Dienstag, 27. April 2021





NZZ, 23.4.2021

Riesen zur Schnecke machen

Cancel Culture in Wissenschaft und Philosophie

Es gibt eine Wissenschafts- und Philosophiegeschichte, die auf Heroismus baut. Sie kuratiert ihre Helden und Legenden. Und sie hat eine Lieblingsmetapher: Wir stehen alle auf den Schultern von Riesen. Die klassische Physik steht auf den Schultern von Newton, die moderne Biologie auf den Schultern von Darwin, die aufgeklärte Philosophie auf den Schultern von Kant, und so weiter. Jede Disziplin wartet mit solchen Riesen auf. Nur weil wir deren Geisteshöhe erreicht haben, so suggeriert das Bild, können wir jetzt weiter blicken.


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Das Bild hat eine fiese Rückseite. Sie zeigt sich aktuell in der Praxis namens «Cancel Culture». An einer amerikanischen Privatschule spricht man im Physikunterricht nicht mehr von Newtons Ge-setzen, sondern von den fundamentalen Gesetzen der Physik. Grund: Newton war ein weisser Mann. Und die Schule sähe es als geboten an, sagte ein Schüler, das weisse Weltbild zu dezentrieren.  


Nicht nur das: Es scheint in Schwang gekommen zu sein, die Riesen als Dreckskerle zu entlarven. Nicht Newton, aber andere. Jüngst hat es den französischen Philosophenkönig Michel Foucault erwischt. Ein Artikel der britischen Times stellt ihn hin als Pädophilen, der es mit minderjährigen tunesischen Knaben auf dem Friedhof von Sidi Bou Said trieb. Ein anderes rezentes Beispiel ist Ronald Fisher, ein Pionier der modernen Statistik und Evolutionstheorie. Nach ihm ist der Fisher-Preis benannt, eine der höchsten Ehren der Disziplin. Seit 2020 trägt der Preis nicht mehr Fishers Namen. Der Wissenschafter wurde eugenischen und rassistischen Gedankenguts «überführt». Kant und Voltaire, die Riesen der Aufklärung, erfahren heute ein Bashing aufgrund ihrer rassistischen Äusserungen. Francis Bacon, einer der ersten modernen Naturphilosophen, sprach von der «männlichen Geburt der Zeit» und er forderte die Forscher zur Bandenvergewaltigung der Natur auf. Man müsste ihn also schleunigst als Chauvi aus der Geschichte tilgen. So gesehen kann man den Radiergummi gleich bei Aristoteles ansetzen. Er war xenophop, sexistisch, ein Verfechter der Sklaverei. Und mit dem purifizierten Blick liesse sich die gesamte europäische Geistesgeschichte auf Moralschurken durchstöbern. So dass wahrscheinlich am Ende nur noch ein paar integre Geisteskümmerlinge übrig blieben.


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Brillante Denker können moralisch anrüchig, geradezu Ekel, sein, und ihre Brillanz dient ihnen nicht selten als Lizenz ihrer moralischen Verderbtheit. Aber müssen wir deswegen jetzt zu einer radikalen postumen Geschichtssäuberung antreten? Soll ich jetzt «Sein und Zeit» wegwerfen, weil der Autor ein Nazisympathisant war? Soll ich Marx nicht mehr lesen, weil ihn auch Stalin, Mao oder Pol Pot lasen? Soll ich den Fisher-Test in der Statistik nicht mehr durchführen, weil Ronald Fischer ein unbelehrbarer «Volksveredler»  war? Sollte man den Satz des Pythagoras vom Lehr-plan streichen, wenn sich herausstellte, dass der griechische Mathematiker sich an seinen Jüngern reihenweise sexuell verging?


