Freitag, 18. Januar 2013

Der Pistolen-Bürger


NZZ, 18.01.2013


Der moderne Staat besitzt das Gewaltmonopol. Seine Bürgerinnen und Bürger dürfen Gewalt nur in Situationen der Notwehr oder der Nothilfe anwenden. Sollten sie auch Schusswaffen haben und auf sich tragen dürfen? – Das ist nicht nur eine Frage des Rechts.

Schusswaffen sind Mittel der Gewaltausübung, und insofern etablieren sie – um ein Argument Hannah Arendts leicht abzuwandeln – eine Hierarchie. Der Mensch ohne Schusswaffe ist oder fühlt sich einem Menschen mit Schusswaffe in vieler Hinsicht unterlegen. Früher oder später wird er wahrscheinlich das Bedürfnis verspüren, dieses Ungleichgewicht zu beheben und sich nun selber zu bewaffnen. Dieses Gleichgewicht ist aber labil. Wenn alle Bürgerinnen und Bürger Schusswaffen auf sich trügen, würde der Alltag dadurch nicht sicherer, im Gegenteil. Die Logik solchen individuellen Aufrüstens schafft vielmehr eine neue Konkurrenzsituation (einen «Markt») und den Wunsch, mehr Waffen oder die bessere Waffe zu haben, schneller zu sein; überhaupt entstünde ein Wettlauf des präemptiven Handelns, der Alarmbereitschaft, des Sich-Vorteile-Verschaffens: eine Kaskade sich fortsetzender Ungleichgewichte, welche die Sicherheit im Ganzen immer mehr unterhöhlte.

Fragmentierte Gesellschaft
Die Privatisierung der Sicherheit, die in den Vereinigten Staaten weit vorangeschritten zu sein scheint, fragmentiert die Gesellschaft auf ihre Weise. Minoritäten oder diskriminierte Gruppen entdecken auf einmal ihr spezifisches Sicherheitsbedürfnis. Schwule und Lesben gründen «Pink Pistols»-Klubs, in denen der Schusswaffengebrauch gelernt und geübt wird, um sich gegen «gewalttätige Bigotte» zu schützen. In Texas wurde die grösste Zunahme verdeckt getragener Schusswaffen bei afroamerikanischen Bürgerinnen registriert. Griffe die Entwicklung weiter um sich, wären wir bald in jener freien Wildbahn, die einst Thomas Hobbes in seinem klassischen Werk «Vom Bürger» (1642) als vorstaatlichen Kampf eines jeden gegen jeden beschrieben hat. Hobbes forderte bekanntlich die Schutzmacht eines überindividuellen «Leviathan», eines Staates, dem die Bürger das Gewaltmonopol überantworten, um nicht ein Leben im «elenden und abscheulichen» Naturzustand fristen zu müssen.
Dieses Monopol wird regelmässig herausgefordert. Verbot von Angriffswaffen, Magazine mit kleiner Kapazität, eingehendere persönliche Überprüfung beim Waffenkauf: Jede solche «Schikane» kontern die Freiheit-dank-Waffe-Apologeten mit ominösen (weniger freundlich: paranoiden) Anspielungen auf eine «despotische» Staatsmacht und deren heimliche Absicht, die Bürger durch solche Massnahmen zu «tyrannisieren». Anlässlich einer Rede Obamas im Jahre 2009 bekundete ein protestierender Mann sein Missfallen auf einem Poster mit dem Spruch «Zeit, den Baum der Freiheit zu giessen». Die Freiheit, die er meinte, gab sich ganz offen als Pistole im Bein-Holster zu erkennen. Der Spruch ist einem Zitat von Thomas Jefferson entlehnt. Dessen voller Wortlaut sagt alles: «Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen begossen werden.» War sich der Mann bewusst, dass er implizite zum Mord aufrief?
Man vernimmt oft, dass private Schusswaffen die Grundversicherung der Freiheit seien, ein Verbot deshalb dem fundamentalen Recht des Individuums auf Selbstverteidigung zuwiderlaufe. Die Logik ist einfach: Sicherheit gleich Selbstverteidigung; Selbstverteidigung gleich Selbstverteidigung mit Schusswaffen; also: Sicherheit gleich Schusswaffenbesitz. Ein unbezwingbares Argument – wären die Prämissen richtig. Sie sind es nicht. Pistolen sind nur eines der möglichen Mittel der Selbstverteidigung, und Selbstverteidigung allein schafft keine – dauerhafte – Sicherheit. Man verwechselt ein fundamentales Recht (Sicherheit) mit einem partikularen Recht (Waffenbesitz). Man kann das Grundrecht des Bürgers auf Sicherheit auch dann respektieren, wenn man dem Bürger ein partikulares Recht aberkennt. Man kann jenes Grundrecht sogar dadurch sichern, dass man dies tut – vorausgesetzt, der Staat besitzt das Gewaltmonopol. Und das Vertrauen seiner Bürger.
Private Schusswaffen unterminieren das Gemeinwesen, die res publica. Die Reaktion von Eltern auf «Schulmassaker», ihre Kinder nicht mehr in öffentliche Schulen zu schicken, ist nachvollziehbar. Man stelle sich nur einen Augenblick lang das soziale Klima eines Alltags vor, in dem man ständig auf dem Quivive ist, in Schulen, Rathäusern, Kirchen, Restaurants, Einkaufszentren, öffentlichen Verkehrsmitteln. Die allgegenwärtige Präsenz der Waffe – ob offen oder verdeckt – sät Befürchtungen, Ahnungen, Verdächte, Misstrauen: korrosive emotionale Kräfte also, die ein ziviles und demokratisches Zusammenleben zersetzen.
Privater Waffenbesitz begünstigt den Rückzug in extreme Vereinzelung. Die Polizei, die Nationalgarde, das Gesetz bin ich. Sind Amokschützen wie Adam Lanza in Newtown, James Holmes in Aurora, Anders Breivik in Utöya nicht geradezu Extrembeispiele eines pervertierten Individualismus: des isolierten, introvertierten, an der Grenze zum Pathologischen lebenden, gewaltbereiten, bewaffneten Individuums? Je «atomisierter», desto mehr Feinde sieht dieser Mensch um sich herum, gegen die er sein bewaffnetes Dispositiv aufziehen muss. Peter Hans Kneubühl, der gewalttätige Schweizer «Eigenbrötler», schrieb in seinem Tagebuch: «Sie wollen mich vernichten, ich weiss nicht warum, es gibt jetzt keinen Menschen mehr, der zu mir steht.»


