Mittwoch, 13. Oktober 2021






NZZ, 9.10.2021



Die reale Welt ist alles, was nicht ins Modell passt

«Die Welt ist alles, was der Fall ist» - so lautet einer der rätselhaft banalen Sätze Ludwig Wittgensteins. Aber was ist der Fall? Was heisst das überhaupt? Ich nähere mich dieser Frage aus einer ganz alltäglichen Situation heraus. Angenommen,  ich komme zur Bushaltestelle und sehe gerade den Bus wegfahren. Er fährt alle zehn Minuten. Also warte ich, denn ich weiss, dass in den nächsten zehn Minuten wieder einer kommt. Nach zehn Minuten noch kein Bus. Nach einer Viertelstunde werde ich nervös. Zurecht. Meine Erwartung richtet sich nach einem simplen Modell, der Verlässlichkeit des Fahrplans. Und weil meine Erwartung sich nicht erfüllt, muss etwas geschehen sein: der «Fall» sein. Vielleicht gab es einen Unfall, hatte der Fahrer einen Schwächeanfall oder die Fahrleitung ist defekt. Ich könnte eine lange Liste von Erklärungsmöglichkeiten auf-stellen -plausible und unplausible - und nach zwanzig Minuten sehe ich mich nach einer anderen Verkehrslinie um. 


«Etwas ist geschehen» - das heisst, so betrachtet: etwas passt nicht ins Modell. Die Welt verhält sich anders als erwartet. Sie enthält ein unabdingbares Moment der Ungewissheit. Nur der Fahr-plan suggeriert Gewissheit. Aber sie täuscht. Bereits hier kommen zwei Grundarten des Unbekannten ins Spiel: das bekannte und das unbekannte Unbekannte. Ersteres bezieht sich auf variable Grössen des Modells, die man mit dessen Mittel berechnen kann; Letzteres auf weitere mögliche Variablen, die das Modell nicht berücksichtigt.  Jeder Modellbauer ist gefasst darauf, dass neue Daten – das Ausbleiben des Busses – nicht ins Modell passen. Er kann diesem Problem – den beiden Kategorien des Unbekannten entsprechend  - auf zwei Arten begegnen. Er analysiert die neuen Daten innerhalb des Modells (als «Anomalien»); oder er betrachtet die Daten als Beurteilungsinstanz des Modells selbst (als «Falsifikationen»). Das ist eine haarigere Angelegenheit als man vielleicht fürs erste vermutet. Denn sie verlangt eine Entscheidung aufgrund der Interpretation der neuen Daten. Und so einfach sind die Interpretationen meist nicht. 


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Zum Beispiel in der Finanzwirtschaft. Auch in ihr handelt man nach «Fahrplänen». Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts favorisierte ein Modell, nach dem sich das Kreditrisikomanagement als ein geschlossenes, klar definiertes und berechenbares Problem betrachten lässt – als eine Frage, wann der Bus kommt. Wie in allen Modellen spielen gewisse Grundannahmen eine tragende Rolle. So gehen diese sogenannten Value-at-Risk-Modelle zum Beispiel von einer Normalverteilung der Kapitalerträge aus, was man dahin vereinfachen kann, dass zukünftige Finanzschwankungen sich grosso modo als Wiederholungen früherer konzipieren lassen. Wenn der Bus bisher regelmässig verkehrte, dann auch fortan. Bloss «geschah» 2008 auch im Finanzsektor et-was. Die Risikomodelle der Finanzinstitutionen sagten eine geringe Wahrscheinlichkeit für grosse Verluste voraus, dies aber unter der Voraussetzung, dass alles «normal» verläuft. Was jedoch gerade nicht der Fall war, weil Faktoren eine Rolle spielten, die man in den Modellspielereien nicht berücksichtigte.


Da gerade von Spielen die Rede ist: Lange hätschelten Ökonomen und Politologen die Idee, man könne mit mathematischen Modellen der Spieltheorie «rationale» Gründe für wirtschaftliche und politische Entscheidungen finden. Der amerikanische Ökonom Thomas Schelling etwa genoss im Kalten Krieg die Reputation eines Grossstrategen und «Kriegsspielers», der mit der  schlagenden Logik seiner Modelle die globalen Konflikte zu lösen suchte. Im Besonderen empfahl er den «Fahrplan» der iterierten Bedrohung während der Kubakrise. Aber auch hier «geschah» etwas. Die Welt passte nicht in Schellings Modell mit seinen kalibrierten und kalkulierten Risiken. Irrtümer und Fehlwahrnehmungen überwogen. Man navigierte sozusagen mit einer falschen Karte durch tückische Gewässer. Und es ist wahrscheinlich nicht übertrieben, zu behaupten, dass die Politiker sich zum Glück «irrational» und nicht modellgerecht verhielten. Der Titel eines Buchs  über die Kubakrise sagt eigentlich alles: «How Reason Almost Lost Its Mind».