Man mag solche Fragen albern finden, aber sie sind Ausdruck des sogenannten genetischen Fehlschlusses. Man beschäftigt sich nicht mit der Geltung einer Aussage, sondern mit deren Urheber. Etwas läuft schief. Denken ist eine soziale Tätigkeit. Ein untrügliches Indiz des Denkens ist des-halb die Beobachtung, dass andere auch denken. Eine häufig angewandte und perfide, weil nicht auf ersten Blick erkennbare Form der Diskreditierung besteht darin, dass man im Denken des Anderen nur den Anderen und nicht sein Denken wahrnimmt und anspricht. Im Englischen spricht man von „Bulverismus“. Der Begriff stammt vom Schriftsteller Clive S. Lewis, genauer von dessen fiktiver Figur Ezekiel Bulver, der als Knabe hörte, wie seine Mutter die Beweisführung seines Vaters, die Summe zweier Seiten eines Dreiecks sei grösser als die dritte Seite, mit den Worten abschmetterte: Du sagst das nur, weil du ein Mann bist. In zeitgemässer «identitäts-politischer» Formulierung hiesse das: Weil du männlich, weiss und alt bist. Man geht vom Axiom aus, dass der Andere falsch liegt, und erklärt, warum er falsch liegt. Auf die Cancel Culture bezogen: Man geht davon aus, dass der Andere ein Dreckskerl ist, und zeigt, wie seine Arbeiten von seinem Charakter besudelt sind.  Der Philosoph Leo Strauss prägte den Begriff «Reductio ad Hitlerum»: Man bringe eine Aussage auf irgendeine Weise in Verbindung mit Äusserungen des Führers und seiner Entourage, und schon ist sie als «faschistisch», «nazistisch» oder «antisemitisch»  diffamiert – also auslöschen. 


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So wie die Aufklärer einst für die Trennung von Staat und Kirche eintraten, so müsste sich heute eine neue Aufklärung für die Trennung von Erkenntnis und Moral stark machen. Aus der Vermischung beider entsteht ein giftiges Motivationsgebräu, das leicht in Hauen und Stechen endet. Das bedeutet nicht, dass Erkenntnis nichts mit Moral zu tun hätte, es bedeutet, epistemisches und moralisches Urteil klar zu unterscheiden. Geistesgrösse bürgt nicht notwendig für moralische Grösse, und umgekehrt. 


Ich kann also den Fisher-Test umbenennen, weil er mit dem Namen eines Rassisten kontaminiert ist, aber damit entbinde ich mich bloss von der Denkarbeit, die Fehlerhaftigkeit der rassistischen Argumentation nachzuweisen. Man kann jetzt Foucault als Dreckskerl schmähen, wichtiger wäre freilich das «Schmähen» seiner Theorie der Sexualität, die den Verkehr von Erwachsenen und Minderjährigen legitimieren soll. Foucaults Behauptung etwa, ein Kind sei sexuell souverän -  fähig, zu erklären, was mit ihm geschah und fähig, seine Zustimmung zu geben -, gehört in die Demontage. Und wichtiger in diesem Zusammenhang wäre ohnehin eine Kritik der nicht nur in Frankreich endemischen Kastenarroganz von Intellektuellen, die sich jenseits von Gut und Böse wähnen. Man muss ihnen nicht den moralischen, sondern den denkerischen Prozess machen.


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Cancel Culture entpuppt sich  – wie gesagt -  als Symptom einer intellektuellen Misere, nämlich sich nicht genauer mit dem  Gedankengut hinter einem «inkriminierten» Namen zu beschäftigen. Man könnte vom Prinzip der übelwollenden Interpretation sprechen. Es versprüht das Miasma des Misstrauens, Unterstellens, Denunzierens. Eigentlich handelt es sich um magisches Denken: Indem man den Namen auslöscht, wiegt man sich im falschen Bewusstsein, das Gedankengut hinter dem Namen auch beseitigt zu haben. Cancel Culture ist eine Form von Denkflucht.


Wie der Erfinder der Bulverismus schrieb: «Solange der Bulverismus nicht zerschlagen ist, kann die Vernunft keine wirksame Rolle in menschlichen Angelegenheiten spielen. Jede Seite schnappt sie sich als Waffe gegen die andere, aber zwischen den Fronten gerät die Vernunft in Verruf.» Damit landen wir auf Feld eins der Aufklärung. Denn ihr ging es genau um eine nicht parteilich vereinnahmte Vernunft, die als universeller «Gerichtshof» zwischen gegnerischen Positionen vermitteln könnte. Cancel Culture diffamiert aufklärerische Ideale: sie zersetzt den argumentativen Streit im Schlichten von Meinungsdifferenz, wertet  das Streben nach objektivem Wissen ab, verhindert eine „Dreifach-F-Diskussion“: frank, frei, furchtlos. 


