Montag, 8. November 2021







NZZ, 5.11.2021


Der Mensch als Prothese seiner Prothesen

Von der smarten Bauchspeicheldrüse zur smarten Anatomie


Ein Entscheid des Obersten Gerichtshofs der USA erklärte vor nicht allzu langer Zeit den Dateninhalt der Handys zu einem schützenswerten Gut. Wie der Vorsitzende John Roberts begründete, sind Handys «zu einem allgegenwärtigen und beharrlichen Teil des Alltagslebens geworden, so-dass der sprichwörtliche Besucher vom Mars mutmassen könnte, sie seien ein wichtiger Teil menschlicher Anatomie.»


Die Technologie schreitet voran durch Miniaturisierung und Personalisierung: durch Anatomisierung, könnte man sagen. Wenn man vom Smartphone als von einem neuen Organ spricht, dann ist das eigentlich trivial. Technik verstärkt, verbessert, optimiert menschliche Fähigkeiten. Das können wir unverfänglich und generell feststellen, vom Faustkeil bis zum Computer. Die Anthropologen unterstreichen am Werkzeug den Aspekt, dass es sich um eine Fortsetzung oder Verlängerung menschlicher Organe handelt. Das griechiche Wort «organon» bedeutet «Werkzeug». Ganz offensichtlich sind zum Beispiel Hammer, Hebel oder Zange «Organe» im Sinne der künstlichen Weiterentwicklung der motorischen Fähigkeiten unserer Arme und Hände. Weniger trivial erscheint die Umkehr: Wir adaptieren unseren Organismus an den neuen Körperteil. In dem Verhältnis, in dem wir menschliches Vermögen an Artefakte delegieren, verlagern wir das künstliche Vermögen der Artefakte in uns hinein. Wir inkarnieren quasi die von den Geräten vorgegebenen Verhaltensweisen, Rhythmen und Normen.


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Der amerikanische Religionswissenschafter und Autor Mark C. Taylor leidet an Diabetes. Seine Bauchspeicheldrüse produziert nicht das lebenswichtige  Insulin. Er trägt deshalb eine künstliche Bauchspeicheldrüse – im Wesentlichen ein Glukosesensor und eine Insulinpumpe - , welche ihn mit dem Stoff versorgt. Der Algorithmus dieses künstlich intelligenten (KI) Systems intergriert sich in die üblichen Körperabläufe und reagiert permanent auf den Glukosepegel, den ihm die Sensoren melden. Die Daten werden überdies ins Netz geladen, so dass sie der Hausarzt, die Instrumentenhersteller - und wer auch immer - sie  einsehen können. Funktioniert die Pumpe, er-hält Taylor gerade die angemessene Dosis Insulin, funktioniert sie nicht - oder wird sie gehackt -, riskiert er den Tod. 


KI-Anatomieteile entwickeln sich immer mehr zum Standard der modernen Prothetik. Sie basieren auf sechs revolutionären Schritten der Computertechnologie, als da sind: Hochgeschwindig-keitsprozessoren, riesige Datenmengen, drahtlose Netze, Miniaturisierung mobiler Geräte, Verbilligung, und nicht zuletzt Paradigmenwechsel in der KI-Forschung, sprich:  Übergang zu lernenden Maschinen. Ein blühender Industriezweig.


Die künstliche Bauchspeicheldrüse ist nur ein Beispiel dieses fortlaufenden Prozesses. Es hat sich eingebürgert, ihn als Internet der Dinge zu bezeichnen, ein sich verdichtendes Netz smarter  interagierender Geräte also, die im Übrigen eine von uns unabhängige «ubiquitäre» Bit-Kommunikation unter sich  führen können. So gesehen erhält die künstliche Bauchspeicheldrüse ihren spezifischen Ort in einem technischen Kosmos, und sie zieht ihren Träger in diesen Kos-mos hinein. Dinge und Personen verbinden sich auf intime Weise. Mark Taylors KI-Bauchspeicheldrüse «ist» Mark Taylor: «Diabetes hat mich gelehrt, dass ich nie nur ich selbst bin, sondern stets auch anderes als ich. So wie meine Pumpe und ich einander kennen und miteinander leben lernen mussten, so habe ich entdeckt, dass mein Körper über sich selbst hinaus-reicht.»


