Dienstag, 21. Juli 2015

Reißt es aus, das fremde Kraut!


Die Zeit, 16. Juli 2015

Dieser Kampf ist Chefsache! Stadtrat Filippo Leutenegger zieht sich ein Paar
Gartenhandschuhe über, schnappt sich einen Spaten und sticht eine Goldrute aus
dem sumpfigen Boden. Mit Stumpf und Stiel. "Gemeinsam gegen Problempflanzen"
heißt der Aktionsplan der Zürcher Stadtoberen. Im Namen der Bio-Diversität wollen
sie dem Riesen-Bärenklau, der Goldrute, dem Knöterich und dem Sommerflieder den
Garaus machen.

Die Jät-Aktion ist aus einem urban-ökologischen Gesichtspunkt durchaus
verständlich. Sie trägt allerdings auch eine verfängliche Metaphorik in sich. War einst
von "invasiven Neophyten" die Rede, geht es nun um den "Kampf gegen die fremden
Pflanzen" und die "Verdrängung einheimischer Arten". Soll nun also die Schweizer Art 
auch im Reich der Pflanzen verteidigt werden?

Die Neophyten-Diskussion ist schon ein paar Jahrzehnte alt. Im Sommer 1970 fielen
in den Notfallstationen englischer Spitäler gehäuft verbrennungsartige Symptome bei
Kindern auf: Rötungen und Blasen auf Lippen, Haut und Augenlidern. Die Ursache
fand man bei einer bis anhin als harmlos taxierten Pflanzenart: dem Riesen-
Bärenklau. Ein Ungetüm von Gewächs, mit seinen scharfzackigen Blättern und einer
mächtigen Doldenkrone. Heracleum giganteum enthält eine lichtempfindliche
Substanz: Furokumarin. Wenn die Haut damit in Kontakt kommt, kann sie eine
Dermatitis mit verbrennungsartigen Symptomen entwickeln. Vor allem, wenn dabei
die Sonne scheint.

Einst war Bärenklau ein beliebtes Natur-Kinderspielzeug; man konnte den Stängel
als Teleskop oder als Pfeife verwenden. Zum Monster wuchs die Pflanze erst heran,
als man herausfand, dass sie eine Immigrantin von ennet dem Eisernen Vorhang ist.
Bärenklau stammt aus dem Kaukasus. Die englischen Boulevardmedien sprachen von
triffids, von den Pflanzen des Schreckens, die im Science-Fiction-Klassiker The Day
of the Triffids von John Wyndham einen Krieg gegen den Menschen führen. Man
empfahl drastische Gegenmaßnahmen: Gifte, Flammenwerfer, Bulldozer, Dynamit.
Ohne durchschlagenden Erfolg. Der Bärenklau setzte seine Unterwanderung fort.
Unkraut schafft aber nicht nur Dystopien. Das zeigt ein 1980 aufgelassenes
Hochbahntrassee der New York Central Railroad in Manhattan. Unmittelbar nach
der Schließung drang ein Stoßtrupp von chinesischen Götterbäumen ein; gefolgt von
der Nachhut aus Woll-Ziest und Goldrute. Auf dem Schienenareal entwickelte sich
schnell ein richtiges Biotop aus Iris, Schlüsselblume, Gänseblume, wilder Möhre –
ironischerweise allesamt "Immigranten" aus Europa und Asien. Den New Yorkern
war das egal. Schließlich ist in der Stadt jeder ein "fremder Fötzel". Das vergandete
Bahntrassee ist heute ein offizieller Park, der sich als grünes Band durch Manhattan
zieht: die sogenannte High Line.

2011 veröffentlichten 19 Wissenschaftler einen Kommentar in der Zeitschrift Nature:
"Beurteilt Arten nicht nach ihrer Herkunft", forderten sie. Und riefen dazu auf, das
"Vorurteil gegenüber nichtheimischen Arten aufzugeben". Sie seien in den letzten
Jahrzehnten verteufelt worden, weil sie angeblich die "geliebten heimischen Arten"
bedrohen und die Umwelten verschmutzen würden.

Nun ist bekanntlich Schmutz lediglich Materie am falschen Ort; und Unkraut nur
Kraut am falschen Ort. Aber aus der Sicht der Pflanze gibt es keine "falschen" Orte.
Die Natur kennt weder Inland noch Ausland. Ökologie heißt immer auch Störung des
ökologischen Gleichgewichts. Bei allen keineswegs zu verharmlosenden Schäden
durch das Unkraut wäre gerade es als Memento geeignet: Fremd wird, was nicht ins
gängige Weltbild passt. Die Natur als Projektionsfläche unserer politischen Ängste.
So ist die Unkraut-Debatte zuallererst nicht eine ökologische, sondern eine
ideologische. Gerade in der Schweiz. Ein Leserbriefschreiber weist darauf hin, dass in
einer indigenen, Stadtzürcher Hecke "mehr Gekreuche und Gefleuche rumwusselt"
als in einem fremden Kischlorbeer.

