Freitag, 30. September 2022

 





NZZ,29.9.22



Ich bin weder dafür noch dagegen – ganz im Gegenteil



Bist du dafür oder dagegen?  Transphil oder transphob, vegan oder nichtvegan, regulierten oder deregulierten Markt, Impfen oder Nicht-Impfen, Waffenlieferung an die Ukraine oder nicht? Der Imperativ des Positionsbeziehens ist endemisch. Aber vergessen wir nicht das Gegenteil des Entweder-oder,  das Weder-noch. Und darauf verweist der Wortstamm von «neutral»: keines von beiden. Man verbindet damit gern die Haltung des Ausweichens, Zauderns, Lavierens. Roland Barthes, Autor der berühmten «Mythen des Alltags», zählte das Weder-noch-Denken seiner Zeit zu diesen Mythen. «Ninisme» nannte er es («ni.. ni..»). Er meinte damit ein Denken, das sich dank eines «mythischen» neutralen Standpunkts über den damaligen Konflikten zwischen links und rechts als erhaben wähnt: «Man wägt Methoden mit der Waage ab, belädt ihre Schalen nach Gutdünken, um sich selber als unbelasteter Schiedsrichter betrachten zu können (..) Schon möglich, dass unsere Welt zweigeteilt ist, doch man kann sicher sein, dass über dieser Spaltung kein neutraler Gerichtshof waltet: keine Rettung für die Richter, sie sitzen im gleichen Boot». 

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Das binäre Denken in Antagonismen hat einen beeindruckenden philosophischen Stammbaum, von Heraklit über Marx und Nietzsche, Darwin und Freud, Carl Schmitt und Michel Foucault bis zu aktuellen rabiaten Rassismusklischierern vom Schlag eines Ibram X. Kendi. Man entzieht sich dem Griff dieses Denkens nicht. Und trotzdem: Hat man in einem Gespräch mit jemandem, der uns einen binären Positionsbezug aufdrängte, nicht schon den stillen Drang verspürt, sich diesem «Übergriff» zu entziehen, indem man auf ein anderes Thema ausweicht, ausdrucksvoll schweigt oder schlicht einen anderen Gesprächspartner sucht. Das gilt nicht gerade als argumentativer Comment, gewiss. Aber man kann so zu verstehen geben, dass man das ganze Setting des Gesprächs unterläuft: Ich lasse mich nicht in ein Entweder-oder-Schema zwingen. Ich repliziere also nicht in einem Diskurs, sondern weise den Diskurs selbst zurück. 

Ich bekunde damit einfach die Absicht, eine Gesprächsform zu finden, die nicht immer gleich Konflikt, Konkurrenz, Kampf fordert. Und damit stösst man auf eine tiefe Problemader. Wie Barthes bemerkt: «Insgesamt scheint mir die abendländische Tradition darin problematisch: nicht dass sie entscheidet, dass (…) die Welt konflikthaft ist, sondern: dass sie aus dem Konflikt eine Natur und einen Wert macht». In der Tat. Ständig hören wir, Leben sei ein anhaltender Kampf, eine Kakophonie disparater Meinungen, von denen eine schliesslich triumphieren müsse. Diese Sicht huldigt dem Kämpfer, dem Siegeswilligen, dem Aktivisten. Der Neutrale erscheint dagegen als Weichdenker, als intellektuelle Molluske.

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Es gibt einen anderen, einen beklemmenden Aspekt der Neutralität, der uns existenziell betrifft. Man kann über mich eine noch so lange Liste persönlicher Eigenschaften aufstellen, es bleibt immer ein wesentliches Rest-Ich. «Ich bin nicht Stiller». Ich bin nicht auflistbar. Ich bin weder der noch der noch der noch der … Das ist gerade im Zeitalter der zusehends potenteren Überwachungstechnologie eine eminent politische, eine subversive Aussage. 

