Donnerstag, 16. Juni 2022

 


Der Titel unseres Buches weckt sogleich Assoziationen. In der Tat gehen wir aus von Walter Benjamins berühmter These, dass das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit seine Einzigartigkeit – seine Aura - verliere. Traditionellerweise identifizierte man Charakter und Wert eines Kunstwerks mit dieser Aura des Originellen und des Unikats. Wir kehren nun die These sozusagen um: Ein Kunstwerk zeichnet sich gerade dadurch aus, dass wir es in einer Serie betrachten und beurteilen können. Seine Einzigartigkeit gewinnt es im Kontext des Seriellen. Den schöpferischen «lucky punch», die künstlerisch-geniale Creatio ex nihilo sehen wir als «romantischen» Mythos an. Schon ein kursorischer Blick in die Kunstgeschichte zeigt das triviale Faktum, dass viele, wenn nicht die meisten künstlerischen Werke aus der unermüdlichen Iteration von Versuch und Scheitern hervorgehen. Maler zum Beispiel beschäftigen sich immer wieder mit einem Motiv – «mühen» sich damit «ab» -, ohne es vielleicht je zum «Abschluss» gebracht zu haben. Unserer Meinung nach liegt in dieser Unabgeschlossenheit das Wesen des künstlerischen Prozesses. Sie hat viele Aspekte, und auf einige gehen wir in diesem Buch näher ein.

Unser Blick bleibt allerdings nicht auf bildende Kunst beschränkt. Wir erweitern ihn auf Literatur, Musik, Wissenschaft, Technik, Industrie, Architektur, Konsumwelt, Raumplanung, Militär. Das heisst, das Thema des Seriellen weist in unseren Augen nicht nur auf ein zentrales Merkmal der Kreativität hin, es bietet sich als Schlüsselphänomen unseres Zeitalters an; begegnen wir doch der Serialität auf den  beiden heute zentralen Forschungsgebieten der Computerwissenschaften und Künstlichen Intelligenz wie auch der Biologie und der Gentechnologie. Und so wie das Serielle den Bereich des Künstlichen mit dem Bereich des Natürlichen verknüpft, so sucht unser Buchprojekt disziplinübergreifend nach Zusammenhängen. Wir bieten freilich keine «Theorie» an, wir legen das Gewicht auf das einsichtig Exemplarische, das heisst, die «Theorie» sollte sich im besten Fall am Beispiel zeigen, ganz nach dem Motto von Goethe: «Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele, zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, das für Theorie gelten könnte» (Maximen und Reflexionen,1230). In diesem Sinn verstehen wir das Projekt sozusagen als Initiator zum Weiterschauen, zum seriellen Schauen, zwischen den Disziplinen hindurch. 


NZZ, 9.4.24 Sokrates und der ChatGPT Schreiben in der postliterarischen Welt Die Schrift ist eine alte Technologie. Aber als sie neu war, er...