Sogar ins Bundesparlament wurde die biologische Metaphorik eingeschleppt. Im Jahr 
2009 reicht SVPNationalrat Dominique Baettig eine Interpellation ein. Er fragt den Bundesrat, 
wie hoch denn die "Folgekosten des Eindringens gebietsfremder Arten" seien?  Baettig
beruft sich auf eine gesamteuropäische Studie. Sie berechnete die zu erwartenden 
Schäden und Kosten, die durch die "Ausmerzung eingeschleppter Pflanzen"
verursacht werden.  Doch der SVP-Mann ging noch weiter. In seiner Anfrage steht:
"Könnte der Bundesrat,  ähnlich wie für die Tier- und Pflanzenarten, eine Einschätzung der
ökologischen,  wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Migrationsbewegungen (..)
durchführen?"  Ja, damit seien Menschen gemeint, sagt Baettig, als man nachfragt

Unkraut löst Reflexe aus, nicht Reflexion; zumal nicht Reflexion über unsere eigene
Nachlässigkeit im Umgang mit gewissen Pflanzen. Allzu einfach machen uns
Agrartechnologie und -chemie den Kampf gegen ungeliebtes Kraut. Sie entbinden uns
von der Mühe eines tieferen umwelthistorischen und damit kulturhistorischen
Verständnisses. Doch Unkraut vergeht nicht. Wir werden uns mit ihm arrangieren
müssen. Und das wird schwierig. Es bedeutet nämlich, dass wir die praktische
Kontrolle mit einer ökologischen Akzeptanz verbinden müssten. Eine Koevolution
von Eigenem und Fremdem, "Nützlichem" und "Unnützem".

Stattdessen machen wir in einem radikalen Perspektivenwechsel die invasive Pflanze
zur Schuldigen. Und nicht den Menschen, der seit Langem über globalisierte
Verkehrs- und Handelswege die entferntesten Ökosysteme des Planeten erobert. Hier
böte sich ein anderer Blick an. Gerade in der verstädterten Schweiz. Er würde das
Unkraut als mahnenden Indikator betrachten, der uns die Orte anzeigt, wo wir
Menschen unsere Umwelt vernachlässigen: Brachen, Deponien, Autobahnränder,
aufgelassene Industriezonen – all die urbanen und suburbanen Wüsten. Könnte es
also sein, dass die Verunkrautung der Welt und unser verrohender Umgang mit der
Umwelt miteinander zusammenhängen?


Mittwoch, 22. April 2015

Formen(l)n des Nichtdenkens (Fortsetzung): Primzahlen und Mücken




Der Physiker und Nobelpreisträger Eugene Wigner schrieb 1960 einen vielzitierten Ausatz über die „unverständliche Effektivität der Mathematik in den Naturwissenschaften“. Er beschäftigte sich darin mit der Frage, wie es überhaupt dazu komme, dass sich mathematische Gesetzmässigkeiten auf die Natur anwenden liessen, wo es sich bei Zahlen und Naturphänomenen doch um zwei völlig verschiedene Reiche und Lehrämter handle: das Abstrakte und Ewige, sowie das Konkrete und Vergängliche. Die Frage hat die Naturwissenschafter immer wieder beschäftigt, und sie beschäftigt sie weiterhin. Man muss allerdings auch gleich anfügen, dass man beim Transfer von mathematischen Denkweisen in die Empirie vorsichtig sein sollte. Der Fehlschluss droht auch hier. Hier ein Beispiel. Der erste Beweis der Existenz unendlich vieler Primzahlen stammt von Euklid. Im Wesentlichen verläuft er so: Wie viele Primzahlen ich auch habe, es gibt stets noch eine weitere, also unendlich viele. Eine Leserbriefschreiberin aus Bayern schrieb dazu Folgendes: "Ich sitze hier am Ammersee inmitten einer Heerschar von Mücken. So viele ich auch erschlage, es gibt immer noch eine weitere, kann ich daher schließen ...?" Quod non est demonstrandum.

