Mittwoch, 20. März 2019

Fake Think








NZZ, 4.3.2019

Eine Handvoll Symptome

Im Poker existiert der Ausdruck „Fake Think“. Der Spieler zeigt durch Mimik und Gestik an, mit einer schwierigen Entscheidung zu ringen, obwohl er sie schon getroffen hat. Es handelt sich um einen von vielen Tricks, mit denen man sich einen Vorteil durch Vortäuschung von Denken zu verschaffen sucht. Fake Think gibt es auch im – Denken. Denn im Gedankenwettbewerb gilt es oft, Positionen zu gewinnen und zu bewahren, den Gegner zu übertölpeln oder zu beeindrucken, Schwächen zu überspielen oder auf den andern abzuwälzen, kurz: auch im Denken pokern wir.

Fake Think ist nicht identisch mit falschem Denken. Auch entspringt es nicht unbedingt der Intention der Irreführung. Eher betrachtet man es als einen Stil, der intellektuellen Distinktionsgewinn durch die Geste und weniger durch die Substanz des Denkens sucht. Er erfreut sich einer disproportionalen medialen Hochschätzung. Eine kritische Diagnose erscheint angezeigt. Hier eine Auswahl von fünf Symptomen.

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Ein altbekanntes und recht verlässliches Symptom lässt sich am Umgang mit Gegnern oder Gegenpositionen erkennen. Statt des Gegners baut man einen leicht zu bekämpfenden Popanz auf. Man spricht vom Strohmann-Argument. Am Aufbau der Popanz assistiert meist auch ein anderes Symptom des Fake Think, das hier nur kursorisch erwähnt sei: Rosinenpicken, die einseitige Auswahl von Bauteilen des Strohmanns.

In seinem Buch „Aufklärung jetzt“ liefert der Psychologe Steven Pinker schönes Anschauungsmaterial. Die Umweltbewegung despektiert er als „Grünismus“, und zu ihm rechnet er so unterschiedliche Figuren wie Al Gore, Papst Franziskus und – den „Unabomber“ Ted Kaczynski. Autsch, wer möchte als Grüner schon in die Ecke des Ökoterroristen gestellt werden? Den Erzbösewicht der Gegenaufklärung entdeckt Pinker in Friedrich Nietzsche. Nicht nur sei er ein „herzloser, egoistischer, grössenwahnsinniger Soziopath“ gewesen, sondern er habe auch zum „romantischen Militarismus“ des Ersten Weltkriegs wesentlich beigetragen. Ohnehin sei er der philosophische Kopf all der Sünden des 20. Jahrhunderts: des Faschismus, Nationalismus, Populismus, Autoritarismus, Irrationalismus. Im Strohmann-Argument äussert sich häufig auch die Inkompetenz, zu erkennen, dass man einen Strohmann aufgebaut hat. So zeigt sich Pinker erstaunt, dass Nietzsche unter Intellektuellen bis heute populär ist, wo doch das 20. Jahrhundert seine Gedanken definitiv in Misskredit gebracht habe. Der einfache Grund dafür fällt ihm nicht ein: Im Gegensatz zu ihm haben diese Intellektuellen Nietzsche seriös gelesen.

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Ein weiteres Symptom ist der Analogienmissbrauch: Ein Erklärungsmodell wird von einem Gebiet, in dem es erfolgreich ist, unkritisch auf andere Gebiete übertragen. Gegenwärtig bietet sich der Algorithmus als Universal-Analogie an. Das Problem dabei ist, dass sich die Bedeutung der Begriffe beim Analogie-Transfer oft substanziell verändert. So zum Beispiel die Information. Ein biologisches System wie das Gehirn verarbeitet Information anders als ein künstliches System wie der Computer. Zwar kann man, so hat Alan Turing gezeigt, auf einer hochabstrakten Ebene sehr viele Vorgänge analog zu den Operationen eines idealen Computers beschreiben. Aber damit hat man noch kaum etwas auf konkreter Ebene erklärt. Fake Think erweckt jedoch den Eindruck, im Besitz des Universalschlüssels zu allen Phänomenen zu sein. Damit produziert man spektakuläre prognostische Luftnummern. Den Vogel in dieser Trapezkunst schiesst der Grosshistoriker Yuval Noah Harari in seinem Buch „Homo Deus“ ab: „Vielleicht lehnen Sie die Vorstellung ab, dass Organismen Algorithmen sind und Giraffen, Tomaten und Menschen nur unterschiedliche Methoden der Datenverarbeitung. Aber Sie sollten wissen, dass das die gängige wissenschaftliche Lehre ist.“ Wie schreibt man einen Bestseller? Bedien den Hariri-Algorithmus.

