organismus oder das Artefakt aus dem alten
Tierreich oder von seinen rezenten Siliziumnachkommen stammt, ganz gleich, ob
das Ding Beine hat zum Laufen, Flügel zum Fliegen oder Räder zum Rollen – wenn
es differenzierte und integrierte Informationszustände aufweist, fühlt es sich
nach etwas an, ein solches System zu sein; das System hat eine innere
Perspektive.“
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Wie fühlt es sich an, ein Smartphone zu sein? Die Frage klingt
einigermassen verrückt, für digitale Ureinwohner vielleicht weniger als für
digitale Einwanderer. Aber bleiben wir auf dem Teppich: Alle Systeme mögen einen
bestimmten Phi-Wert haben. Wenn uns darunter solche mit Bewusstsein bekannt
sind – Menschen oder Katzen -, dann folgt daraus einfach, dass gewisse uns
bekannte bewusste Systeme einen bestimmten Phi-Wert haben. Aber bedeutet umgekehrt
ein bestimmter Phi-Wert auch ein entsprechendes Bewusstsein? Ein Mensch hat
einen höheren Phi-Wert als eine Katze; eine Katze einen höheren Phi-Wert als ein
Smartphone; ein Smartphone einen höheren Phi-Wert als ein Proton? Was soll das
aber über Bewusstsein aussagen? Hat man auf diese Weise nicht einfach eine
bestimmte Eigenschaft definiert, mit der sich komplexe Systeme vergleichen
lassen? Boshafter gefragt: Hat man das Problem des
Bewusstseins nicht einfach mit einer Notnagel-Definition geschickt weggezaubert?
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Natürlich
gibt sich im Algorithmus-Paradigma der von Rechenprozessen besessene Zeitgeist
zu erkennen. Der amerikanische Philosoph John Searle hat sich als einer der scharfsinnigsten
und streitlustigsten Gegner dieses Paradigmas profiliert. Der Kampfruf seines
Biologie-Paradigmas könnte lauten: Matter matters! Was das Bewusstsein sonst
noch ist, primär ist es ein neurobiologisches Phänomen, und „es hängt ebenso
kausal von der spezifischen Biochemie seines Substrats ab wie Laktogenese,
Photosynthese oder jeder andere biologische Prozess.“
So plausibel dieser Einwand anmutet, der Teufel meldet sich
spätestens dann, wenn es das Programm Bewusstsein-aus-Neurobiologie im Detail
auszuführen gilt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Searle gebraucht gern die Analogie
„Bewusstsein ist eine geistige Eigenschaft des Hirns in dem Sinne, in dem
Flüssigkeit eine Eigenschaft eines Systems von Molekülen ist“. Aber die
Analogie trägt nicht. Wenn wir erklären, wie sich H2O-Moleküle über die
Van-der-Waals-Kräfte zu einem neuartigen Aggregat namens Flüssigkeit verbinden,
dann haben wir alles über Flüssigsein erklärt. Wenn wir aber erklären, wie sich
Neuronen auf ungeheuer komplexe Art vernetzen, dann haben wir noch überhaupt
nichts über Bewusstsein erklärt. Von den Hirnvorgängen zum Bewusstein führt ein
kategorialer Sprung. Wie „kausale Kräfte des Gehirns“ Bewusstsein erzeugen,
bleibt ein Rätsel. Diese Kräfte sind nichts als Gehirnmetaphysik.
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Der Mensch ist Materie, ein physikalischer Körper, in dem sich
Myriaden biochemischer Prozesse abspielen – und er ist zugleich etwas, das sich
auf der Grundlage dieser Materie allein nicht verstehen lässt. Anders als
Moleküle, Steine und Planeten „gehorchen“ wir nicht einfach physikalischen
Gesetzen, und anders als Bakterien, Pflanzen und Tiere leben wir in einem Reich
der Kultur, Geschichte, Moral, Religion, wo unsere Handlungen weit weniger von
materiellen als von mentalen Faktoren bestimmt werden. Dies zu konstatieren, ist
heute nicht unkontrovers, denn obwohl die sogenannt „harten“ Wissenschaften – primär Neurobiologie und Künstliche
Intelligenz – ihre Mühe mit dem Mentalen haben, neigen sie nichtsdestoweniger
dazu, es in den „ontologischen Mülleimer“ zu werfen, um hier einen Ausdruck des
Philosophen Sidney Shoemaker zu verwenden. Das heisst genauer gesagt, dass man
die Wörter „Bewusstsein“ oder „mental“ in zwei Bedeutungsteile aufspaltet; den
einen – messbaren - übergibt man den
Natur- und Gehirnwissenschaften, den anderen – qualitativen - entsorgt man im Kübel
der Kultur- und Geisteswissenschaften. Vieles, was heute unter dem Label
„Neurophilosophie“ kursiert, ist geprägt von einer solchen Abfuhrmentalität.
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Anzumerken bleibt, dass das Problem des Bewusstseins so
etwas wie einen hochdotierten Debattentourismus hervorgebracht hat: Koryphäen –
man müsste schon fast sagen: Pop-Grössen - aus Wissenschaft und Philosophie
treffen sich regelmässig auf Plattformen, referieren und diskutieren über den
neuesten Stand der bewussten Dinge. Am bekanntesten sind wohl die TED-Talks. In
der Schweiz gibt es die Biennale zu Wissenschaft, Technik und Ästhetik, die von
der Neuen Galerie Luzern im Januar 2018 bereits zum 12. Mal veranstaltet wird. So
richtige High-End-Philosophie findet sich auf Luxusjachtfahrten im Grönlandeis,
wie sie ein russischer Internetmogul 2014 sponsorte. David Chalmers, der daran
teilgenommen hatte, berichtete: „Es würde mich nicht im geringsten wundern,
wenn wir (..) in hundert Jahren eine komplette Karte des Hirns hätten - und die
einen immer noch fragen: ‚Ja, aber was darauf ist nun das Bewusstein?’, während
die anderen ausrufen: ‚Nein, nein, nein, genau das da ist Bewusstsein!’ “.
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Es kommt einem mitunter vor, als sässen alle die
ausgeklügelten Hypothesen über die neuronalen Korrelate des Bewusstseins in
einem Wartezimmer, um Einlass zu bekommen ins Sprechzimmer des Bewusstseins.
Die Erwartung ist dabei, dass das Bewusstsein bestimmte Hypothesen gutheissen
würde, andere nicht. Idealerweise würde eine Hypothese übrigbleiben, der Hirnschlüssel
zum Bewusstsein. - Aber die Türe zum Sprechzimmer öffnet sich nicht. Die Wissenschaft
sitzt nach wie vor geschäftig im Wartezimmer. Viele Forscher harren aus, weil
sie dafür Geld kriegen, viel Geld. Einige haben das Wartezimmer freilich schon
verlassen. Und ein paar wenige fragen sich, ob es überhaupt eine Türe gibt.