Die heutigen technikkonformen Konzepte der Identität reduzieren die Person auf das algorithmisch «lesbare» Individuum, das in ein eindeutigs Kategorienprofil passt. Gewiss, wir müssen im Beruf, im öffentlichen Alltag, ja, sogar im privaten Zuhause oft so tun, als wären wir solche Individuen. Aber durch die Einsicht, dass wir sie nicht sein können, gewinnen wir nicht nur an Authentizität, sondern widersetzen uns dem unterschwelligen Zwang zur Identifizierung durch über-griffige Erkennungstechnologien. Hinzu kommt, dass viele, mittlerweile erschöpft vom unablässigen Bombardement der Fragen «Wer bist du?», «Wo stehst du?», sich nach «neutralen» Orten des Unausgesprochenen sehnen, wo sie weder dafür noch dagegen sein müssen, und wo das Nichtwissen, wer sie sind, ihnen nicht ständig als Schuldlast anhängt. Wir verlangen ein Grundrecht auf das Uneindeutige, das Nicht-so-sein: auf das unauslotbare «Neutrum», das jede Person ist. Selbstverständlich indentifizieren wir uns immer leichter mit gewissen Personen als mit anderen. Der Neutrale ist sich dessen bewusst, aber er kämpft zugleich gegen die Reduktion der Per-son auf ein bestimmendes Merkmal – sprich: gegen die Logik des Rassismus. 

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Zweifellos gibt es Situationen, die keine Uneindeutigkeit dulden. Besonders heute nicht. Aber auch Neutralität definiert sich immer aus bestimmten Situationen. Sie bedeutet, dass man nicht einfach in der Situation denkt, sondern sie buchstäblich über-denkt. Leben erlaubt kein Unentschieden. Freilich muss man sich nicht immer presto entscheiden. Gebietet die Situation tatsächlich nur das harte Entweder-oder? Oder findet man gerade durch das hinhaltende Weder-noch eine neue Perspektive? Nichts hasst der Neutrale mehr als den erzdummen Satz «There is no alternative».

Neutralität ist auch der Appell zu einem Ethos der Kooperation, in dem Sinn, dass er uns anhält, Konfrontation wenn möglich zu vermeiden. Ein lebenspraktisches Prinzip drückt diese Neutralität sehr schön aus: Fünf gerade sein lassen. Wer fünf gerade sein lässt, bekundet ein spezifisches Vermögen: Abstraktion. Der Unterschied zwischen geraden und ungeraden Zahlen lässt sich nämlich aufheben, wenn man sie als ganze Zahlen betrachtet. «Vereinigungsmenge» nennt das die Mathematik. Ein ungemein wichtiges Prinzip des Zusammenlebens. Man abstrahiert gelegentlich davon, ob man «gerade» oder «ungerade» ist: alt oder jung, weiss oder schwarz, Mann oder Frau. Man begegnet Menschen als «ganzen» Menschen, unter einer neutralen Oberkategorie. Man könnte sie «Person ohne Eigenschaften» nennen. 

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Wir sind immer Partei: für oder gegen etwas. Das ist nicht das Problem. Das Problem lautet: Wo-für oder wogegen genau? Man entdeckt durch solch beharrliches Nachfragen nicht selten erst seine eigene Parteilichkeit. Man findet vielleicht heraus, dass an der gegnerischen Meinung ja durchaus etwas dran ist, oder dass die eigene Meinung sich als nicht so stichfest erweist wie an-genommen. Man «neutralisiert» sich also, indem man Meinungsspannungen abbaut: entpolarisiert. Das ist das Bestcase-Szenario. Leider neigen wir zum Worst Case. Studien über die kollektive Dynamik im Internet zeigen deutlich ein Schwarmverhalten: Polarisierung als systeminhärenten Effekt. Wenn sich in sozialen Netzwerken verschiedene Meinungscluster bilden, dann verringert sich der neutralisierende Austausch zwischen ihnen. Konfrontiert man Probanden eines Clusters mit anderen Meinungen, tendieren sie zur Verfestigung ihrer eigenen Meinung. Dadurch bauen sich Meinungsspannungen zwischen verschiedenen Echokammern eher auf, was zu einer verstärkten Radikalisierung der Lager führen kann: Man lehnt nicht nur die andere Meinung ab, sondern mit ihr gleich die Andersmeinenden –  man begegnet ihnen mit Voreingenommeheit, Unverständnis, Hass. The medium is the massacre. 