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Eine beliebte Denkfigur des Fake Think lautet: Alles hängt (irgendwie) mit allem zusammen. Das führt zum Symptom der Themenschwemme. Als Beispiel dafür stehen die Bücher des Kulturphilosophen Byung-Chul Han im Regal. Von Pinker- und Haririwälzern heben sie sich durch anmutige Schlankheit ab. Thematisch bersten sie jedoch. Schlagen wir das Büchlein „Müdigkeitsgesellschaft“ (2010) auf. Es handelt vorab nicht von Müdigkeit, sondern von Immunologie, Globalisierung, Fremdheit, Disziplinierung, Depression, Langeweile, von der Potenz zum Tun und der Potenz zum Nichtstun, von autistischer Leistungsmaschine und Arbeitsrenitenz, schliesslich von Erschöpfung und – ja, von der Müdigkeit, die wir alle mehr oder weniger im hyperaktiven Hamsterrad der Arbeitswelt spüren. Ein reizvolles Thema durchaus, „irgendwie“ auch zum Denken anregend, nur fehlen diesem Denken quasi die Halt- und Griffmöglichkeiten – wie wenn man kletterte, und sich ständig die Frage stellen muss: Gibt es da überhaupt eine Wand? Fake Think geriert sich als soziokulturelle Grossanalyse, aber die Themenschwemme verrät im Grunde nur eins: analytische Dürre.

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Mit der Themenschwemme korrespondiert das Schwelgen in Begriffskopulationen und volatilen Assoziationen. Unerreichter Meister darin ist Peter Sloterdijk. In seiner Sphären-Trilogie „Blasen“, „Globen“, „Schäume“ bietet er eine Anthropologie des erlebbaren Raumes als „sphärologische“ Gesamtschau an, von der Vertreibung aus der „Blase“ des Paradieses bis zum „Schaum“ des Internets. Hören wir kurz hinein: „Das morphologische Leitbild der polysphärischen Welt, die wir bewohnen, ist nicht länger die Kugel, sondern der Schaum (..) Die aktuelle erdumspannende Vernetzung (..) bedeutet daher strukturell nicht so sehr eine Globalisierung, sondern eine Verschäumung. In Schaum-Welten werden die einzelnen Blasen nicht, wie im metaphysischen Weltgedanken, in eine einzige, integrierende Hyper-Kugel hineingenommen, sondern zu unregelmässigen Bergen zusammengezogen (..) In den Schaumwelten ist aber keine Blase zur absolut zentrierten, allumfassenden, amphiskopischen Kugel erweiterbar; kein Mittellicht durchdringt den Schaum insgesamt in seiner dynamischen Trübheit.“

Das ist keine Parodie. Die Crux eines solchen philosophischen Schaumbads liegt darin, dass es das Unklare und Ungestalte zum „amorphologischen“ Leitbild und das „Verschäumen“ zum Stilprinzip erklärt. Aus der Physik kennen wir die Dissipation, die Umwandlung von nutzbarer Energie in unnutzbare Wärme. Eine Analogie drängt sich hier für Fake Think auf: denkerische Dissipation, das Verpuffen von nutzbaren Begriffen in warme Luft.

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Verwandt damit ist ein Verdünnungsprozess von Theoriefragmenten aus der Wissenschaft. Gern bedient man sich bei der Quantentheorie, die vielerorts als Universaltheorie für alles Unverständliche herhalten muss. Als Klassiker dieses Genres dürfte der verstorbene Jean Baudrillard gelten. Unter Berufung auf Physik und Chaostheorie versuchte er etwa zu zeigen, dass die Geschichte nicht nur kein Ende hat, sondern auch quasi apokalyptisch endlos in sich dreht. Das tönt dann so: „Selbst wenn es sich um das Jüngste Gericht handelt, werden wir unsere Bestimmung nicht erreichen. Wir sind heute von unserer Bestimmung durch einen Hyperraum mit variabler Brechung abgeschnitten. Man könnte die Rückwendung durchaus als eine Turbulenz dieser Art interpretieren, die sich aus einer Beschleunigung von Ereignissen ergibt, welche ihren Lauf umkehrt und ihre Bahn auslöscht. Das ist eine Version der Chaostheorie, die Version der exponentiellen Instabilität.“ Für solchen theoretischen Dünnfluss ist bereits ein Fachterminus im Umlauf: „Theorrhö“.

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Es geht hier nicht um Personen, sondern um einen Denkstil. Wir alle erliegen ihm mal hier, mal dort. Die Auswahl gepriesener Autoren als Beispiele für Fake Think ist natürlich kein Zufall. Im gegenwärtigen Intellektuellen-Suk grassiert der Modus des Sich-zur-Schau-stellens. Deshalb nimmt man am besten jene Celebrities ins Visier, die ihr „Denken“ in grossem Bombast zelebrieren. – Gefragt ist auf jeden Fall ein geschärftes Auge für des Kaisers neue Kleider.


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