Kant ahnte, dass ein „Gerichtshof der Vernunft“ ein unerreichbares Ideal darstellt. Zumindest in  heutigen heterogenen Gesellschaften ist das der Fall. Und so gesehen, stehen wir vor einem post-kantischen Dilemma: Verstockte kulturelle Heterogenität verträgt sich nicht mit einer universellen Rationalität. Uns bleibt fallweise zu verhindern, dass diese Unverträglichkeit gewaltförmige Züge annimmt. Denn andernfalls ist die Vernunft – so Kant – «gleichsam im Stande der Natur, und (sie) kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen als durch Krieg.“ Er-setzen wir «im Stande der Natur» durch «im Stande der Identitätspolitik», dann charakterisieren wir aufs trefflichste den eklatanten geistigen Rückschritt, den die Cancel Culture mit sich bringt.






Donnerstag, 15. April 2021


 Neu im Herbst 2021




Vorwort

Die vorliegende Essaysammlung dreht sich um das Thema ökologisches Denken und Mikrobe. Und sie weckt sofort Reserve: Schon wieder ein Buch über die Krise, wenn wir doch noch mitten drin stecken? Deshalb sei eine kleine Erläuterung vorangestellt, um falsche Erwartungen gleich am Anfang zu dämpfen. Es geht in den folgenden Stücken zwar immer auch um Ökologie und Viren, primär aber um Verhaltens- und Denkweisen, die sich unter den Bedingungen der Pandemie radikal herausgefordert sehen. Ich will damit nicht die Pandemie zur alleinigen Urheberin dieser Herausforderung erklären. Sie gehört latent seit gut fünfzig Jahren zum Planeten „in der Krise“. Das Coronavirus hat diese Latenzphase nur dramatisch beendet. 

Und es hat unser ökologisches Denken kalt erwischt. Nachdem der Naturwissenschafter James Lovelock die Erde als einen Geo-Organismus postulierte – „Gaia“ – und der Philosoph Bruno Latour eine neue planetarische Gemeinschaft und „Solidarität“ aller Lebewesen heraufbeschwor, machen plötzlich die kleinsten und primitivsten Mitglieder dieser Gemeinschaft unliebsam von sich reden: die Mikroben. Und aus der selbstattestierten fort-geschrittenen Position unseres modernen Lebens heraus stellen wir perplex fest: Diese primitiven Dinger können unsere komplexe Lebensform ja ganz schön durcheinanderbringen. Wir richteten unser alarmiertes Augenmerk bisher auf die Makro-Skala des Klimawandels, und vernachlässigten sträflich die organische Mikro-Skala im gesamtplanetarischen „oikos“, dem Haushalt der Erde. Jetzt stellt sich heraus: Unser Planet ist ein gewaltiger Keimträger. Und ökologisch sein bedeutet, auch mit den kleinsten Mitbewohnern zu rechnen. In Zukunft wahrscheinlich erst recht. Das schliesst selbstverständlich nicht aus, sich vor ihnen zu schützen, oder sie unschädlich zu machen. Es bedeutet, dass wir, wenn wir heute unbescheiden das Erdzeitalter des Anthropozäns ausrufen, uns von den Mikroben in der Sprache der Epidemien belehren lassen müssen: Uns gibt es seit über drei Milliarden Jahren.  Willkommen im Viro- und Bakteriozän! 

Ich werfe im Folgenden einen Blick auf ein paar zentrale Konzepte, die primär dem biomedizinischen Diskurs entstammen, die nun aber infolge der Umstände sozusagen auch den kulturellen Diskurs „infizieren“. Das ist seit Michel Foucault längst bekannt. Und ihn lasse ich denn auch aussen vor. Ich möchte vielmehr den inspirierenden „philosophischen“ Charakter des Virus hervorheben, die Art, wie es unser Denken über Altbekanntes anregen könnte und müsste: über Immunität, Infektion, Identität, Isolation, Eigenes und Fremdes, Zufall, Komplexität, Ungewissheit und Unbekanntes, Natürliches und Unnatürliches, Reinheit und Dreck. 

