Psychologen
und Verhaltensökonomiker führen Experimente durch, die ein Vermögen testen,
welche Statistiker Bayessches Schliessen
nennen, nach dem englischen Geistlichen Thomas Bayes, der im 18. Jahrhundert
wahrscheinlichkeitstheoretische Berechnungen zum Zufall (ein eminent
theologisches Thema) anstellte. Die Fähigkeit erlaubt uns, die Wahrscheinlichkeit
einer Entscheidung auf der Grundlage von vorgängigen Annahmen und zusätzlichen
Informationen einzuschätzen. Der Durchschnittsmensch,
so der allgemeine Befund der Experimente, tendiert zu falschen und oft verhängnisvollen
Schlüssen. Hiezu ein fiktives Beispiel. In einer Studie stellt man fest, dass 90% der Menschen,
die extremistischem Gedankengut anhängen, Muslime sind. Da sieht man es doch,
sagt der Durchschnittsmensch, 90% Prozent der Muslime sind Extremisten. Der Schluss ist selbstverständlich falsch (und diskriminierend).
Er schliesst von Extremisten, die Muslime sind, auf Muslime, die Extremisten
sind. Er berücksichtigt nicht die Zusatzinformation, dass die meisten Muslime
Nicht-Extremisten sind.
Dazu eine kleine Rechnung. Nehmen wir an, die Bevölkerung eines Landes hat einen
muslimischen Anteil von 30%. Der Anteil an Extremisten (jeglicher Couleur)
sei 0.1 %. Betrachten wir eine
Stichprobe von 10'000 Menschen. Darunter sind 10 Extremisten und 9990
Nicht-Extremisten. Unter den 10 Extremisten befinden sich 9 Muslime (90%).
Unter den 9990 Nichtextremisten befinden sich 2997 Muslime (30%). Total sind das 3006 Muslime. Der
Anteil der 9 muslimischen Extremisten beträgt also 9/3006 = 0.003. Die
Wahrscheinlichkeit, dass Muslime extremistischem Gedankengut anhängen, ist somit
3 Promille, oder 3 Muslime auf 1000.
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Ein
zweites Beispiel. Eine Studie stellt fest, dass Männer bei
Frauenvergewaltigungen voreingenommen sind. Das heisst, sie neigen zur
Behauptung, die Frau sei „selber schuld“, sie habe durch ihr Verhalten den
Gewaltakt provoziert. Nehmen wir an, eine Befragung von betroffenen Frauen
zeige, dass 10% tatsächlich die Vergewaltigung vorgetäuscht haben, in diesem
Sinn also „selber schuld“ sind. 90% dagegen sind tatsächlich Opfer. Nehmen wir
weiterhin an, Männer seien zu 50% voreingenommen. Wenn eine Frau vergewaltigt
worden ist, dann sagt die Hälfte der dazu befragten Männer, sie sei „selber
schuld“. Heisst das, dass ein Mann, der sagt, die Frau sei „selber schuld“, mit
einer 50%-igen Wahrscheinlichkeit recht hat?
Nein.
Betrachten wir eine Stichprobe von 100 Vergewaltigungsopfern. Bei 50 Frauen
sagen die Männer aufgrund ihrer Voreingenommenheit „selber schuld“. Nur 5 von
diesen 50 Frauen sind laut Befragung tatsächlich selber schuld (10%). Die
Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau bei einer Vergewaltigung selber schuld ist,
wenn der männliche Zeuge „selber schuld“ sagt, beträgt also 10%. Andersherum:
Wenn ein Mann sagt „selber schuld“, dann ist die Frau mit 90%-iger Wahrscheinlichkeit
tatsächlich vergewaltigt worden.
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Das
zweite Beispiel ist von einiger Brisanz. WikiLeaks-Gründer Julian Assange wurde
bekanntlich 2010 unter dem Verdacht der Vergewaltigung von zwei Frauen verhaftet.
Man sprach in diesem Zusammenhang von Verschwörung, von „Sex-Fallen“, den
unbequemen Zeitgenossen zu diffamieren und politisch kaltzustellen. Nate
Silver, der amerikanische Statistik-Guru, nahm sich in einer Kolumne höchstpersönlich
des Falls an, um zu zeigen, dass die Anklage schwach und politisch motiviert
sei.[1]
Und zwar bediente er sich wahrscheinlichkeitstheoretischer Überlegungen à la Bayessche Regel.
Es gebe von diesem Standpunkt aus gesehen, „viele Ungewissheiten über das, was
sich zwischen Herrn Assange und den beiden Frauen ereignet hat. Das ist normal
in Fällen sexuellen Übergriffs,
der sehr schwer zu beweisen sein kann, teils weil die Opfer oft zu verschreckt
oder traumatisiert sind, um jene Einzelheiten zu liefern, welche die
Strafverfolgungsbehörde verlangt. Aus diesen wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen, so Silver, sei die
Anklage gegen Assange politisch voreingenommen: „In
einer Welt der begrenzten Information könnte die politische Motivation hinter
der Anklage der wichtigste Hinweis auf ihren Verdienst sein.“
Wie
aber, wenn Assange – ein Mann mit „einem
verschrobenen Frauenbild, der kein Nein akzeptieren kann", wie eine
Anklägerin sagte – von jener Art ist,
die ich im zweiten Beispiel besprach: voreingenommen? Müsste nicht gerade ein
„Hexenmeister“ der Statistik wie Silver zuerst auf den Gedanken kommen, Assange
sei einer jener Männer, die „selber schuld“ sagen? Vielleicht hatte also die
Anklage doch nicht so unrecht. -