Freitag, 8. November 2019










NZZ, 5.11.2019

Klimapessimismus
oder Der Verrat des wissenschaftlichen Modells am Menschen


Ohne Zweifel, der Klimawandel steht unter zunehmend pessimistischerem Vorzeichen. Und der Pessimismus sieht sich durchaus bestärkt durch alarmierende klimatologische Befunde, wie kontrovers man sie diskutieren will. Es gibt freilich noch eine andere Quelle des Pessimismus: Wissenschaftliche Modelle unseres kollektiven Umgangs mit Allgemeingütern. Deshalb werfe ich hier die ketzerische Frage nach dem Anteil der Wissenschaft am Klimapessimismus auf. Ich nehme kurz zwei berühmte klassische Beispiele unter die Lupe: die Tragik der Allmende und das Gefangenendilemma.

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Das erste Beispiel stammt vom amerikanischen Biologen Garrett Hardin. 1968 schrieb er den Essay „Die Tragik der Allmende“ - eine Initialzündung der Diskussion über unsere „Governance“ von Allgemeingütern. Hardin exemplifiziert das Problem an einer Allmend („was allen gemein ist“), auf welche die Herdenbesitzer ihre Schafe treiben. Sie haben freien Zugang zum gemeinsamen Weidegut. Man einigt sich auf eine bestimmte Anzahl weidender Tiere für jeden Herdenbesitzer. Eines Tages aber kommt ein Schlauberger auf die Idee, ein Schaf mehr grasen zu lassen. Er hat einen Gewinn davon und der Übernutzungsverlust wird ja von allen getragen. Nur hat die Logik einen Haken, denn andere Herdenbesitzer beginnen gleich zu denken. Und die Logik wird zur „Tragik“, weil jeder weiss, dass sein Handeln irgendwann verhängnisvolle Folgen hat, nur will keiner der Gelackmeierte sein. Immer mehr Schafe grasen auf der Weide. Am Ende verödet die Allmend.

Eine Tragik der Allmende lässt sich auch im Klimaproblem ausmachen, hier in negativer Form, der Verschmutzung unserer gemeinsamen Umwelt. Anders als die Schafe entnehmen wir nicht etwas der Umwelt, sondern geben etwas an sie ab: Abwässer, Abfälle, Abwärme, Abgase. Die Logik ist die gleiche. Geben wir ihr einen Schwenk ins Drastische mit einem kleinen Gedankenexperiment. Die Erde wird von nur zwei Machtblöcken beherrscht. Sie verhandeln nicht miteinander und treffen ihre Entscheidungen für sich selber. Sie wissen auch nicht, was die andere Macht in puncto Schadstoff­emissionen tut. Nun räsonniert der Führer der einen Macht wie folgt: Angenommen, die andere Macht reduziert die Emissionen. Reduziere ich auch, erhöht das die Kosten massiv; reduziere ich nicht, bleiben die Kosten gleich und zudem wird ja etwas gegen die allgemeine Verschmutzung unternommen. Also ist es für mich vernünftig, nicht zu reduzieren. Trittbrettfahren nennt sich das. Angenommen, die andere Macht reduziert die Emissionen nicht. Reduziere ich nun, bin ich der Depp, zudem kann ich das Verschmutzungsproblem nicht allein lösen; reduziere ich nicht, bin ich ja in guter Gesellschaft. Also ist es wiederum vernünftig, nicht zu reduzieren. So denkt natürlich auch der andere Führer. Und so fahren beide die Erde „vernünftig“ weiter in den Dreck.

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Dieses Gedankenexperiment ist als sogenanntes Gefangenendilemma bekannt, weil man es zuerst am Beispiel zweier Tatverdächtiger in Untersuchungshaft veranschaulichte. Der Staatsanwalt versucht, sie mit dem Köder eines günstigen Strafmasses zu einem Geständnis zu bewegen. Die Verdächtigen misstrauen einander und kommen, ganz wie die beiden Weltmachtführer, zu einem für beide ungünstigen Schluss. Generell zeigt das Szenario, dass man mit individuell vernünftigen Entscheiden trotzdem unkooperativ in die kollektive Unvernunft abrutschen kann.