Mittwoch, 1. April 2015

Und der Alte würfelt doch




Nichtlokalität: eine physikalische Beunruhigung

Theorien sind Ideen-Nester. Und sie enthalten oft Kuckuckseier, Konsequenzen also, an die der Nestbauer anfänglich nicht gedacht hat und die – ausgebrütet – ihm nun fremd vorkommen, als ob sie nicht von ihm stammten. Nachdem Isaac Newton seine Gravitationstheorie aufgestellt hatte, entdeckte er plötzlich, dass sie ein Problem aufwarf, das ihm absurd erschien: die sogenannte Fernwirkung, die Tatsache also, dass ein physikalischer Körper über grosse Distanzen hinweg einen andern Körper anziehen kann. Wie soll das stattfinden?

Newtons Problem lässt sich in moderner Terminologie als das sogenannte Problem der Nichtlokalität formulieren. Die Idee der Nichtlokalität kollidiert mit unserer intuitiven Vorstellung der Wechselwirkung zweier Körper. Gewöhnlich denken wir uns diese Wechselwirkung als eine unmittelbare Berührung, zum Beispiel von Billardkugeln, die sich stossen: kausale lokale Aktionen. Wirkt ein Körper über eine Distanz auf einen andern, dann denken wir uns ein Medium, in dem solche lokalen Aktionen fortgesetzt stattfinden. Formelhaft: Nichtlokale Wirkungen setzen sich zusammen aus lokalen. Und genau das zieht die Quantenphysik in Zweifel. Ihr Theorienest enthält ein ähnliches Ei wie jenes von Newton, eine neue Art von Nichtlokalität, die sich nicht aus lauter lokalen zusammensetzt. Man spricht von „nichtlokaler Korrelation“.

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Ein Gedankenexperiment kann uns das Problem näher bringen. Wir verwenden dazu das Standardpaar der Quantentheoretiker: Alice und Bob. Nicolas Gisin von der Universität Genf, ein führender Physiker auf dem Gebiet der Quanteninformatik, hat in seinem eben publizierten Buch „Der unbegreifliche Zufall“ ein Spielchen ausgetüftelt. Alice und Bob generieren für sich an je identischen Kästen Zufallsereignisse. Sie betätigen einen Hebel, der nach links oder rechts gelegt werden kann. Immer wenn sie eine Hebelschaltung vornehmen, erscheint dank eines Zufallsgeneratores auf einem Display entweder 0 oder 1. Alice und Bob schalten alle Minuten synchron ihren Hebel und notieren sich Lage und Zahl; also etwa „links/1“, „rechts/0“ usw. Sie führen isoliert – ohne „Fernwirkung“ -  das Spiel einen halben Tag lang durch. Am Ende vergleichen sie ihre Listen und berechnen ihre Erfolgsquote. Nach einem Punkteschlüssel erhalten sie bei gewissen Kombinationen von Schaltung und Zahl einen Punkt, bei andern nicht. Die Erfolgsquote ergibt sich als Mittelwert aus der Summe aller Punkte dividiert durch die Anzahl der Hebelschaltungen in einem halben Tag. Er beträgt maximal 1 (jede Hebelschaltung ein Punkt).

Die Details des Spiels brauchen uns nicht zu interessieren, wichtig ist nur die Spielart. Alice und Bob sind ein „separierbares“ Paar, wie die Physiker sagen. Sie agieren völlig unabhängig voneinander, zwischen ihnen werden keine Informationen ausgetauscht. Die Hebelschaltungen wie auch die Zahlen 0 und 1 sind lokale Zufallsereignisse. Die Pointe liegt nun darin, dass Alice und Bob, wie lange sie auch spielen und welche Strategien sie für sich zurechtlegen, nie über eine Erfolgsquote von ¾  hinauskommen. Das ist sinngemäss die Kernaussage einer lange Zeit für marginal gehaltenen theoretischen Entdeckung, die 50 Jahre zurückliegt: der Ungleichung des nordirischen Physikers John Stewart Bell. Sie  entpuppt sich heute als von unerwarteter Virulenz.

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Warum? Nehmen wir einmal an, eine Quanten-Alice und ein Quanten-Bob würden mit demselben Spiel eine bessere Erfolgsquote erzielen. Unmöglich! sagt der klassische Physiker: Das geht nicht mit rechten Dingen zu; oder bestimmte uns noch nicht bekannte „verborgene Parameter“ sind mit im Spiel. Der Quantentheoretiker sieht das anders: Offenbar sind die Zufallsereignisse bei Quanten-Alice und Quanten-Bob auf eine Weise korreliert, für die die klassische Physik keine Erklärung kennt: sie sind verschränkt. Tatsächlich sagt die Ungleichung von Bell: Verschränkte Quantenprozesse lassen sich daran erkennen, dass sie die Ungleichung verletzen, also eine höhere Erfolgsquote als die klassische zulassen.