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So nimmt im Zeichen des Coronavirus die Diskussion über die Bedeutung der Immunität Fahrt auf, das heisst, über das bisher vorherrschende Paradigma der Abwehr. Es zeichnet den menschlichen Körper als eine Festung, die sich bereits auf zellulärer Ebene stets gegen fremde Eindringlinge wehrt. Dieses Paradigma sieht sich schon seit einiger Zeit herausgefordert durch ein anderes, das nicht bloss den defensiven Aspekt der Immunantwort thematisiert, sondern auch den explorativen. Die Abwehrzellen des Körpers dienen, kurz gesagt, ebenfalls der Erforschung der Körperumgebung, sie erkunden die potenziell gefahrvollen Eigenschaften dessen, was eindringt, sie „lernen“ daraus und definieren recht eigentlich die Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst. 

Infektion bedeutet in diesem Bild also stets auch Information – Information über einen potenziellen Schädling oder Feind. Wenn Immunisieren einerseits Grenzziehen bedeutet, dann andererseits auch Grenzerkundung. Das ist im Übrigen genau das, was der „Intelligence“ eines Nachrichtendienstes obliegt: Information sammeln über den potenziellen Feind - über nationale Grenzen hinweg. Das Immunsystem ist die CIA des Körpers. 

Der britische Medizinanthropologe David Napier bringt das evolutionäre Paradox auf den Punkt: Wenn der Schutz vor fremden Eindringlingen ein einfaches darwinistisches „Ziel“ ist; warum brauchen wir Schutz vor etwas, das gar nicht lebt und angewiesen ist auf seine Animation durch uns? Viren sind einfach Informationsstrukturen, die über Jahrtausende hinweg inaktiv bleiben können, bis unsere Zellen sie zum „Leben“ erwecken, zu unserem Nutzen oder Schaden. 

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In der Coronakrise scheint auch ein neualter Diskurs wieder zu erwachen. Er entstammt dem religiösen Umfeld, und er munitionierte früher die Menschen mit Erklärungen von Kalamitäten und Katastrophen: der Diskurs der Strafe und Rache. Religiöse Schutzmass-nahmen beriefen und berufen sich immer auf Bitt- und Bussrituale, in denen man Gott quasi ins Abwehrdispositiv einbaut. Im säkularen Kontex, in dem wir heute leben, darf man solche Massnahmen füglich als unwirksam und – wenn kollektiv vorgeschlagen – als fahrlässig betrachten. Über der Frage, ob Impfen ein Ersatz dafür sei, liegt man sich heute bekanntlich in den Haaren. 

Komplementär zum Straf- und Rachediskurs suggeriert der Jargon der Natürlichkeit, dass nur ein „naturgemässes“ Leben Schutz und Überleben gewährt. Hier wird die Natur nicht als Rächerin, sondern als Retterin evoziert. Man findet dieses Argumentarium jetzt häufig bei Gegnern des Impfens und anderer „unnatürlicher“ biomedizinischer Techniken. Eine Grundannahme scheint stets durch: Der Körper „weiss“ es besser. Im Grunde findet sich auch hier wiederum das Begriffspaar des Eigenen-Fremden, des eigenen Körpers und der fremden, ihm „auferzwungenen“, seine „Freiheit“ in Frage stellenden Substanzen.

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Das Coronavirus hat binnen kurzem unsere Verhaltensweisen gründlich umgekrempelt. Verhaltensweisen sind grösstenteils Berührungsweisen. Der Händedruck ist eine Berührungseinheit, wie ein Kuss, eine Umarmung, ein High Five, ein Schulterklopfen. Wahrscheinlich entspringt er einem angeborenen Impuls nach körperlichem Kontakt mit der Umwelt. Zugleich steckt in ihm eine Ambivalenz, denn wir erfahren schon von klein auf, dass dieser Kontaktdrang auch Gefahren mit sich bringt. Wir erfahren jetzt, dass die Hände selbst zu einer Gefahr werden, etwas möglicherweise geheim Tödliches enthalten. Wie ein Arzt von der Mayo-Klinik sagte: «Wenn du die Hand ausstreckst, streckst du eine Biowaffe aus.» Weshalb Anthony Fauci sich zur trüben Aussicht veranlasst sah: «Wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass wir uns jemals wieder die Hände schütteln werden.»