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Es lohnt sich, über diese identitätsphilosophische Feststellung etwas weiter nachzudenken. Gewöhnlich betrachten wir die Haut als natürliche Grenze, die das Ich «drinnen» von der Welt «draussen» separiert. Das ist allerdings zu simpel physisch gedacht. Die Haut meiner Hand zum Beispiel bildet die Grenze zur Umgebung; aber meine manuellen Aktivitäten bringen meine Hand in zahlreiche taktile Kontakte mit Objekten der Umgebung: ich ergreife sie, drücke sie, ziehe an ihnen, liebkose sie. Dadurch wohne ich ihnen gewissermassen ein. Das geschickte Umgehen mit Werkzeugen, Musikinstrumenten oder Sportgeräten beruht wesentlich auf diesem «Einwohnen»: dem «Ich-Werden» der Objekte. Ich befinde mich immer auch «draussen», in den Dingen, oft intensiver, als mir das bewusst ist. Nun beginnen wir auch in den elektronischen «wearables» einzuwohnen, und es ist nicht abwegig, sie als erweiterte Anatomie zu betrachten. Denkbar ist im Besonderen, dass sie künftig aus organischer Materie bestehen werden, und sich so gesehen im-mer weniger vom Stoff unterscheiden, aus dem wir «gemacht» sind. 


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Wir leben zusehends in einem natürlich-künstlichen Internet der Körper. Die KI-Bauchspeicheldrüse ist vernetzt mit anderen natürlich-künstlichen Entitäten, und in diesem Netz findet eine neuartige Evolution statt. Taylor nennt sie Intervolution. Im Gegensatz zur Evolution, die sich wesentlich in der Zeit abspielt, ist die Intervolution ein Prozess der «echtzeitlichen» Verschränkung, des Ineinandergreifens von natürlichen und künstlichen «Lebensformen». Das globale Netzwerk, das entsteht, bildet die biotechnische Infrastruktur für unsere künftige körperliche und kognitive Entwicklung. Ein Prozess der Verinnerlichung der Werkzeuge und der Veräusserlichung unserer Körper.


Eine solche Intervolution ist nicht unproblematisch. Denn wenn ich mein Ich quasi in die künstlichen Organe auslagere, dann verteile ich mein Ich im Netz. Die Bauchspeicheldrüse von MarkTaylor hinterlässt Datenspuren im Internet der Körper, die gelesen werden können und möglicherweise Rückschlüsse auf die Identität erlauben. Anhand von Smartphonedaten lässt sich schon heute ziemlich genau feststellen, wo ich mich aufhalte oder aufgehalten habe. Die App kann zur Trap, zur Falle, werden. Die einschlägige Techno-Industrie befindet sich in einem entfesselten Wettbewerb. Sie entwickelt unentwegt eine mobile Armatur aus smarten Fitbitarmbändern, Hautpflastern, Textilien und anderen «wearables», die  Informationen über Herzaktivität, Blutdruck, Körperfett, Atmung, Schlafmuster, Essgewohnheiten, ja, sogar über unsere Stimmung aufzeichnen und übermitteln können. Die KI-Systeme ermöglichen immer raffiniertere Implantate. In der Medizintechnologie arbeiten die Ingenieure an smarten Pillen mit Mikrokameras, um eine Darmspiegelung durchzuführen. Man extrapoliere ein bisschen und stelle sich vor, wir be-sässen künftig eine smarte künstliche Anatomie aus Implantaten, die permanent auswertbare Daten ausstrahlen –  wir mutieren zu Cyborgs mit einer intelligenten Prothetik, die sich zunehmend verselbständigt. Vernetzte Körper, die immer online sein werden, 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche, 52 Wochen im Jahr: 24/7/52-Körper. 


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Es ist kaum abzusehen, wohin diese Anthropotechnologie führt. Schon jetzt lässt sich sagen: Sie verändert Körper und Geist. Sie bringt nun erst zur vollen Entfaltung, was einer der originellsten Denker des 20. Jahrhunderts, Gregory Bateson, vor fünfzig Jahren die «Ökologie des Geistes» nannte. Diese Ökologie umfasst auch das Künstliche. Die intelligenten Artefakte ziehen mich in einen über mich hinausreichenden «kognitiven Loop» hinein. Als «grösseren Geist» bezeichnete ihn Bateson. Und dieses «Über-mich-Hinausreichende» muss man buchstäblich lesen: als Transzendenz der neuen Technologien.  Sie werden zunehmend unbegreiflicher. Das Internet der Dinge und Körper «intervolviert» mit einer Rasanz, die uns schon heute über den Kopf wächst. Bateson warnte, es läge in unserer Macht, in der umfassenden Ökologie eine «Geisteskrankheit» zu erzeugen, deren Teil wir selbst sind. Das mag etwas dramatisiert klingen. Aber wir erleben eine Dialektik der Prothese. Je intelligenter sie wird, desto unintelligenter drohen wir zu werden. Der Mensch entwickelt sich vom Freudschen Prothesengott zur Prothese seiner Prothesen. Und es ist nicht gerade ein Trost, zu konstatieren, dass wir erst am Anfang dieser Entwicklung stehen. 



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