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Und dieser Kampfmodus markiert die Schwelle zum Krieg. Die Regeln der Neutralität sind für die Kriegssituation bestimmt. Es bedürfte ihrer auch für die sogenannte Friedenssituation. Mitunter beschleicht einen das Gefühl, auch im Zivil seien wir heute Krieger. Wir lesen von «Kulturkrieg», «Wissenschaftskrieg», «Energiekrieg», «Corona¬krieg», «Identitätskrieg», «Genderkrieg», «Gesinn-nungskrieg» in sozialen Medien. Und man stellt sich fast unweigerlich die Frage, ob der Frieden die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sei - ein Kriegfrieden. Die Inquisition der Wo-keness zwingt einen permanent in das Lager des Richtigen oder Falschen. Adolf Muschg bemerkte neulich in einem Interview, das Entweder-oder-Prinzip verstehe keinen Spass. Genau dagegen wehrt sich der Neutrale als Partisan des Dazwischen. Er pflegt einen besonderen Spass: er ist wissbegierig, reflektierend, anti-reduktionistisch, offen für Argumente anderer Positionen –  kurz, er denkt.










Sonntag, 25. September 2022










Der alte Mann und der Tisch

Peter Bichsel meets Saul Kripke



«Warum heisst das Bett nicht Bild», fragte sich der alte Mann in Peter Bichsels Kurzgeschichte «Ein Tisch ist ein Tisch». Eine eminent philosophische Frage. Sie bewog den alten Mann zu einer radikalen Umdeutung der Wörter. «‚Jetzt ändert es sich’, rief er, und er sagte von nun an zu dem Bett ‚Bild’. ‚Ich bin müde, ich will ins Bild’, sagte er, und morgens blieb er oft lange im Bild liegen und überlegte, wie er nun zu dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl ‚Wecker’. Hie und da träumte er schon in der neuen Sprache, und dann übersetzte er die Lieder aus seiner Schulzeit in seine Sprache, und er sang sie leise vor sich hin.» Allerdings lief etwas ziemlich schief in dieser Geschichte. Was als Befreiung vom Korsett der Alltagsprache begann, endete in totaler Vereinsamung und Verständnislosigkeit. Weil der alte Mann nicht begriff, wie Wörter mit Dingen zusammenhängen.


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Wie und warum «haften» Wörter an Dingen? Woher die «Notwendigkeit», die Wörter mit Dingen verknüpft? Diese Fragen stellte der kürzlich verstorbene amerikanische Sprachphilosoph Saul Kripke, ein verschrobenes Wunderkind, das in der Öffentlichkeit kaum bekannt war, aber in einschlägigen Kreisen – in der Analytischen Philosophie - als einer der genialsten Denker des 20. Jahrhunderts gilt. 


Einem Kind, dem wir das Wort «Tisch» lehren, setzen wir am Anfang konkrete Beispiele vor: dies da ist ein Tisch, und dies dort ist auch einer, jenes dort aber ist kein Tisch. Das Kind navigiert anhand solcher Beispiele nicht auf «die» Bedeutung von Tisch zu, es übt sich ein in ein linguistisches Sozialverhalten, in ein – wie Ludwig Wittgenstein sagte – Sprachspiel. Kripke hat sich intensiv damit beschäftigt, weshalb man ihn mit dem Kofferwort «Kripkenstein» beehrte. Und er stiess auf ein Paradox, um das auch Bichsels Ge-schichte kreist.  


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Es betrifft Regelbefolgen und -brechen. Wenn Sprache ein Spiel ist, dann hat sie offen-sichtlich Regeln. Lernt das Kind Regeln? Es verwendet das Wort «Tisch» 20-mal korrekt, und nun beim nächsten Mal falsch. Verstösst es gegen eine Regel? Was für eine Regel? Kripke gibt ein Beispiel. Ein Kind hat das Addieren von Zahlen gelernt, die nicht höher sind als 57. Nun soll es 58 und 7 addieren. Wir gehen davon aus, dass es die bereits geübte Regel kennt und die Summe korrekt bildet: 65. Stattdessen sagt es: 5. Wir deuten dies so:  Das Kind hat das Addieren noch nicht richtig gelernt. Aber was heisst «richtig»? Könnte es nicht sein, so Kripke, dass das Kind einer anderen Regel folgt und das Pluszeichen in einer ungewohnten Bedeutung verwendet. Es addiert Zahlen nicht, sondern «quaddiert» sie: Zahlen bis 57 addiert es auf übliche Weise, für alle Zahlen über 57 ist die Summe 5. 57 «quaddiert» mit 7 =  64, 58 «quaddiert» mit 7 = 5. Korrekt. 