Das Jahr 2020 wird uns wohl in Erinnerung bleiben als ein globales Experiment im Distanzhalten. Wir exilieren uns zuhause, verdächtigen schon fast instinktiv die Nähe des anderen Menschen als Gefahrenherd. Der Lockdown erinnert uns daran, wie eng und stark unser Körper – sprich: unser Ich -  mit seiner Umwelt verschränkt ist. Wir leben körperlich in einer Ökologie der Verhaltensweisen und Gewohnheiten. Ein Körperteil gehört nicht nur anatomisch zu mir, er ist in einen persönlichen Verhaltensspielraum eingebettet. Zum Bei-spiel meine Hand: Sie definiert nicht mein Verhalten, mein Verhalten definiert sie. Einen Leib haben, schrieb der Philosoph Maurice Merleau-Ponty verallgemeinernd, „heisst für den Lebenden, sich einem bestimmten Milieu zuzugesellen, sich mit einem bestimmen Vorhaben zu identifizieren und sich darin ständig zu engagieren.“ Genau dies trifft auf die Entzugserfahrung vieler Menschen in der Pandemie zu: Sie finden nicht mehr zu „ihrem Milieu“ – im Club, im Stadion, in der Gesprächsrunde, in der Familie. Sie erfahren sich als entsprechend verhaltens-amputiert und damit als körperlos.

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Epidemien sind episodisch. Sie haben einen Anfang und ein Ende. Das verleitet zum Fehlschluss, dass nach dem Ende „alles vorbei ist“. Man könnte von der Illusion der fortgesetzten Normalität sprechen. Ich möchte diese Sichtweise sozusagen umstülpen: Der Normalfall ist ein kurzfristiger „glücklicher“ Zeitabschnitt in einer fortlaufenden Abfolge von nicht-normalen Ereignissen. Auf eine Formel gebracht: Die Ausnahme ist die Regel.  

Gemünzt auf hochtechnisierte Gesellschaften heisst das:  Das Epidemische - das „über das ganze Volk Verbreitete“ – ist nicht episodisch, sondern chronisch. Und dies aufgrund der komplexen Verkehrs-, Produktions-, Verteilungs-, Energieversorgungs-, Finanz-, Kommunikationsnetze. Je vernetzter ein System, desto anfälliger und leitfähiger wird es für die Ausbreitung lokaler Störungen. Es herrscht nicht die lineare Kausalität, sondern die Netzkaskade: die Störung verstärkt sich. Ein Virus bricht aus seiner ökologischen Nische aus und verursacht eine Pandemie; ein Baum fällt bei einem Gewitter auf eine elektrische Leitung und legt die Kommunikation eines Landesteils lahm; ein Bot infiziert das Internet der Dinge und die Dinge spielen verrückt. Hohe Vernetztheit bedeutet auch hohe Verletzlichkeit. Zu dieser Verletztlichkeit gehört unsere Ungewissheit angesichts von Situationen, wie wir sie gerade in der Pandemie erleben. Hier haben wir es mit zwei Fragedimensionen zu tun, einer biologisch-epidemiologischen und einer soziologisch-politischen: Was wissen wir über das Virus und seine Verbreitungswege? Und: Was wissen wir über die gesellschaftlichen Kollateralfolgen der Pandemie?  

