Mittwoch, 15. Mai 2024

 

Jenseits der Genderfronten

Nichtbinarität weiter denken 

  Sexualität erweist sich von Natur aus als kompliziert. Medizin und Biologie kennen schon lange Personen, die nicht in die Dichotomie von XY und XX passen – ihre Geschlechtschromosomen sagen das eine, aber ihre Gonaden oder ihre sexuelle Anatomie sagen etwas anderes. Solche Personen haben zum Beispiel sowohl Eierstock- wie Hodengewebe. Bei einem 70-jährigen Mann wies man eine Gebärmutter nach. Das heisst, es handelt sich hier um sogenannte intergeschlechtliche Merkmale.  Sie sind vielleicht nicht die Norm im statistischen Sinn, aber deswegen sind sie nicht unnatürlich. 

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Nun mögen uns  Biologen eine nuanciertere Sicht der Sexualität lehren, dennoch bleibt ein Grossteil der allgemeinen Debatte im binären Raster gefangen. Ein halbes Jahrhundert Aktivismus der Genderbewegung hat zweifellos zu einer Aufweichung der Haltung gegenüber «anormaler» Sexualität geführt. Aber nach wie vor scheint das binäre Geschlechtsmodell seine normative Macht auszuüben. 

Man leihe nur kurz ein Ohr der politischen Debatte. Das Parlament des Kantons Basel-Stadt diskutierte kürzlich über ein Gesetz, das explizit nichtbinäre Personen berücksichtigt. Dagegen argumentierte ein Grossrat, das Gesetz wolle «die Stütze unserer Familie – nämlich die Gemeinschaft von Mann und Frau – auflösen, indem es biologische Fakten leugnet und einen diffusen Genderbegriff einführt (..) Sie können es drehen und wenden, wie Sie es wollen. Gott erschuf Adam und Eva, nicht Adam und Egon (..) Die Auflösung der Geschlechter ist Ausdruck der menschlichen Hybris, die Meinung, wir stünden über der Natur.» 

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Gott - er tut einem fast leid -  muss immer wieder für schwachbrüstige Argumente herhalten. Die Wissenschaft hat einen schweren Stand gegen tiefverwurzelte, zumal religiöse Überzeugungen. Und häufig wandelt sich die rhetorische Keule in eine ganz handfeste. Viele Länder stigmatisieren und diskriminieren Abweichungen von der Norm nicht nur, sie kriminalisieren, ja, entmenschlichen sie. Hinzu kommt etwas anderes. Inzwischen gibt es eine Unzahl von Identitätsfutteralen für das Geschlecht. Und hier zeigt sich die Kehrseite der Diversität. Identität verhilft sowohl zum Inkludieren wie zum Exkludieren. Vor noch nicht allzu langer Zeit wollte die deutsche Biologiedoktorandin Marie-Louise Vollbrecht an der Humboldt-Universität Berlin einen Vortrag halten, unter anderem über die Binarität von Kiwis. Lassen wir die Frage, was Kiwis mit unserem Sexualleben zu tun haben. Jedenfalls sorgte die Biologin für ziemlich viel Bohei. Transaktivistinnen und -aktivisten verhinderten den Vortrag (der allerdings nachträglich gehalten werden konnte). Frau Vollbrecht sah sich unversehens als transphobe Buhfrau abgewatscht und zugleich als Verteidigerin des guten alten Beiwohnens beklatscht. 

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Der amerikanische Philosoph Robin Dembroff – er definiert sich als Transperson – schlägt einen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation vor. Wir sollten nichtbinäres Denken von der Frage der Geschlechtsidentität ablösen und als «radikale Ausstiegsluke» aus dem generellen binären Denkraster betrachten: «Statt darauf zu pochen, dass Männer und Frauen alles sein und tun können, was sie wollen, frage ich und andere nichtbinäre Personen, warum wir Menschen überhaupt als Männer und Frauen kategorisieren. Wir fragen uns, welche Kategorien unser soziales Leben leiten sollten und solche Fragen sind nicht einfach Tatsachenfragen, wie die Welt ist, sondern wie wir sie gestalten wollen – inhärent normative Probleme.»   Nichtbinäre weigern sich also, in einem Spiel mitzumachen, dessen Regeln die Binären festlegen. Und diese Regeln sind nicht natur-gegeben. 