Philosophen finden oft einen Spass darin, uns mit skurrilen Beispielen aus dem Schlummer des Gewohnten aufzustören. So auch das Beispiel von Kripke Es soll uns zeigen: Für jede Abweichung von der Standardregel gibt es eine Regel, mit der man das abweichende Verhalten in Übereinstimmung bringen kann. Also nützt uns der Begriff der Sprachregel nicht viel. Das führt natürlich zur Frage: Worauf berufen wir uns, wenn wir sagen, das Kind rechne falsch? Oder der alte Mann verwende die Wörter falsch? Vorausgesetzt, die Bedeutung des Pluszeichens hänge von einem Regelbefolgen ab, dann ist das Pluszeichen nicht eindeutig. Und gleiches lässt sich von jedem Zeichen, jedem Wort sagen. Wie können wir dann sicher sein, dass der alte Mann falsch liegt, wenn er das Wort «Teppich» für seinen Tisch gebraucht? Dass eine Person überhaupt ein Wort versteht?


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Die Bedeutung eines Wortes hängt so gesehen in der Luft. Können wir sie beliebig ändern? Kehren wir noch einmal zum Kind zurück, das die Bedeutung des Wortes «Tisch» anhand von Testbeispielen lernt. In der Terminologie der Künstlichen Intelligenz liesse sich sagen: Es lernt die Bedeutung «überwacht», bis zu einer Schwelle, wo das Lernen «unüberwacht» weitergeht.  Die Bedeutung sinkt als Automatismus ein in den Körper. Das Kind versteht sich darauf, das Wort anzuwenden, ohne zu verstehen, wie es das tut. Solche Automatismen sind der Rumpf des Sprachgebrauchs, des Regelbefolgens. Wir befolgen die gelernten «inkorporierten Regeln» quasi-instinktiv, als wären sie Teil unseres körperlichen Verhaltensrepertoires geworden. Wir müssen nicht ständig überlegen, ob dieses Ding da ein Tisch ist, wir identifizieren es unmittelbar als Tisch. 


Natürlich können wir uns täuschen. Und natürlich gibt es die Abweichungen, die Renitenz und Resistenz gegen das «Diktat» des normalen Sprachgebrauchs – etwa im Jargon, in der Geheim- oder Gaunersprache, in der Lyrik. Bichsels alter Mann rebelliert gegen die «Langeweile» des gewöhnlichen Sprachgebrauchs. Aber auch hier wird das Funktionieren der Automatismen am Grund der Sprache vorausgesetzt. In der vermeintlich privaten Sprache redet die öffentliche mit. «Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz allein gehörte. Aber bald fiel ihm auch das Übersetzen schwer, er hatte seine alte Sprache fast vergessen, und er musste die richtigen Wörter in seinen blauen Heften suchen. Und es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen. Er musste lange nachdenken, wie die Leute zu den Dingen sagen».


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Damit stossen wir auf das Kernproblem. «Es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen». Der alte Mann fällt mit seinem Verhalten aus der Sprachgemeinschaft. So wie das Kind, das «quaddiert», Schwierigkeiten in vielen Alltagstransaktionen haben dürfte (heute könnte es allerdings auf das Handy zurückgreifen). Die Bedeutung eines Wortes ist etwas Gemeinschaftliches, wie die Geldwährung, das Autorenrecht, die Menschenwürde. Kommunikation heisst auch «Kommunion». Dadurch hat sie einen normativen Aspekt. Im Wort steckt ein Standard: Du sollst mich so gebrauchen! Und ein Standard für eine einzige Person ist unsinnig. 


Man teilt die Bedeutung der Wörter und dadurch kann man sich mitteilen. Der Mann in Bichsels Geschichte entzieht sich diesem Mitteilen. Er gebraucht Wörter willkürlich anders, «einfach so». Wer aber den Wörtern konsequent und radikal einen privaten Sinn verleihen will, entzieht ihnen jeglichen Sinn. Die Sprache ist ein Haus, und wer sich um die Ordnung foutiert, kann unbehaust werden. 


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Das heisst, wir lernen nicht einfach Wörter, wir lernen Wörter im Zusammenhang mit Din-gen. Ein bestimmter Sprachgebrauch bedeutet auch einen bestimmten Gegenstandsgebrauch. Das Wort «Tisch» zu gebrauchen, meint, einen Tisch richtig zu gebrauchen. Wenn wir zum Beispiel «Tisch» auf einen Stuhl anwenden, meinen wir damit, dass der Stuhl unter Umständen auch als Tisch gebraucht werden kann; wir kennen dabei einigermassen die Funktionen des Tisches. Womöglich können wir in diesem Sinn auch ein Bett «Tisch» nennen, oder einen Spiegel, indem wir die Gegenstände umfunktionieren, aber bei einem Wecker oder einer Stehlampe wird dies schon schwieriger. 