Gibt es solche Prozesse? Ja, immer mehr. 1982 wiesen Alain Aspect und sein Team Verletzung der Ungleichung an Photonenpaaren nach. Seither ist der Ehrgeiz der Physiker angestachelt, auf ingeniöse Weise Systeme zu bauen, welche Prozesse mit höherer Gewinnquote als der klassischen ermöglichen. Physikalischer ausgedrückt heisst das: Die Physiker kombinieren zwei (oder mehr) Quantenobjekte – etwa Photonen, Elektronen oder auch Atome – zu einem neuen Ganzen mit seltsamen nichtklassischen Eigenarten.

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Die Geschichte der Quantenverschränkung ähnelt der Geschichte von Newtons Gravitationskraft. Einstein erkannte schnell die „spukhaften“ Folgen der neuen Theorie, und er versuchte mit den Kollegen Boris Podolski und Nathan Rosen 1935 anhand eines Gedankenexperiments zu demonstrieren, dass die quantenphysikalische Beschreibung der klassischen widerspricht und deshalb nicht vollständig sein kann. Im gleichen Jahr erkannte Erwin Schrödinger, dass dies an einer neuartigen Verknüpfung von Zuständen liegt, die er „Verschränkung“ nannte.

In der Quantentheorie werden Zustände durch Wellenfunktionen repräsentiert. Teilchenzustände können sich also wie Wellen überlagern. Wir sagen nicht: Da ist ein Elektron im Zustand 1 und dort ein Elektron im Zustand 2, zusammen bilden sie ein Paar. Wir sagen: Hier ist ein Paar in seinem überlagerten Gesamt­zustand. Punkt. Kurioserweise stellt sich dann zum Beispiel heraus, dass eine Messung des Abstands der Elektronen – eine Zustandsgrösse des Paares – exakt bestimmbar ist, nicht aber die Positionen der einzelnen Elektronen. Bei normalen klassischen Objekten erscheint das absurd. Angenommen, ich und der Mond bildeten ein verschränktes Paar. Dann liesse sich unser Abstand – ein Gesamtzustand - präzise bestimmen, nicht aber unsere Einzelpositionen. Quantentheoretisch gesprochen, wäre ich an vielen möglichen Orten zugleich. Erst eine „Messung“ an mir zeigte, wo ich bin: zum Beispiel in San Francisco, 9300 km entfernt von meiner mittleren Position in Bern. Dadurch aber wäre zugleich die Position des Mondes bestimmt: 9300 km entfernt von seiner mittleren Position – und zwar ohne kausale Verbindung und Messung an ihm! Verschränkte Quantenobjekte zeigen eine solche bizarre Eigenschaft. Wären also die Zufallsgeneratoren in den Kästen von Quanten-Alice und Quanten-Bob verschränkt, dann wüsste Alice, wenn sie zum Beispiel an ihrem Kasten das Resultat 0 beobachtet, dass auch Bobs Kasten dieses Resultat zeigt. Mit solchen verschränkten Zufällen lassen sich in Gisins Spiel Erfolgsquoten höher als ¾ erzielen. Klassisch unbegreifbar! Gisin und sein Team haben 1997 zwei solche „Kästen“ mit verschränkten Photonen gebaut, ausserhalb des Labors, zwischen Bernex und Bellevue im Kanton Genf, über 10km voneinander entfernt. Inzwischen sind quantenverschränkte Systeme mit einer Entfernung von fast 150km bekannt.

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Der tiefere Grund für dieses seltsame Verhalten liegt darin, dass die Quantentheorie mit Wahrscheinlichkeiten rechnet, und Wahrscheinlichkeiten auf dem Zufall basieren. Genauer gesagt, legt die Quantentheorie eine neue Interpretation des Zufalls nahe. Die klassische Interpretation ist subjektiv: Etwas ist zufällig, weil ich nicht genügend weiss. Die Vorstellung dahinter: In der Natur ist „im Prinzip“ alles durch Gesetze und Anfangsbedingungen – lokale Aktionen - geregelt. Wenn ich mich entscheide, auf dem Velo in die Stadt zu fahren, und mir nun „zufällig“ ein Fussgänger vor die Räder läuft, dann ist dies ein „im Prinzip“ behebbarer Zufall; ein Beobachter, der den Weltzustand vor dem Zusammenprall kennen würde, könnte im Idealfall eine lückenlose Kausalkette von lokalen Ereignissen – beginnend bei meinem Entscheid, bis zum Zusammenprall mit dem Fussgänger - rekonstruieren. In der klassischen Physik regiert kurz gesagt das Ideal eines gottgleichen Beobachters. Nichtlokale Korrelationen schmuggeln dagegen eine andere Art von Zufall in die Physik: den Zufall als Naturprinzip. Der allwissende Oberbeobachter dankt ab. Selbst bei maximaler Quantenkenntnis – also einer Wellenfunktion, die den Weltzustand vor der Kollision repräsentiert (plus Hamiltonoperator ihrer Entwicklung) - könnte er den Zusammenstoss nicht mit völliger Gewissheit voraussagen, weil die Ungewissheit quasi auf Mikroniveau in die Natur selbst eingebaut ist. Einsteins Gott – der „Alte“ - würfelt.