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Man könnte – etwas philosophischer - von vager Identität sprechen. Das würde sie «entgendern» und zugleich auf ein allgemeineres Problem hinweisen. Vage bedeutet nicht «diffus» im Sinne des Basler Politikers, sondern streitbar. Vage bedeutet, dass eine Person sich nicht mit einer erschöpfenden Liste von Eigenschaften und Merkmalen beschreiben lässt: männlich, weiss, europäisch, Akademiker, 65-jährig, 180cm gross, 80kg schwer, braunhaarig, blauäugig, zuckerkrank, und und und… Diese philosophische Lektion verdanken wir dem (französischen und russischen) Existenzialismus. In seinem Sinn sind alle Menschen vage Identitäten, sie haben keine «wesentlichen» Eigenschaften, die sie ein für allemal einfangen («Existenz kommt vor Essenz»). Als wen du mich auch beschreiben magst, ich kann immer deinem Identifizier-Lasso entschlüpfen. «Ich bin nicht Stiller». 

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So gesehen erweist sich die vage Identität als existenzielle Revolte: Ich lasse mir meine Identität nicht zuschreiben und vorschreiben! Die nichtbinäre Person in diesem verallgemeinerten Sinn steht keineswegs über der Natur, sie lebt einfach ihr Selbstverständnis aktiv, das heisst, sie hinterfragt unbedachte Kategorien, die eine nicht mehr zeitgemässe Verhaltenskonformität stützen. Wenn sie die kategorielle Differenz zwischen Frau und Mann prinzipiell in Zweifel zieht, dann fordert sie ein System heraus, das implizite soziale Kontrolle über den geschlechtsbestimmten Körper ausübt. Die zitierte familiäre Stütze der Gemeinschaft von Mann und Frau ist eben unter anderem eine Stütze hergebrachter Ordnung, was unter Umständen auch heisst: Nicht-Gleichordnung. Zur Erinnerung: Die vollen Bürgerrechte für die Frau gibt es bei uns in der Schweiz seit 1971.

Daraus erhellt sofort die soziale und politische Brisanz der Vagheit, denn Identifizierung bedeutet immer auch Machtausübung durch staatliche Behörden oder andere Institutionen. In der Vagheit steckt ein heimliches subversives Potenzial, ein Widerstand gegen das Gleichmacherische, den wir gerade heutzutage angesichts der immer potenteren Identifizierungs- und Überwachungstechnologien bewahren und pflegen sollten. 

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Die meisten von uns verstehen Frau- und Mannsein als Teil unserer Biografie, der Geschichte, wie wir als Kinder sozialisiert, zu Verhaltensweisen erzogen wurden, wie wir unser individuelles Verhältnis zum eigenen Körper erworben haben. Der Zufall und die Umstände spielen in dieser Geschichte immer mit, wie sehr uns das Skript der Chromosomen auch «determinieren» mag. Das ist völlig unkontrovers, normal im traditionellen Sinn. Und so sollte es auch bleiben. Frau bleibt Frau, Mann bleibt Mann. Nur beginnen wir jetzt vermehrt Menschen wahrzunehmen, die mit ihrer Biografie nicht in den traditionellen Raster passen. Gewiss, jede Erweiterung der Normalzone schafft Probleme. Ob man «Frau» durch «Person mit Gebärmutter» ersetzen soll, ist das geringste. Eine  Gesetzgebung diesen neuen Verhältnissen anzupassen dürfte ein härterer Brocken sein. Aber das gehört nun einmal zum Lauf der Dinge. Und mit ihm Schritt zu halten verlangt eine konzeptuelle Lust, neuartige Formen des Miteinander zu denken, die nicht immer gleich in Diskrimination oder in Grabenkämpfen der Identitätskriege enden. Das hält die Gesellschaft offen und lebendig. 

