Das Problem mit der Offenbarung
Wenn
junge Muslime einen französischen Priester abschlachten und dabei „Allahu
akbar“ schreien, dann vernimmt man regelmässig die Beschwichtigungsformel, es
handle sich um Gräueltaten von Verlierern, Irregeleiteten oder psychisch
Gestörten, also um eine Anomalie der Religion. So spricht zum Beispiel der mit
allen Wassern gewaschene muslimische Meinungsmacher Tariq Ramadan vom „reinen
Verrat an unserer Religion“. Man hört die Botschaft wohl, allein es fehlt der
Glaube. Die Häufung solcher Taten lässt durchaus die Frage aufkommen: Liegt
Gewalt in der „Wurzel“ des Offenbarungsglaubens? Und schiesst sie gerade
deshalb im Radikalismus so grässlich hervor?
Die
drei grossen monotheistischen Religionen sind Offenbarungsreligionen. Sie
beanspruchen, dass ihre Lehren von Gott selbst dem Menschen verkündet worden
seien. Und sie verlangen, dass diese Lehren von allen akzeptiert werden. Sie
sind intrinsisch missionarisch. Eine Religion aber, die im Auftrag Gottes
vermittelt wird, hat zwei fundamentale Probleme. Erstens: Wie wissen wir, dass
sie von Gott stammt? Zweitens: Was tun mit jenen, die daran zweifeln; wie mit
dem Irrtum und mit den Irrenden umgehen? Kann es überhaupt religiösen Irrtum
geben? Alle drei führenden monotheistischen Religionen haben in verschiedenen
Stadien ihrer Geschichte diese Frage gestellt und oft mit Gewalt unterdrückt.
Platz für den Irrtum
Die
wissenschaftliche Neuzeit ist geprägt und getrieben von einer säkularen
Neugier; von etwas also, das im Mittelalter als Vanitas galt. Und in dieser
Haltung verharrt ein Grossteil des Islams heute noch. Eine Religion aber, für
die alles Wissen bereits in einem geoffenbarten Text steht, kann keinen
Fortschritt durch die Entfaltung der Neugier dulden. In ihrer Logik gibt es nur
die „richtige“ Auslegung der heiligen Schrift. Alles andere ist bodenloser
Irrtum. Und der gehört ausgerottet.
Man
muss sich die fundamentale erkenntnistheoretische Differenz klar vor Augen
führen. Für die Wissenschaft ist der Irrtum der Grundmotor; für die Religion das
Grundübel. Dazwischen spielen sich existenzielle Dramen ab. Wir kennen solche
Dramen aus der Geburtstunde der wissenschaftlichen Neuzeit, bei Philosophen wie
Montaigne oder Pascal. Montaigne „sprang“, da er sah, dass es keine letztgültige
Begründung unseres Wissens gibt, in den Glauben. Ebenso Pascal, von Zweifeln
zerrissen. Selbst Descartes berief sich auf Gott, der die Gewissheiten des
„natürlichen Lichts“ der Vernunft garantiert. Aber hier zeichnet sich auch eine
entscheidende Hinwendung zur Säkularisierung der Vernunft ab. Sie mag ein
göttliches Geschenk sein, aber was wir dank ihres methodischen Leitfadens
erreichen, muss menschlich prüfbar sein, ist, wie Descartes sagt, von
„moralischer“ Gewissheit, also fehlbar. Das war die Geburtstunde des wissenschaftlichen
Irrtums. Er sollte bald auch das Studium der heiligen Schriften infizieren,
denn ein gewisser Baruch Spinoza stellte die häretische Frage, ob wir uns denn
nicht auch in der Textinterpretation irren könnten. Er wurde mit dem „herem“,
dem schärfsten jüdischen Bannspruch belegt, der bis zur Stunde nicht aufgehoben
ist.