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Nicht dass die Nichtlokalität allgemein akzeptiert, geschweige denn völlig verstanden wäre. Im Gegenteil: sie spaltet die Physikergemeinschaft, und zwar in einer schon fast glaubensartigen Überzeugungstiefe. „Quanundrum“ – „Quantenrätsel“ - titelte im Juni 2014 die Zeitschrift „Nature“ in einem Editorial. Nichtsdestotrotz beflügelt die Idee der Nichtlokalität die Erforschung neuer technischer Applikationen: ultraschnelle Rechner, Teleportation oder nicht knackbare Verschlüsselung von Nachrichten. Bereits kursiert das Wort von der „zweiten Quantenrevolution“. Wohin sie führt, weiss niemand. Eine kleine Lehre lässt sich allerdings schon jetzt ziehen. Einmal mehr zeigt sich, dass kreative Schübe nicht mit Monsterprojekten herbeizuzwingen sind. Das Neue: das sind oft Kuckuckseier in den Theorie-Nestern. Freundet man sich mit ihnen an, entpuppen sie sich als verborgene Triebfedern des Fortschritts. Anders gesagt: Nichts ist zu absurd, um wahr zu sein.

Freitag, 20. März 2015

Über den Vernunfthass




Es mutet tief paradox an: Wir feiern die menschliche Rationalität in technisch-wissen­schaft­lichen Errungenschaften wie autonomen Robotern, Gensequenzierung oder Quantencomputern; und gleichzeitig befleissigen sich Neurobiologen und Psychologen, uns diesen ratio­nalistischen Dünkel auszutreiben. Wir sind gar nicht so smart, wie wir meinen, sagen sie uns, wir sind ein Knäuel aus Instinkten und Vorurteilen, unser Blick auf die Welt ist von kognitiven Verzerrungen heimgesucht - kurz: die sogenannte Vernunft, auf die wir uns so viel zugute halten, ist bestenfalls eine schöne Verpackung für einen eher dunklen Inhalt voller Irrationalitäten. Die  gegenwärtige Skepsis in die menschliche Rationalität speist sich zu einem beträchtlichen Teil aus der sogenannten Verhaltensökonomik, zumal seit Daniel Kahnemanns viel gelesenem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“, das uns das Misstrauen in den vernünftigen Homo oeconomicus im Besonderen, in den Menschen im Allgemeinen lehrte. Bereits der Psychologe Gerd Gigerenzer schlug den gleichen Stimmton an, und seither arbeiten Autoren wie etwa David Mc Raney oder Jonathan Haidt eifrig an einem neuen Mosaik des Menschen als eines von Intuition und Instinkten gesteuerten Wesens. Die Verehrung der Vernunft, so Haidt, ist das „Beispiel für den Glauben in etwas, das es nicht gibt.“ Analog zum Atheismus könnte man also vom Arationalismus sprechen.

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Rationalitätslästerung hat eine bewegte moderne Geschichte. Angefangen bei der Antithese der Romantiker gegen ein „rein“ rationalistisches Menschenbild, fand sie einen er­sten Höhepunkt bereits in den wütenden philosophischen Hammerschlägen Nietzsches, und die Grosskatastrophen der beiden Weltkriege lieferten Max Horkheimer und Theodor Adorno die Lizenz zur wohl vehementeste Absage an die moderne – die „instrumentelle“  - Vernunft.  Die „Dialektik der Aufklärung“ ist eine Schrift von grandioser Einseitigkeit, eine unbarmherzige General­abrechnung mit der Moderne, welche ihr Banner – die Aufklärung – in Fetzen reisst. „Aufklärendes Denken (enthält) schon den Keim zu jenem Rückschritt (..), der heute (1944! E.K.) überall sich ereignet“.Dabei fällt Naturwissenschaft und Technik die Täterrolle zu. Aufklärung mündet in Technik und Wissenschaft – so die Kernthese -, und Technik und Wissenschaft verdinglichen den Menschen, sie machen ihn zu einem in Labor, Fabrik, Krieg und Konsum verfügbaren Objekt, sie „liquidieren“ alles Individuell-Einzigartige an ihm in der „repressiven Egalität“ der Abstraktion, welche mit der Horden-Mentalität der Hitlerjugend zu vergleichen sei (sic). Auschwitz, Hiroshima und – für Ador­no das Schlimm­ste – Kunst als industrielle Massenware sind das logische Ende der „liquidierenden“ Rationalität.