Oder sagen wir es mit dem unvergleichlichen Georg Christoph Lichtenberg, leicht abgewandelt: Man muss zuweilen wieder die Kategorien untersuchen, denn die Welt kann wegrücken und die Kategorien bleiben stehen. Null-eins, links-rechts, gut-böse, Norden-Süden, Weisser-Nichtweisser, pro Israel-pro Palästina, Kolonisierender-Kolonisierter, Progressiver-Reaktionärer etcetera pp. -  Und überhaupt: Wer wirklich denkt, denkt immer schon nichtbinär. 





Donnerstag, 9. Mai 2024



Die mörderische Macht der Illusion

Es gibt zwei Arten von Illusion. Wenn wir die Sonne als riesigen Kreis am Horizont auf- oder untergehen sehen, haben wir eine falsche Vorstellung. Die wahrgenommene Grösse der Sonne ist eine Illusion. Die Illusion im anderen Sinn ist eine Idee, von der wir wünschen, sie sei wahr. Mörderisch wird die Illusion, wenn wir von ihr derart überzeugt sind, dass sie sich nicht als falsch herausstellen kann. Im Gegenteil. Je mehr sie sich als falsch herausstellt, desto gewalttätiger verlangt sie nach Durchsetzung. Ich verfolge hier kurz drei Beispiele solcher Durchsetzung. Wenn ich sie an bekannten Politikern festmache, dann habe ich nicht primär die Personen im Visier, sondern deren Ideengezücht, das eine Tradition der Entmenschlichung bewahrt und weiterführt. 

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Mörderische Illusionen brauchen ein Brutklima des Enttäuschtseins, der Erniedrigung, der Bedrohung. Das führte der britische Psychoanalytiker Roger Money Kyrle bereits in den 1930er Jahren exemplarisch vor. Er besuchte Versammlungen der Nazis und beobachtete die Psychodynamik bei Reden von Hitler und Goebbels. Er stellte dabei einen einfachen Steigerungs-Dreischritt fest: Selbstmitleid-Verfolgungswahn-Grössenwahn. Money Kyrle bezeichnet die Zuhörerschaft als «Monster». Und er beschreibt das Crescendo des manischen Aufputschens: «Während zehn Minuten hörten wir vom Leiden Deutschlands seit dem Krieg. Das Monster schien sich einer Orgie von Selbstmitleid hinzugeben. Dann folgten in den nächsten zehn Minuten die schrecklichsten Explosionen gegen Juden und Sozialdemokraten als den einzigen Urhebern dieses Leids. Selbstmitleid machte Hass Platz; und das Monster schien im Begriff, mörderisch zu werden. Aber der Ton änderte sich noch einmal. Nun hörten wir zehn Minuten lang vom Aufstieg der Nazi-Partei, von kleinen Anfängen zu einer überwältigenden Macht. Das Monster wurde nun, vergiftet vom Glauben in die eigene Allmacht (..),  sich seiner selbst bewusst». 

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Die amerikanische Jornalistin Gwynne Guilford folgte den Fusstapfen von Money Kyrle in Wahlveranstaltungen der amerikanischen Republikaner 2016.  Sie fand den Dreischritt triumphal bestätigt. Trump spielte meisterlich mit den Wünschen seines Gefolges, sich als Teil eines übermächtigen Ganzen: sich «real» zu fühlen. 