Der alte Mann definiert sich mit seiner eigenwilligen Wort-Ding-Zuordnung aus einer Gegenstandsordnung heraus. Die Dinge werden ihm fremd, und er wird in der Ökologie des Gewohnten fremd. Das kann ein gewollter künstlerischer Akt sein, der die Dinge in neuer Perspektive buchstäblich erscheinen lässt – zu Phänomenen macht - , aber das begründet keine beständige Lebensform. Im Gegenteil: Dadurch entzieht man sich dem Leben, weil das Leben immer auch durch repetierten und routinierten Gegenstandsgebrauch bestimmt ist. Am Ende weiss der alte Mann nicht nur nicht mehr, was aus seinem Mund kommt, sondern auch nicht mehr, was er in den Händen hält. Sprache ist eine kapriziöse, mitunter tückische Gefährtin. Man kann mit ihr eine Welt gewinnen; man kann auch eine Welt verlieren. Ich glaube, Kripke hätte an Bichsels Geschichte seine vertrackte Freude gehabt. 

















Freitag, 16. September 2022

 





Mathematik und der Sinn des Lebens


Kampf gegen den Zufall 

Wir alle, nicht nur Philosophen, fragen gelegentlich nach dem Sinn des Lebens. Man kann einen Sinn darin sehen, Grümpelturniermeister oder lokale Schönheitskönigin zu werden, die Fermatsche Vermutung zu beweisen oder den genetischen Code zu knacken, ein guter Lehrer oder Vater zu sein, einen intelligenten Dauerwellenapparat oder eine App für Sinnfragen zu bauen, für die Menschenrechte zu kämpfen oder Artikel zu schreiben, die wenigstens zwei Leser verstehen. Es kann sinnvoll sein, Sinnfragen mit einer Ohrfeige zu beantworten oder sie wegzulachen. Ich möchte hier kurz einen etwas ungewohnten Weg einschlagen, der seinen Ausgang beim Zufall nimmt. Ich stelle deshalb gleich eine Behauptung auf: Sinnsuche bedeutet Kampf gegen den Zufall. Und hier kann uns die Mathematik einiges lehren. 

Regelhafte und zufällige Ziffernfolgen

Vergleichen Sie die beiden Ziffernfolgen:

110010000110100010100010010110000011

100100100100100100100100100100100100

Zeigen diese Folgen ein Muster? Bei der zweiten ist die Antwort eindeutig „ja“. Man kann sie leicht in einer einfachen Anleitung wiedergeben: „Schreibe 12-mal ‚100’ hin“. Bei der ersten Folge ist das jedoch nicht möglich. Wir können sie nicht in einer einfachen Anleitung komprimieren, wir müssen die Folge, wenn wir sie jemandem mitteilen wollen, tel quel wiedergeben. Es gibt also offensichtlich Ziffernfolgen, die sich dank Anleitungen - Algorithmen - komprimieren lassen, und solche, bei denen dies nicht der Fall ist; wir nennen sie zufällig. Die Länge der Anleitung – sie lässt sich in Bits formulieren – ist ein Mass für die Komplexität der Folge. 

Eine Frage stellt sich jetzt sofort: Könnte man auf diese Weise alle möglichen Ziffernfolgen in regelhafte und zufällige unterteilen? Man hätte dann sozusagen eine patente Maschine, die uns automatisch die Antwort auf die Frage liefern könnte: Ist die präsentierte Ziffern-folge zufällig oder nicht? Nun erscheint eine solche Frage auf den ersten Blick durchaus als sinnvoll, ja, lösbar in vielen Fällen, aber sie enthält ein tückisches Paradox, wenn man sie generell – für endliche und unendliche Folgen - formuliert. Veranschaulichen wir es an einem einfachen Beispiel.