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Horkheimer und Adorno massen die Vernunft an ihren negativen Auswüchsen. Dieses Vorgehen hat eine lange Tradition. Der Hass auf die Vernunft – die Misologie – zieht historische Spuren bis in die Antike. Für Plato war Misologie identisch mit Menschenhass – mit Misanthropie. Denn der Mensch ist per definitionem das „vernünftige Tier“. Woher stammt dieser Hass? Platon diagnostizierte eine enttäuschte Erwartung in die rationale Überzeugungskraft, die sich leicht durch Scheinargumentation und Rechthaberei kompromittieren lasse. Zum Misologen kann man werden, sagt Sokrates im Dialog „Phaidon“, wenn man mehrmals einem Vernunftschluss getraut habe, der sich aber bei genauerer Betrachtung als fehlerhaft erweist. Der Misologe missdeutet die eigene Unfähigkeit, logisch zu denken, als Defizit der Logik selbst. Anders sah das der grosse Vernunftphilosoph der Neuzeit, Immanuel Kant. Er führte die Misologie auf den natürlichen menschlichen Hang zur Glückseligkeit und zum Lebensgenuss zurück. „In der Tat finden wir auch,“ schreibt er, „dass, je mehr eine kultivierte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuss des Lebens und der Glückseligkeit abgibt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme, woraus bei vielen (..) ein gewisser Grad von Misologie, als Hass der Vernunft, entspringt..“ Die „kultivierte“ Vernunft ist also eine Genuss- und Glückstörerin, die vom Menschen erst noch gewisse Anstrengungen abverlangt. Und wenn es ums Abwägen geht, zieht die Vernunft gegenüber dem Instinkt oft den Kürzeren.

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Dieser Gedanke führt geradewegs zur modernen Verhaltensforschung. Denn sie weist immer wieder nach, wie stark der Mensch von Instinkten und Voreingenommenheiten getrieben, und wie schwach angeblich die Kontrolle seiner Urteilskraft ist. Kahnemann demonstrierte dies anhand zahlreicher Experimente, die er mit dem Psychologen Amos Tversky durchführte. Letztlich resultierte ihre Forschung in einer Demontage des Paradigmas der klassischen Ökonomie: des rational abwägenden Homo oeconimicus. „Rational“ entscheidet nach diesem Paradigma eine Person dann, wenn sie das Eigeninteresse maximiert. Aber schon das klassische spieltheoretische Beispiel des sogenannten Gefangenen-Dilemmas zeigt, dass Handeln aus Eigeninteresse zu suboptimalen Entscheidungen führen kann. Zwei Komplizen einer Straftat sitzen voneinander isoliert in Untersuchungshaft, der eine weiss nicht, was der andere tut. Gestehen beide, beträgt die Strafe vier Jahre Haft. Gesteht der eine, der andere aber nicht, führt dies beim ersten zur einjährigen Mindest-, beim zweiten zur sechsjährigen Höchststrafe. Gestehen beide nicht, bekommen sie zwei Jahre Haft. Das wäre, objektiv gesehen, der optimale Nutzen für jeden. Aber in der geschilderten Situation „menschelt“ es. Wenn der eine nicht gesteht,  kann er nicht sicher sein, dass der andere dasselbe tut.  Aus dieser misstrauischen Eigenperspektive heraus entscheiden sie sich für das Gestehen, handeln in diesem Sinne also nicht „rational“.