Trump begann auf dem Register von Enttäuschung, Verlust, Bedrohung: «Unser Land ist in ernsthaften Schwierigkeiten. Wir haben keine Siege mehr (..) (Die Chinesen) lachen über uns als Einfaltspinsel. Sie schlagen uns im Geschäft.» Dann suchte er im zweiten Schritt die Schuldigen: «Wenn Mexiko seine Leute schickt, schickt es nicht die Besten (..) Es schickt Leute mit einem Haufen von Problemen, und diese Leute bringen ihre Probleme zu uns. Sie bringen Drogen. Sie bringen Kriminalität. Sie sind Vergewaltiger (..) Und all dies kommt nicht nur von Mexiko, son-dern von überall her aus dem Süden (..) und es kommt wahrscheinlich – wahrscheinlich – aus dem Mittleren Osten». Schliesslich öffnete der Überbringer schlechter Nachrichten seinen Wundermittelkoffer: «Nun braucht unser Land (..) einen wirklich grossen Führer (..), einen Führer, der ‘The Art of the Deal’ schrieb, der unsere Jobs zurückbringt, unser Militär (..) Wir brauchen jemanden, der dem Markenzeichen USA wieder zu Grösse verhilft: Make America Great Again (MAGA)». Gehörte der Mob, der 2021 das Kapitol in Washington stürmte, zur Vorhut der MA-GA-Bewegung?

Trump sei nicht Grossmachtswahn à la Hitler unterstellt. Er dürfte – zum Glück - ein zu windiger Politiker sein, um seine «Ideologie» mit aller Gewalt durchzusetzen. Steve Bannon, sein Einflüsterer im Wahlkampf 2016, scheint zumindest in seiner Gedankenwelt unzimperlicher zu sein. Ihm schwebt die gewaltsame Restauration der «westlichen Zivilisation» vor, ein nationalistischer, «aufgeklärter» - sprich unregulierter -  Kapitalismus mit jüdisch-christlichem Wertefundament. Natürlich gilt es zuerst die Schuldigen zu benennen – die «Elite», die «Schickeria, die Investment-banker und die Typen von der EU». Dass der  Konflikt mit diesen Schuldigen kriegsmässige Ausmasse annehmen könnte, stört Bannon nicht. Im Gegenteil. Er, der «Leninist», sieht hier den Weg der revolutionären Gewalt, um endlich der neuen Zivilisation, der «vergessenen» Mittelschicht Amerikas Platz zu machen. 

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Mit ebendieser Gewalt sucht der russische Präsident die westliche Zivilisation zu besiegen. Vor der Attacke Russland auf die Ukraine 2022  hielt Putin eine langatmige Rede an die Nation, wo-runter er insbesondere «unsere Landsleute in der Ukraine» zählte, also den annektierten ukrainischen Südosten plus die Krim.  

Auch hier zunächst die Evokation der Demütigung: «Man stellt sich die Frage: Armut, Perspektivlosigkeit, Verlust des industriellen und technologischen Potentials – ist das etwa diese sogenannte Entscheidung für die westliche Zivilisation, mit der man jetzt schon seit Jahren Millionen Menschen für dumm verkauft und zum Deppen macht, indem man ihnen Milch und Honig verspricht?» Die Urheber sind schnell identifiziert: eine korrupte Schicht von ukrainischen Oligarchen: «Die staatlichen politischen Institutionen wurden permanent neu zugeschnitten, immer so, dass es den entstehenden Clans zum Vorteil gereichte, deren materielle Interessen denen des ukrainischen Volks entgegengesetzt waren». Im Hintergrund wirken natürlich die Unterstützer NATO und USA – die «westliche Zivilisation». Schliesslich der Befreiungsschlag, das Ultimatum: «Von denen, die in Kiew die Macht an sich gerissen haben und sich an sie klammern, fordern wir, dass sie die Kampfhandlungen unverzüglich einstellen. Andernfalls lastet die gesamte Verantwortung für ein mögliches weiteres Blutvergiessen voll und ganz und ohne Einschränkung auf dem Gewissen des auf dem Territorium der Ukraine herrschenden Regimes. Ich bin mir sicher, dass ich mir bei den heute getroffenen Entscheidungen der Unterstützung der Bürger Russlands, aller patriotischen Kräfte des Landes, gewiss sein kann».  Nebenbei bemerkt, das typische Charakteristikum jeden autoritären Regimes: Befreiung von der Verantwortung eigener Taten. 