Ambiguitätstoleranz
Die
Irrtumsfähigkeit ist nicht auf die europäische Kulturgeschichte beschränkt. In
der Tat existierte sie schon länger in der islamischen Tradition. Der deutsche
Islamwissenschafter Thomas Bauer spricht in diesem Zusammenhang von
Ambiguitätstoleranz. Es gibt nie nur eine einzige Sicht auf ein Phänomen, ein
Objekt, eine Norm, eine Lebensform, eine Doktrin, einen heiligen Text. „Im Grunde sind alle wichtigen Bereiche des klassischen
Islams das Ergebnis eines Kompromisses zwischen einander widerstreitenden,
einander zunächst feindlich gegenüberstehenden Diskursen,“ schreibt Bauer.
Das „Bemühen, Ambiguität zu bändigen, nicht aber zu beseitigen“ charakterisiere
die arabisch-islamische Kultur und Wissenschaft der Blütezeit. So betrachtete
zum Beispiel der Korangelehrte Ibn al-Dschazari im 15. Jahrhundert die Deutungsoffenheit
des Korans als Gnade Gottes. Das heilige Buch, sei „ein gewaltiges Meer, in dem
man nie auf Grund stösst und nie durch ein Ufer zum Halten gebracht wird“.
Eindeutigkeit im Verständnis erschien ihm weder möglich noch erstrebenswert.
Blütezeit und Frühling sind
vorbei
Es
genügt aber heute nicht mehr, stets eine Blütezeit und gute Anlagen in der islamischen
Tradition zu beschwören. Tatsache ist, dass diese Zeit längst hinter uns liegt
und der Islam gegenwärtig hässliche Sumpfblüten der Gewalt hervortreibt. Mehr
denn je zuvor schuldet uns also eine Religion, in deren Namen solche Verbrechen
verübt werden, eine auf die Gegenwart,
und nicht auf eine goldene Vergangenheit zurückbezogene Erklärung, warum sie
immer wieder zur Gewaltrechtfertigung missbraucht wird. Und zum unschönen Teil
einer solchen Erklärung gehört meines Erachtens, dass ein Gewaltpotenzial in
der Logik der Offenbarungsreligionen steckt. Es fehlt ihnen, um es auf einen
provokativen Punkt zu bringen, ein Diskurs, der mit Irrtümern und abweichenden
Interpretationen der heiligen Texte umzugehen erlaubte. Ein solcher Diskurs
bedeutet, anders gesagt, dass man den Wert der freien Glaubensausübung dem Wert
der friedlichen Koexistenz in einem säkularen Rahmen unterordnet. In diesem
Rahmen haben geoffenbarte Wahrheiten und Gebote keinen Anspruch auf öffentliche
Verbindlichkeit oder Diskurshoheit. Erheben sie ihn, dann sind sie
unmissverständlich in der Rahmen des Privaten und Persönliche zu verweisen. Offenbarung
hat in der Politik nichts zu suchen.
Ethischer Fortschritt heisst
Toleranz für den Irrtum
Das
Heimtückische in der Logik jeder Offenbarungsreligion liegt darin, dass sie
aufs Ganze geht; und wenn es ums Ganze geht, entscheidet keine neutrale
Instanz, kein Drittes. Oder vielmehr: dieses Dritte liegt ausserhalb
menschlicher Reichweite, es ist der Gott, an den man glaubt. Ende der Debatte. Und
hier manifestiert sich der tiefe Unterschied zwischen Gesellschaften, die ihre
Fundamente auf religiösen, und Gesellschaften, die ihre Fundamente auf
säkularen Boden setzen. Für Letztere gibt es ein Drittes in menschlicher
Reichweite: den Irrtum. Er ist die Quelle der Toleranz. Somit ein Markstein ethischen
Fortschritts. Und genau hier hinken Offenbarungsglaube und Unfehlbarkeitsanspruch,
seien sie christlich, jüdisch oder islamisch, der Moderne hinterher.