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Kahnemann und seinem Kollegen Amos Tversky ging es primär um falsche Entscheidungen aus Voreingenommenheit, oder wie es im Fachjargon heisst: aus kognitiver Verzerrung (Bias). Berühmt geworden ist das „Linda-Problem“. Und schon hier stellt sich die Frage: Was heisst eigentlich „falsch“? In einem Experiment gab man den Probanden folgende Information: Linda ist eine Frau von 31 Jahren, Single, offen und ein helles Köpfchen. Sie hat einen Abschluss in Philosophie. Als Studentin engagierte sie sich in Fragen der sozialen und rassischen Diskriminierung und nahm an Anti-Nuklear-Demonstrationen teil. Daraufhin stellte man den Probanden die Frage: Ist es wahrscheinlicher, dass Linda Bankangestellte oder dass sie zugleich Bankangestellte und Feministin ist? Wer auf die erste Antwort tippt, liegt richtig, denn in beiden Fällen ist Linda ja Bankangestellte. Dennoch tendiert die Mehrzahl der Befragten dazu, die zweite Option als wahrscheinlicher zu betrachten. Kahnemann spricht von einem „Konjunktions-Fehlschluss“. Aber urteilen die Befragten falsch? Nicht unbedingt. Logisch gesehen, sind die biografischen Daten über Linda zur Beantwortung der Frage irrelevant. Die wenigsten von uns handeln jedoch im Alltag logisch im strikten Sinne des Wortes. Es erscheint im Setting des Experiments durchaus „rational“, die Daten als irgendwie repräsentativ für Linda zu betrachten. Jene Befragten, die für die zweite Antwort optierten, liegen nicht falsch, wenn sie aus Gründen biografischer Plausibilität schliessen, dass Linda eher Bankangestellte und zugleich Feministin ist. Boshafterweise könnte man sagen, dass man in ihnen mit dem Versuchsarrangement überhaupt erst jene kognitive Verzerrung hervorruft, die man dann nachzuweisen sucht.

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Anders gesagt: man „schubst“ sie mittels ausgewählter Informationen zu einer bestimmten Entscheidung an. Das erweist sich im heutigen Konsumuniversum als von zentraler Bedeutung. Denn in ihm sind wir permanent mit gösseren und kleineren Entscheidungen konfrontiert: Essen, Kleidung, Auto, Handy, Sportart, Mobiliar, Ferienort, Arzt, Krankenkasse, Altersvorsorge, Stromanbieter, Netzserver, Politiker – immer haben wir die Wahl. Das Angebot der Wahlmöglichkeiten wächst stetig und ihre „Schubser“ versetzen uns quasi in einen metastabilen Dauerzustand, in dem wir riskieren, vor lauter Möglichkeiten das Gleichgewicht zu verlieren, das heisst nicht zuletzt: uns von falschen Entscheidungen leiten zu lassen. Um aus ihnen zu lernen, hat der amerikanische Rechtswissenschafter Cass Sunstein eine neue Politik vorgeschlagen, die er mit dem Begriff des „Schubsens“ („Nudge“) umschreibt.  Die Schubs-Politik scheint bei Regierungen durchaus Anklang zu finden. Barack Obama berief Sunstein zum Berater (2009 bis 2012). Die britische Regierung baute ein „Behavioral Insights Team“ auf - informell bekannt auch unter dem hübschen Namen „Schubser-Einheit“ („Nudge Unit“). In Frankreich, Australien und  Brasilien trägt man sich mit ähnlichen Plänen.

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Auf den ersten Blick hat diese Politik durchaus etwas für sich. Wir alle handeln oft auf eine Weise, die wir bei eingehender Abwägung vermieden hätten. Wir essen zu fett und trinken zuviel Alkohol, verschieben die Vorbereitungsarbeiten für eine Prüfung, kaufen immer nur teure Markenkleider, werfen Esswaren mit noch nicht verfallenem Datum in den Abfall, halten Verabredungen nicht ein ... Solche Unvernünftigkeiten sind alltäglich. Meist haben wir schlicht keine Zeit, uns auf ausgeklügelte Erwägungen einzulassen. Könnte uns da nicht eine entsprechend gestaltete Umgebung – eine „Entscheidungsarchitektur“ -  helfen, das „Vernünftige“ zu tun? Eine Schulmensa präsentiert zum Beispiel gesunde Esswaren auf Augenhöhe der Schüler, während sie Junkfood in eine weniger sichtbare Ecke relegiert - eine einfache Entscheidungarchitektur. Ihr Prinzip: Nimm eine Schwäche der Schüler – Trägheit der Aufmerksamkeit, die sich vor allem auf direkt vor den Augen Liegendes richtet  – , verbinde sie geschickt mit einem Entscheidungsdesign – Anordnung des Essens - , und die Schüler werden in Richtung „richtigen“ Essverhaltens geschubst. Auf eine ähnliche Weise liessen sich die Bürger eines demokratischen Systems für gute Zwecke schubsen, für Organspenden, Unterstützung von öffentlichen Bibliotheken in der Dritten Welt, eine CO2-ärmere Lebensart oder den Kauf von Fair-Trade-Produkten.