Russland muss nicht bloss vom ukrainischen Filz gereinigt werden, sondern von allem, was sich nicht in die «patriotische» Illusion integrieren lässt. Russische Propaganda spricht heute von «sanitären Zonen», die man durch Bombardierung ukrainischer Städte wie Charkiw einrichten wolle.  Sanitäre Zonen schützen vor Kontamination, vor Schädlingen, Krankheitskeimen. Bei den Nazis war das Ghetto eine solche Zone. Goebbels notiert 1939 in sein Tagebuch nach einem Besuch des Ghettos von Lodz: «Wir steigen aus und besichtigen alles eingehend. Es ist unbeschreiblich. Das sind keine Menschen mehr, das sind Tiere. Das ist deshalb auch keine humanitäre, sondern eine chirurgische Aufgabe. Man muß hier Schnitte tun, und zwar ganz radikale. Sonst geht Europa einmal an der jüdischen Krankheit zugrunde».

Nun gehört auch eine ukrainische Stadt zur Zone «ärztlichen Eingriffs». Der Fortschritt der Entmenschlichung ist unaufhaltsam. 

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Drittes Reich, MAGA, das historische Russland. Das Leitmotiv all dieser schönen Illusionen – es gibt mehr als diese drei - lautet, wie schon Lenin wusste: Für ein grosses Omelett muss man viele Eier zerschlagen. Der Wunsch, dass die Illusion wahr sei, übertrumpft in der Regel den Realitätssinn. Bannon ist (zur Zeit) weg vom politischen Fenster. Aber sein Gedankengebräu köchelt wohl in vielen Köpfen. Putins Problem dürfte sein, dass er seine megalomane Rechnung ohne eine grosse Zahl von «Bürgern Russlands» macht.  Was verschlägt es? Scheitert die Illusion an der Realität, dann hat die Realität der Illusion angepasst zu werden. Und zwar mit allen Gewaltmitteln. Sie stehen megatonnenweise zur Verfügung. Die Geopolitik macht die Erde zu einem einzigen gigantischen Waffenlager. Zu Diensten von Illusionen.





 


Montag, 6. Mai 2024

 


NZZ, 30.4.24

Wir schrecklichen Verallgemeinerer

«Alle Weissen sind Rassisten». Den Satz schrieb 2017 das Transgender-Model Munroe Bergdorf auf Facebook. Natürlich erhob sich umgehend ein Shitstorm. Man kann den Satz simpel, dumm, falsch, beleidigend, selber rassistisch finden. Das ist breitgetretener Quark. 

Interessanter ist der Satz als Symptom einer Denkdisposition: der falschen Verallgemeinerung. «Alle Weissen sind Rassisten» - wie viele Weisse kennt Munroe Bergdorf? Alle? Oder ist Munroe Bergdorf bisher einfach keinem nichtrassistischen Weissen begegnet? Wir stossen hier auf ein altes und vertracktes erkenntnistheoretisches Problem. Unser Urteil stützt sich ab auf eine endliche Zahl von Erfahrungen. Von welcher Zahl an sind wir berechtigt, «bottom up» zu generalisieren? Wir bilden gewöhnlich ein Urteil, bevor wir die nötige Evidenz dazu haben, mit Kant gesprochen: «Die Notwendigkeit, zu entscheiden reicht weiter als die Möglichkeit, zu erkennen».  

Wir generalisierenden Tiere können nicht nicht verallgemeinern. Wir tun das beinahe reflexartig. Und das heisst: Wir denken nicht nach, vor allem, wenn wir über andere urteilen. Munroe Bergdorf könnte sich auf Richard Wagner berufen. Er äusserte sich abfällig über Robert Schumann, und auf den Vorwurf, er kenne doch Schumann gar nicht zur Genüge, entgegnete Wagner mit dem Totschlagargument, wer alles kennen müsse, ehe er schimpfen dürfe, der würde nie zum Schimpfen kommen, und das sei nicht zumutbar. 