Interessante und uninteressante Zahlen

Versuchen wir, die natürlichen Zahlen in interessante und uninteressante zu unterteilen. Statt einer allgemeinen Definition von „interessant“ halten wir nach besonderen Merkmalen der Zahlen Ausschau. Beginnen wir mit 1. 1 ist interessant, weil 1 die erste natürliche Zahl ist. 2 ist interessant, weil 2 die einzige gerade Primzahl ist. 3 ist interessant, weil 3 die erste ungerade Primzahl ist. 4 ist interessant, weil: 4 = 2 + 2 und 4 = 2 x 2.  5 ist interessant, weil 5 die Summe aus den ersten beiden Primzahlen ist. 6 ist interessant, weil 6 eine vollkommene Zahl ist, das heisst, die Hälfte der Summe ihrer Teiler: 6 = ½ (1 + 2 + 3 + 6). Und so weiter.  Zahlentheoretiker und Zahlenmystiker können sich ein Leben lang mit solchen Eigenschaften von Zahlen beschäftigen. Und irgend einmal wird im Laufe dieser Beschäftigung die Frage auftauchen: Gibt es eine eindeutige Unterteilung, eine automatische Sortiermaschine von interessanten und uninteressanten Zahlen? Gäbe es sie, müsste sie irgend-wann auf die erste uninteressante Zahl stossen. Aber die erste uninteressante Zahl zu sein, ist das nicht äusserst interessant? Die Idee einer automatischen Sortiermaschine von interessanten und uninteressanten Zahlen endet in einer Paradoxie. Daraus schliessen die Mathematiker: Es gibt keine solche Maschine.

Eine Wundermaschine 

Nichtsdestoweniger faszinieren unmögliche Maschinen, weil sie quasi die inneren Grenzen logischen oder formalen Denkens aufzeigen. Bertrand Russell hatte bereits zu Beginn des 20. Jahrhundert mit ähnlichen Paradoxien auf logische Risse in den Grundfesten der klassischen Mathematik aufmerksam gemacht. Das war ein fundamentaler Schock. Die Frage nach der Komprimierbarkeit von Zeichenketten beschäftigt aber neuerdings auch die Informationstheoretiker. In einer Welt der vernetzten Informationsflüsse erscheint es natürlich aus praktischer, zeitökonomischer Perspektive höchst wünschenswert, wenn man Botschaften in möglichst kompakten Bit-Paketen zirkulieren lassen kann. Aber das Problem, auf das wir hier stossen, hat viel grösseren Tiefgang. Es zielt auf nichts Fundamentaleres ab als auf die Grenzen der Berechenbarkeit überhaupt. 

In den frühen 1960er Jahren formulierten drei Forscher – der berühmte Mathematiker Andrey Komolgorow, der Computerpionier Ray Solomonoff und das Wunderkind Gregory Chaitin - unabhängig voneinander ein exaktes Konzept, wie man die Komplexität von Ziffernfolgen berechnen kann. Ihre Ideen sind heute als Theorie der algorithmischen Komplexität geläufig. Diese Theorie definiert die Komplexität einer Ziffernfolge als das kürzeste Computerprogramm, das die Folge produziert. Daraus resultiert nun fast von selbst die Idee einer Maschine, der man eine beliebige Ziffernfolge (normalerweise in Nullen und Einsen) füttert; nach einer bestimmten Zeit spuckt sie die Bit-Zahl ihrer Komplexität aus.

Die Wundermaschine existiert nicht

Eine solche Maschine gibt es nicht. Das ist eines der tiefsten Theoreme der mathematischen Logik. Die Unmöglichkeit ihres Designs hat nicht computertechnische Gründe; auch liegt sie nicht darin, dass wir zuwenig intelligent wären, das Programm der Maschine zu schreiben. Der Knackpunkt steckt im Begriff  „kürzestes Computerprogramm“. Er verwickelt uns in verwandte Widersprüche wie das Konzept der interessanten Zahl. Im Besonderen schliesst das Theorem nicht aus, dass ein Computer zufällig das Programm zur Bildung einer hochkomplexen Ziffernfolge findet. Nur kann er nicht zeigen, dass es sich um das kürzeste Programm handelt. Die Möglichkeit einfacherer Programme existiert immer. Man vermutet im Übrigen, dass es unter den unendlich vielen denkbaren  Ziffernfolgen sehr viel mehr zufällige (nicht endlich darstellbare) als regelhafte (endlich darstellbare) gibt.