«Menschen töten, nicht Waffen»

«Es sind Menschen, die töten, nicht Waffen», sagen die Befürworter des privaten Schusswaffenbesitzes. Das ist ihr Axiom. Und darin spiegelt sich eine vorherrschende Ansicht über Technik: Waffen im Besonderen, Geräte im Allgemeinen sind willfährige Dinge, gefügige Artefakte. Die Waffe selbst tut nichts. Sie dient. Sie ist eine «Ordonnanz», ein neutrales Medium, das eine Absicht vermittelt: zu drohen, zu schützen, zu imponieren, zu töten. Sie wird böse in den Händen von bösen Menschen; sie wird gut in den Händen von guten Menschen. Nur die Absicht kann moralisch beurteilt werden, nicht das Medium. Diese Vorstellung bedarf dringend einer Revision, die auch die Grundfesten unseres Menschenbildes betrifft. Der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour spricht von einem «symmetrischen» Verhältnis von Mensch und Technik: Der Mensch macht nicht nur die Artefakte; die Artefakte machen auch ihn. So gesehen macht die Pistole im Holster aus dem Bürger einen Pistolen-Bürger. Beide, Benutzer und Waffe, formieren sich, kurz gesagt, zu etwas Neuartigem, zu einem «Hybrid», wie Latour dies nennt.
Es gibt deshalb auch nicht die simple Unterscheidung von «richtigen» und «falschen» Händen, in die Waffen geraten. Auf die Frage «Wer tötet, die Waffe oder der Mensch?» gibt Latour eine auf den ersten Blick eigenartige Antwort: «Jemand anderes [. . .] Mit der Waffe in der Hand bist du jemand anderes, und auch die Waffe ist nicht mehr dieselbe [. . .] Weder Menschen noch Waffen töten.» Vielmehr müsse die Verantwortung auf beide Seiten «verteilt» werden.
Selbstverständlich soll eine solche «Verteilung» nicht als Entschuldigung von Untaten interpretiert werden. Auch nicht als Absage an Studien, die uns das psychologische, psychopathologische, soziologische, kulturelle und historische Klima der Inkubation solchen Wahnsinns einsichtiger machen. Aber dadurch, dass man die Anthropomorphisierung der Waffe und die Dämonisierung des Waffenträgers vermeidet, kommt ein anderes, fundamentaleres Problem zum Vorschein, nämlich die Metamorphose des Menschen in den technisierten Lebensformen. Wie sich die Einsicht in dieses Problem in einer künftigen Rechtsprechung auswirken wird, muss hier dahingestellt bleiben. Aber auf jeden Fall ist der soziale Akteur nicht mehr einfach der Bürger, sondern der Bürger in der ganzen Fahrhabe seiner «persönlichen» Instrumente. Die technischen Artefakte haben sich von ihrem Ordonnanz-Status emanzipiert. Sie nisten sich in unserer Psyche ein, sie bestimmen unser Handeln, sie bestimmen die Politik mit. Nicht die Pistole ist das Gefährliche, sondern die Tatsache, dass sie schliesslich zu meiner Identität gehört.


Ein Warnschild

Mit der Beschwichtigung, die Amerikaner seien eben Waffennarren, macht man sich die Sache zu leicht. Wir Schweizer haben auch eine alte Schützentradition, und wir neigen in diesem Zusammenhang gern zur Selbstbeglückwünschung. «Wir trauen dem Bürger zu, dass er eine Waffe verantwortungsvoll zu Hause haben darf», sagte vor nicht allzu langer Zeit ein CVP-Politiker. Man wünscht sich, dass er recht hat. Die Schweiz ist keine Gesellschaft von Waffen-Bürgern, sondern von Bürgern, von denen einige gegebenenfalls zur Waffe greifen. Aber das ist kein Grund zur Beruhigung, sondern im Gegenteil, gerade nach der Ablehnung der Waffeninitiative vor zwei Jahren, ein Appell zur Wachsamkeit. Die USA waren in mancher Hinsicht das grosse Vorbild. Nun sind sie das grosse Warnschild, das sagt: Eine Gesellschaft, die aus lauter armierten Individuen besteht, ist keine zivile und offene Gesellschaft freier Menschen mehr. – Ein freier bewaffneter Mensch ist ein Widerspruch in sich.

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