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Das führt zur generellen Frage nach der Handhabung der Ungewissheit in der Zukunft. Gerade das launische Verhalten des Coronavirus zeigt ja, dass es unseren Abwehr- und Vorbeugemassnahmen immer voraus ist, ja, dass womöglich gerade der „Selektionsdruck“ solcher Massnahmen es zu Mutationen veranlasst. Auch hier kommt die ökologische Vernetztheit zum Vorschein. So wie wir auf das Mikrobiom einwirken, so wirkt es auf uns zurück. Das kann symbiotische, aber auch dysbiotische Folgen haben. Erklärungen mit einfachen kausalen Einwegverbindungen greifen hier zu kurz. Wir befinden uns, anders gesagt, auch in einer epistemologischen Krise. Sie äussert sich wissenschaftsintern zu-nächst einmal im wiederholten Eingeständnis der Forscher, wie wenig sie wüssten, in Appellen an die erkenntnistheoretische „Demut“, in Debatten über Möglichkeiten und Gren-zen bestimmter wissenschaftlicher Methoden - vor allem der intensiv datenbasierten. Ex-tern beobachten wir eine wachsende, man möchte fast schon sagen: epidemische Skepsis gegenüber den wissenschaftlichen Experten und den Griff zu selbstgestrickten Theorien, vorzugsweise konspirativer Art. Dieser antiwissenschaftliche Reflex kann sich als verhängnisvoll herausstellen, sollte er in Zukunft die wissenschaftliche Zuverlässlichkeit immer mehr unterminieren. 

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Hier meldet sich schliesslich auch das Szenario der „letzten Seuche“, wie es der Virologe Nathan Wolfe nennt.  Man kann es optimistisch oder pessimistisch interpretieren. In der ersten Interpretation triumphiert schliesslich die Wissenschaft dank ihrer Fortschritte, sie wird Herrin der Epidemien. In der zweiten wird uns die Mikrobe beherrschen, in dem Sinn, dass sie zur Selbstauslöschung des Menschen, zum Omnizid führt. Diese apokalyptische Vision ist „romantischen“ Ursprungs. Man muss sie nicht wörtlich nehmen, aber sie bringt doch als ein Memento klar die prekäre Stellung des Menschen auf diesem Planeten zum Ausdruck.  

Ich beschwöre hier – um dies zum Schluss gleich vorweg zu betonen - kein postpandemisches Szenario, weder eine neue noch eine alte „Normalität“. Ich schlage vielmehr ein neu-es Motto für ökologisches Denken vor: Ende der Keimfreiheit. Was sich über das Leben auf unserem Planeten sagen lässt, kann auf unser Denken übertragen werden. Es findet nie in aseptischen Räumen statt, es muss ansteckender Herd sein, es lässt sich nur begrenzt „purifizieren“. Die „reine“ Vernunft gibt es nicht. Menschliches Denken ist immer kontaminiert, „verdreckt“. Und „sauberes“ Denken“ schafft den Dreck einfach anderswo hin. Was wir brauchen, ist ein Denken sub specie sordis – ein Denken unter dem Gesichtspunkt des Drecks. Die Mikrobe ist unsere Lehrmeisterin. 





Freitag, 9. April 2021




Unseren täglichen R-Wert gib uns heute

Eine Zahl bestimmt gegenwärtig unser tägliches Leben – sie entscheidet, ob wir im Restaurant essen, ins Theater oder ins Kino gehen, ein Fest veranstalten, ein Fussballspiel im Stadion verfolgen, in die Ferien reisen können. Sie führt Politiker an der Nase herum, lockt Spinner aus ihren paranoiden Winkeln, treibt die einen zum Psychiater, die andern auf die Strasse,  sie bringt ganze Berufszweige zum Verdorren, wenn nicht gar Absterben, sie vergiftet das Zusammenleben der Generationen.  


Gemeint ist natürlich die Zahl R0, die Basisreproduktionsrate des Coronavirus. Vor gut einem Jahr hätte wohl kaum jemand diesem epidemiologischen Parameter Aufmerksamkeit geschenkt. Nun beherrscht er die Schlagzeilen. So wie das Bulletin of Atomic Scientists die metaphorische «Uhr des Jünsten Gerichts» einführte, um die Zeit bis zu einer globalen Katastrophe anzuzeigen, so scheint sich jetzt R0  zu einem numerischen Orakel zu entwickeln, das unser Zukunftsszenario festlegt. Die Forschung konzentriert sich verständlicherweise auf den praktischen Aspekt, auf die statistische Analyse der verfügbaren Daten, anhand derer die Politik der öffentlichen Gesundheit Entscheidungen treffen kann. Und dabei geht leicht vergessen, dass man die Zahl eigentlich gar nicht genügend versteht. 