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Wer sich schon einmal mit abstrakten rechnerischen Modellspielereien verlustiert hat, kennt den Zauber, wenn die Welt in Gedanken sich so fügt, wie man sie gerne hätte.  Man spielt Weltgeist. Zauber und Gefahr liegen allerdings nahe beieinander. Dem Zauber, dass uns im Modell die Welt überschaubar, voraussehbar, berechenbar erscheint, steht die Gefahr entgegen, dass man die Welt für das Modell hält: Realitätsverlust. Solange man es bei Gedanken- oder Laborexperimenten belässt, ist das relativ harmlos. Aber sobald man zum Beispiel eine Gesellschaft oder eine Wirtschaft als Versuchsanstalt ansieht, hört die Harmlosigkeit auf. 


Betrachten wir zum Beispiel einen in den Verhaltenswissenschaften beliebten Experimentiertypus: Man setzt Probanden – meist Studierende -  in eine spezifische abgeschlossene Spielsituation, zum Beispiel im Ultimatumsspiel. Es beginnt damit, dass  Spieler A einen Vorschlag macht, wie ein Geldbetrag zu teilen sei. Diesen Vorschlag muss Spieler B annehmen oder ablehnen. Einigen sie sich nicht, bekommt keiner etwas. Vernünftigerweise müsste B jedes Angebot akzeptieren, denn irgendein Teilbetrag ist besser als keiner. Aber die meisten Probanden lehnen ein An-gebot unter 15 Prozent als unfair ab. Im Durchschnitt gibt A etwa 30 Prozent an B ab. Ein grosser Teil der Spielverläufe endet damit, dass A und B sich auf die Hälfte einigen, was aber nicht ins Modell «rationalen» Handelns passt. Ökonomische und politologische Spieltheoretiker neigen allerdings dazu, das als «rational» zu bezeichnen, was ihren Modellen und deren Annahmen entspricht, etwa die Maximierung des Eigennutzens. Aber im Realfall sind die Absichten oder Motive der Akteure nie klar und eindeutig definiert. Der Modellbauer unterstellt also seinen Versuchskaninchen hypothetische Intentionen und ersetzt das reale Problem durch ein konstruiertes. Das ist durchaus ein vertretbares experimentelles Manöver. Es hat freilich seine Tücken. Man fühlt sich an die klassischen mathematischen Probleme erinnert: Nicht alles lässt sich mit Zirkel und Lineal konstruieren. Wir müssen weitere Instrumente hinzufügen, und mittlerweile verfügen die Modelle über ein derart raffiniertes Instrumentarium, dass sie uns dazu verführen, Probleme modelladaptiert zu «frisieren». Nicht das Problem bestimmt dann die Methode, sondern die Methode das Problem. 


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All dies spricht nicht gegen Modelle, sondern für eine kritische Erkundung ihrer Grenzen. Von Friedrich A. von Hayek stammt der kluge Satz: «Es könnte sich als die bei weitem schwierigste (..) Aufgabe der menschlichen Vernunft erweisen, ihre eigenen Grenzen rational zu begreifen.»  Erst an diesen Grenzen erschliesst sich uns die reale Welt. Sie ist eine verdammt vertrackte Sache. Unsere Intelligenz muss, um diese Vertracktheit zu verstehen, notwendig viele Details vergessen, sprich: Modelle bauen. Aber Modellbau ist inhärent paradox. In einschlägigen Kreisen spricht man vom Bonini-Paradox, nach dem Management-Wissenschafter Charles Bonini: Je realistischer ein Modell, desto unverständlicher ist es. Man muss immer mehr Details als Parameter einbeziehen, bis man den Überblick verliert. Die Organisationsforscher William Starbuck und John Dutton formulierten es so: «Wenn ein Modell realistischer wird, wird es ebenso schwierig zu verstehen, wie der reale Prozess, den es repräsentiert.» Der reale Prozess ist also letztlich das, was man nicht vollständig versteht, was nicht ins Modell passt. Dieses Paradox hat Schriftsteller immer wieder fasziniert, etwa Lewis Carroll, Jorge Luis Borges oder Umberto Eco: Eine Karte der Welt im Massstab 1:1 wäre eben keine Karte mehr, sondern die Welt selbst. Also unbrauchbar.


Es gibt den Witz über den Spieltheoretiker, der sich mit einem Kollegen in der Savanne aufhält. Ein Löwe kommt auf sie zu. Der Spieltheoretiker packt sein iPad aus, berechnet die optimale Strategie. «Du bist verrückt, wir haben dazu jetzt keine Zeit!» entsetzt sich sein Kollege. «Keine Sorge,» erwidert der Spieltheoretiker, «der Löwe muss doch auch zuerst seine optimale Strategie ausklamüsern.»  Ein typisch menschlicher Irrtum: Der Welt ist unsere Rationalität schnuppe. 




 


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