Der Plot des Lebens

Machen wir jetzt einen gewagten Sprung von Ziffernfolgen zu den Ereignisfolgen, aus denen unser persönliches Leben besteht. Ich will natürlich nicht suggerieren, unsere Suche nach dem Sinn des Lebens sei die Suche nach einem „Algorithmus“ des Lebens. Das Leben ist keine berechenbare Abfolge von Ereignissen. Aber oft genug erscheint uns diese Abfolge als chaotisch, erratisch, unübersichtlich, zufällig, und wir möchten gern Kohärenz in diese Ungereimtheit bringen.

Vielleicht ist das Motiv sogar das gleiche wie bei den Zahlenfolgen. Uns widerstrebt der Zufall. Wir ertragen es schlecht, dass Dinge einfach so geschehen. Wir wollen Muster se-hen, Zusammenhänge, Ursachen: einen sinnstiftenden Plot im Wirrwarr der Ereignisse, der sie auf irgendeine Weise „komprimiert“. Wir sagen dann, wir sähen im Leben einen Sinn. Er liefert uns Einsicht, Trost, Kohärenz, Halt, aber nicht die Gewissheit, dass es sich um den „besten Plot“ handelt. Es kann sich immer lohnen, nach einem besseren Plot zu suchen. So wie es kein allgemeines Beweisverfahren dafür gibt, dass der Computer das kürzeste Programm gefunden hat, so können wir nie sicher sein, den „letzten“ Sinn des Lebens gefunden zu haben. Soviel lehrt uns die Mathematik. 

Zuviel Sinn tut nicht gut

Man kann sein Leben auch überinterpretieren: In Zufallsereignissen sehen wir verborgene Gesetzmässigkeiten, in allem, was uns widerfährt, sehen wir Absicht, Plan, womöglich Bedrohung.  Ich treffe dreimal am gleichen Tag einen alten Bekannten in der Stadt, den ich lange nicht gesehen habe, und schon denke ich, er stelle mir nach; ich finde auf der Strasse eine Hunderternote und denke an eine Geste des Schicksals, vielleicht an eine Gunstbezeigung des Herrn; in meinem Garten haben Winden die anderen Pflanzen befallen und schon wittere ich eine heimliche hortikulturelle Sabotage meines Nachbarn. Wir sind nicht nur Zufallshasser, wir sind auch übereifrige Deuter all dessen, was um uns und mit uns geschieht. Am Ende dieses Wegs winkt die Paranoia. 

 Das Muster im Teppich

Von Henri James gibt es eine meisterhafte literarische Variation des Themas, in seiner Erzählung "Das Muster im Teppich". Ein junger, ehrgeiziger Literaturkritiker möchte auf die „Grundidee“ des Werks des berühmten Autors Vereker kommen. Der Kritiker vergleicht diese Grundidee mit dem komplizierten Muster in einem Perserteppich. Er möchte also das, was das Werk, ja, das Leben des Autors ausmacht, quasi wie ein Muster an den Tag bringen. „Können Sie es (das Geheimnis, E.K.) mit der Feder ausdrücken, benennen, er-klären, formulieren?“ dringt er auf Vereker ein. Aber dieser speist ihn ab mit vagen Tips. Die hintergründige Ironie der Geschichte liegt darin, dass der Kritiker eigentlich Opfer sei-ner Fragestellung ist. Verschossen in die Idee, das Webmuster aus dem Teppich herauszulösen, zu abstrahieren, verstellt er sich die Sicht auf das konkrete Gesamtgewebe des Teppichs -  auf das ganze Werk Verekers, letztlich dessen Leben, welches das Muster ist. Es verhält sich etwa so, wie man jemanden auffordern würde, ein Bild von Paul Klee „zusammenzufassen“ – man kann es nur zeigen.

Jedes persönliche Leben als Teppich mit individuellem Muster – eine prächtige Metapher. Man versuche nur nicht, das Muster aus dem Teppich zu lösen. Das heisst, man kann es auch lassen, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Leben ist so, wie es ist. Das nennt sich Gelassenheit. Sie bedeutet nicht, dass das Leben sinnlos oder gleichgültig geworden wäre, sondern, dass es identisch mit seinem Sinn geworden ist – nicht zum Muster im Teppich, sondern zum Teppich mit seinem Muster.







Das Monster in uns Der Hang zum Unmenschlichen ist menschlich Jüngst war in den Medien von den «Hamas-Monstern» die Rede. «Yahia Sinwar – da...