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Eine Grundhindernis liegt darin, dass man den R0-Wert nicht direkt messen kann. Die Epidemiologen müssen ihn stattdessen aus statistischen Modellen abschätzen.  Sie müssen dazu nicht nur die Frage beantworten: Wie viele Personen werden angesteckt – welche «exponentielle Wucht» hat die Epidemie? -, sondern auch: In welcher Zeit geschieht das – welche Wachstumsrate oder «Geschwindigkeit» hat die Epidemie? Zwischen Wucht und Geschwindigkeit vermittelt ein weiterer, meist nicht explizit genannter Parameter: die Generationszeit. Sie gibt das Zeitintervall an zwischen der Infektion einer Person und den von ihr infizierten Folgefällen. 


Nehmen wir an, eine Person infiziert zwei weitere Personen: R0 = 2. Bei einer Generationszeit von – sagen wir -  4 Tagen heisst das: 100 Personen stecken innerhalb von 4 Tagen durchschnittlich 200 weitere Personen an. Senken wir die Reproduktionszahl auf 1.15, würde der gleiche Verdoppelungseffekt erzielt, er bräuchte allerdings rund 20 Tage  (die Generationszeiten verhalten sich wie der Logarithmus der Reproduktionszahlen). Ohne Angabe der Generationszeit ist ein R0-Wert nicht aussagekräftig genug. Und das lässt sich verallgemeinern:  Die Abschätzung von R0 fällt je nach Modellannahmen völlig unterschiedlich aus. 


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Die Crux liegt darin, dass kein eindeutiges, «paradigmatisches» Modell existiert. Zunächst ist es schwierig, den genauen Infektionszeitpunkt zu bestimmen. Deshalb greifen die Epidemiologen zu einem Stellvertreterkonzept, dem sogenannten seriellen Intervall, der Zeit zwischen dem Auftreten von Symptomen bei Person A und dem Auftreten bei der von A infizierten Person B. Man kann zur Abschätzung dieses Intervalls auf Daten des Contact-Tracings zurückgreifen. Aber trotz der Verwandtschaft beider Konzepte muss man unter Umständen mit sehr unterschiedlichen Resultaten rechnen. 


Hiezu wiederum ein Zahlenbeispiel. Person A infiziert sich an Tag 1. Sie entwickelt an Tag 5 nach der Infektion Symptome. Nun steckt sie an Tag 8 eine weitere Person B an. Die Symptome zeigen sich bei B an Tag 10. Die Generationszeit beträgt also 7 Tage (8-1), das serielle Intervall bloss 5 Tage (10-5). Die Situation verkompliziert sich, wenn man die asymptomatische Virenübertragung berücksichtigt. Die Biologen Jonathan Dushoff, Joshua Weitz und Sang Woo Park fanden heraus,  dass sich bei COVID-19 die Generationszeiten symptomatischer und asymptomatischer Virenübertragung erheblich unterscheiden. Covid-19 kennt auch die präsymptomatische Übertragung. Symptome manifestieren sich beim Anstecker später als beim Angesteckten. Das serielle Intervall nimmt dann negative Werte an. Zum Beispiel steckt A  B an Tag 4 an. Nun zeigt B an Tag 8 Symptome, A erst an Tag 10. Die Generationszeit beträgt nun 3 Tage (4-1), das serielle Intervall -2 Tage (8-10). 