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Wagners Replik eignet sich geradezu als das Erkennungszeichen einer gegenwärtig beliebten Kommunikationsform, nämlich den Satz «Alle X sind …» zum Schimpfen, Canceln, Diffamieren verwenden. Eine Gruppe von Menschen in den Sack von «Gleichen» stecken, und wacker drauf-hauen. Dabei geht man in der Regel wie folgt vor: Man wählt ein paar Merkmale a,b,c .. aus, die man bei einer Gruppe X häufig beobachtet, und verallgemeinert dann hypothetisch: Alle X sind a,b,c.. Das erscheint auf den ersten Blick harmlos. Aber man kann der Verallgemeinerung einen tückischen Dreh geben, indem man sie als Wesensmerkmal der Gruppe auffasst. Dann verliert die Charakterisierung ihre Unschuld. Dann heisst es «Alle Weissen sind ihrem Wesen nach Rassisten». Man kann sie nicht ändern. Sie tragen den Rassismus als unauslöschliches Kainsmal auf sich. Unsere Geschichte ist voll von solch unseligen «Verwesentlichungen»: das Wesen des Juden, des Islam, des Zigeuners, der Frau, des Schweizers. Letzteres definierte ein Bundesrat einmal so: genau, pünktlich, solide, kein Blender. Mir persönlich fehlt so betrachtet das wesensmässig Schweizerische.

Es gibt die abgemilderte Version, den strukturellen Rassismus: Wer Teil eines gesellschaftlichen Systems ist, das Ethnien, Gender und was auch für Gruppen diskriminiert, ist selber Rassist, drehe und wende er sich, wie er will. Eine Journalistin schreibt kürzlich: «Ich bin Rassistin, weil es rassistische Strukturen gibt, und ich von denen profitiere». Das tun wir Weissen wahrscheinlich ausnahmslos, und so gesehen sind wir alle Rassisten. Irgendwie. Aber wie genau? Die Verallgemeinerung bedarf unbedingt einer Differenzierung, sonst verkommt sie zum Affichen-Moralismus, der gegenwärtig ohnehin grassiert. 

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Vom Schweizer Historiker Jacob Burckhardt stammt bekanntlich der Begriff «terrible simplificateur»:  schrecklicher Vereinfacher. Zu dieser Kategorie gehört erst recht der schreckliche Verallgemeinerer. Er hält seinen Denkhorizont – oft beschränkt genug – für die Welt, und was nicht in diesen Horizont passt, existiert nicht. Er will nicht falsifiziert werden, aus Mutwillen, Ignoranz oder Dummheit. Sein Blick ist getrübt vom intellektuellen grauen Star. Er sieht nur «den» alten weissen Mann, «den» Linken, «den» Klimaleugner, «den» Juden, nicht einzelne Personen. Dabei unterläuft ihm gar nicht so selten der Lapsus, dass er wider besseres Wissen allgemein urteilt. Niemand ist davor gefeit. Auch ein Autor wie Theodor Fontane nicht. Er sprach von den Juden als von einem «Volk, dem von Uranfang an etwas dünkelhaftes Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen» könne. Im gleichen Zug fügte er an: «All das sage ich (muss es sagen), der ich persönlich von den Juden bis diesen Tag nur Gutes erfahren habe».  

Jeder Mensch hat das Recht, ein Einzelfall zu sein. Und dieser Einzelfall verlangt den Effort zur Demontage von Verallgemeinerungen. Das Abstraktionsvermögen ist eine eminente intellektuelle Gabe und zugleich voller Hinterlist. Soll der Gebrauch des Satzes «Alle X sind ..» nicht zum argumentativen Kampfmodus degenerieren, verlangt er nach geistiger Reife und Redlichkeit. Ihr Erkennungsmerkmal: den Antagonismus zwischen zwei Denkvermögen aushalten, zwischen Verallgemeinerung und Unterscheidung. Nicht unterscheiden wollen ist eine subtile Form von Gewaltausübung. Wir erliegen ihr immer wieder.