Schubsen setzt also bei menschlichen Schwächen – Gewohnheiten, Stereotypien, Trägheiten – an, es versucht sie nicht primär zu korrigieren, sondern bloss sanft in eine gewünschte Richtung zu lenken. Die Wahl hat nach wie vor das Individuum. Schubsen liegt zwischen den Polen des regulatorischen Zwangs (Gurtenobligatorium) und der emanzipatorischen Entscheidung aus eigenen Stücken (Spende an UNICEF). Wenn Sunstein in diesem Zusammenhang von „aufgeschlossenem Paternalismus“ spricht, dann meint er den emanzipatorischen und nicht den regulatorischen Pol. Das heisst, letztlich dient Schubsen der Stärkung der individuellen Urteilsfähigkeit.

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Das ist das Best-Case-Szenario. Wie aber steht es mit der Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz der Schubser? Gerade angesichts des Manipulationspotenzials heutiger Technologie sind grosse Zweifel angebracht. Es klingt schon fast rührend, wenn Sunstein uns versichert, dass Regierungen Berater wie ihn beschäftigen, die, edel gesinnt, verschiedene Alternativen eines politischen oder ökonomischen Kurses durchrechnen, ganz um des Bürgerwohls willen. Wenn uns also eine öffentliche Politik zu einem vernünftigen Verhalten anschubsen will, dann ist es immer angezeigt, zu fragen: Wessen Vernunft? Die Vernunft einer Elite oder die Vernunft des individuellen Bürgers? Die Historikerin Barbara Tuchmann schrieb schon 1984 ein Buch über die Torheit der Regierenden. Und der Moralphilosoph Alasdair MacIntyre meldete seine Zweifel etwa zur selben Zeit an: „Dem Konsumenten, dem Wähler, dem Individuum im Allgemeinen wird das Recht zugestanden, seine Präferenzen in einem Angebot von Alternativen zu äussern, das Spektrum diese Wahlmöglichkeiten wird hingegen gesteuert von einer Elite. Selbst die Präsentation der Alternativen wird von der Elite kontrolliert. Entsprechend hoch wertet (sie) im liberalen System (..) die Kompetenz der überzeugenden Präsentation von Wahlmöglichkeiten – das heisst, die Kompetenz in den kosmetischen Künsten.“

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Die Anthropologie des Schubsens ist von einem Rationalitäts-Pessimismus geprägt: Der Kunde reagiert weniger auf Argumente, als auf Anreize. Das mag in vielen Fällen zutreffen, aber die Schubs-Psychologen erheben diesen Satz zum Axiom, zum Glaubensartikel. Er ist nicht empirisch zu bestätigen, sondern begründet einen Typus von Empirie, die im menschlichen Verhalten vorab „Torheiten“ sucht. Schubsen ist Torheits-Management. Das hat etwas Beleidigendes. Man nimmt mich nicht als Subjekt wahr und ernst.  Vielleicht schubse ich mich ja selbst, aber dieses Schubsen ist ein Akt der Autonomie, dem ein gewisses Nachdenken und Erwägen vorausging. Kant nannte diesen Akt Handeln aus Einsicht, im Gegensatz zum Handeln nach Regeln. Ersteres ist die Grundlage des mündigen Subjekts, in Politik und in Wirtschaft. Wir mögen nicht so smart sein, wie wir meinen; aber doch immerhin smart genug, den Unterschied zwischen beiden Handlungsarten zu bemerken. Dieses Unterscheidungsvermögen bildet die Basis einer (noch zu schreibenden) Kritik der konsumatorischen Vernunft.

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Man möchte Sunstein gerne glauben, wenn er beteuert, dass Schubsen im Dienst der menschlichen Autonomie und Würde stehe. Nichtsdestotrotz manifestiert sich darin eine gegenläufige Tendenz der externen Beeinflussung, als deren Worst-Case-Szenario die Skinnerbox in Sicht kommt: Das ganze Konsumuniversum der permanenten alltäglichen Entscheidungen als das Labyrinth von Laborratten, die ein Schubser in die gewünschte Richtung lenkt. Nur zum Besten des Konsumenten, versteht sich. Vergessen wir die Warnung Kants nicht: „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine väterliche Regierung, wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich und schädlich ist, sich bloss passiv zu verhalten genötigt sind (..), ist der grösste denkbare Despotismus.“

  Die Geburt des Terrors aus dem Geist des Spektakels Terroristen überbieten sich mit Abscheulichkeiten, genauer: mit der Inszenierung von A...