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Eine möglichst genaue Schätzung von R0 ist in der frühen Phase einer Epidemie zweifellos von grossem Nutzen. Aber eine Politik der Eindämmung braucht den effektiven Wert Re , die Reproduktionszahl zu einem Zeitpunkt nach Beginn der Pandemie. Und diese Grösse hängt nicht bloss von der viralen Dynamik ab, sondern von vielen weiteren Parametern, gerade auch von den Interventionen, mit denen wir der Epidemie begegnen: Quarantäne, Impfen, Shutdown, Contact-Tracing. Eine Epidemie ist ja nicht einfach ein Naturereignis, sondern ein gesellschaftlich-natürlich verkoppeltes Geschehen mit dem Virus als Kopplungsfaktor. Das führt uns in aller Schärfe die Komplexität des Phänomens vor Augen. Ein bekannter Problembrocken in der Bestimmung von Re ist der Meldeverzug von Krankheitsfällen. Das BAG rechnet schweizweit mit 10 bis 13 Tagen. In der Öffentlichkeit herrscht nun allerdings kaum Akzeptanz für nachhinkende Daten. Man will über die aktuelle Lage informiert sein, mehr noch: man will Zukunftsaussichten. Deshalb haben die Biostatistiker die Schätzmethode des Nowcasting eingeführt. Man korrigiert die Zahl der gemeldeten zurückliegenden Neuinfektionen durch eine geschätzte Zahl für die Gegenwart und errechnet so die künftigen Fallzahlen. Die Erwartung hierbei ist, dass diese Fälle in einigen Tagen, wie geschätzt, auftauchen werden. 

Die Schwierigkeiten, die R-Werte hinreichend verlässlich zu bestimmen, deuten darauf hin, dass unser Bild der Epidemie unvollständig ist. Die Temperatur allein hilft uns ja auch nicht, um ein adäquates Bild des meteorologischen Geschehens zu erhalten. Bei allen Anstrengungen, die man nun zum Verständnis unternimmt, sei nicht eine Ironie der ganzen Situation verschwiegen.  Wir verfügen über riesige Datenmengen,  wir kennen elaborierte statistische Methoden, wir setzen künstlich intelligente Systeme ein, und dennoch ist uns das Virus immer wieder voraus, nicht zuletzt aufgrund seiner Mutationslaunen. Und darüber wissen wir wenig. Eine gewisse epistemische Demut vor der Pandemie ist deshalb angezeigt.


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Es gibt andere Probleme rund um die R-Numerologie. Wenn schon Wissenschafter ihre liebe Mühe mit dem Reproduktionswert haben, dann sollte uns das erst recht als Warnung vor Exegeten in Politik und Medien dienen. Die Versuchung ist gross, den Blick allein auf die Zahl zu fixieren, genauer darauf, ob sie über oder unter dem Wert 1 liegt – und daraus auf den Erfolg einer Coronapolitik zu schliessen. Schon fast lächerlich mutet ohnehin an, wie man das Schicksal unseres Landes als von zwei Nachkommastellen abhängig darstellt - 1.12 oder 1.15 oder 1.18 oder …? Und nachgerade dümmlich-konspirationsselig ist es, das Schwanken durch Mutwillen der Behörden zu erklären. Ein weiteres Problem betrifft die öffentliche Kommunikation der Wissenschafter. Das Nachrichtenportal Nau.ch stellte die plausible Frage «Welche Faktoren spielen neben den bestätigten Fallzahlen eine Rolle bei der Berechnung des R-Werts?» Die Taskforce des Bundes beantwortete sie mit einem biostatistischen Kuddelmuddel aus Poissonprozess, Infektibilitätsprofil, Prior- und Posteriorwahrscheinlichkeit, etcetera.  Wenn Wissenschafter im öffentlichen Dienst eine Laienfrage solcherart abspeisen – wer wundert sich da noch über den arg gebeutelten Ruf des Experten?


Der R-Wert ist eine wichtige statistische Stellschraube, nicht mehr.  Wir sollten deshalb nicht auf sein ständiges Schwanken starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Denn es ist letztlich unser eigenes Verhalten, von dem der Wert abhängt. Und dieses Verhalten hat noch viel zu wenig über wichtigere Stellgrössen gelernt. Zum Beispiel Besonnenheit, Verantwortungsbewusstsein, Selbstsorge. 





NZZ, 9.4.24 Sokrates und der ChatGPT Schreiben in der postliterarischen Welt Die Schrift ist eine alte Technologie. Aber als sie neu war, er...