Solche pessimistische Szenarien faszinieren die Wissenschaftler seit langem, und sie hecken immer raffiniertere Versionen aus, um dafür Lösungsstrategien zu finden. Es gibt eine spezifische Disziplin dafür, die Spieltheorie. Sie studiert Gewinnstrategien  und mittlerweile ist sie in der Lage, mit computerverstärkten elaborierten mathematischen Modellen Lösungen für sehr komplexe Situationen zu finden. Aber genau da liegt der Hund begraben. Die Modelle können heute mit einer beeindruckend grossen Zahl von Spielern und Parametern rechnen, nur mit einem rechnen sie nicht: mit dem konkreten Menschen.

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Modelle sind unentbehrliche Instrumente wissenschaftlichen Denkens. Ironischerweise kann ihr Erfolg sie zu einem Denkfehler verführen, den ich als den „Magritte-Fehlschluss“ bezeichne: Das Bild einer Pfeife ist nicht die Pfeife. Die Stärke eines Modells liegt in der Abstraktion, darin also, dass es vom realen Phänomen zahlreiche Abstriche macht, um mit einer begrenzten Zahl von Parametern überschaubare oder sogar berechenbare Simulationen durchzuführen. Die Physik bringt erfolgreich Wasser-, Erde-, Luft-, Licht-, Wärme-, Quanten- oder Gravitationsphänomene unter den abstrakten Hut des Wellenmodells. Analog sucht man so diverse Phänomene wie politische Entscheide, Preisegulierungen, Hungersnöte, urbane Kriminalität, ethnische Konflikte als Gefangenendilemma oder Tragik der Allmende zu behandeln. Die Krux des Modells ist jedoch sein Anwendungsbereich. Die Physik handelt von lebloser Materie, Disziplinen wie Soziologie, Ökonomie oder Politologie handeln von Menschen. Und Menschen sind nur begrenzt „modellierbar“. Magritte nannte sein berühmtes Gemälde mit der Pfeife „Der Verrat der Bilder“. Ich möchte analog vom Verrat der Modelle am Menschen sprechen.

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Zugegeben, die Tragik der Allmende sieht sich durch eine ganze Serie ökologischer Desaster bestätigt: Überfischen der Meere, Abholzen der Wälder, Veröden von Weideflächen, Vergiften der Böden. Aber hüten wir uns, hier einfach eine Art Naturgesetz zu unterstellen. Wenn uns ein Modell voraussagt, dass unkooperatives Verhalten auf die Dauer allen schadet, dann handelt es sich um eine Notwendigkeit im Modell, nicht in der Realität. Oft sieht der Umgang mit Allmenden nämlich ganz anders aus als in den sinistren Modellszenarien, vor allem in kleinen und lokalen Gruppen. Die Schweiz kennt zum Beispiel eine Bewirtschaftung im Alpenraum, die der Tragik der Allmende widerspricht. Die Walliser Gemeinde Törbel regelt seit 1483 die nachhaltige Nutzung der Weiden und Wälder durch eine Satzung.

Elinor Ostrom, die erste weibliche Nobelpreisträgerin für Ökonomie, erwähnt in ihrem Hauptwerk „Die Verfassung der Allmende“ (1990) die Walliser Gemeinde als ein kleindimensionales Muster für gelungene Nutzung von Allmenderessourcen, neben Hunderten von anderen auf dem ganzen Planeten. Elinor Ostroms Blickwechsel ist in seiner Banalität revolutionär: Er analysiert nicht top-down, ausgehend von abstrakten Modellen, sondern bottom-up, ausgehend von konkreten Fällen. Und durch Vergleich solcher Fälle gewinnt man bestenfalls Einsichten in empirische Bedingungen der Möglichkeit, klug mit Allmenden umzugehen.

Wie Elinor Ostrom schreibt, glauben „noch immer viele Analytiker – in der akademischen Welt, in Interessegruppen, Regierungen und in der Presse - , alle Allmendprobleme seien Dilemmata, in denen die Akteure notgedrungen suboptimale, und in einigen Fällen gar katastrophale Resultate produzieren.“

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Es geht nicht darum, wissenschaftliche, insbesondere ökonomische Modelle zu verunglimpfen. Beherzigt man Frau Ostroms Lektion, müsste man vermehrt nach den realen Bedingungen lokalen Gelingens ausspähen. Gefragt wäre also eine breite „Bürgerdämmerung“, die den Allmende-Gedanken wiederbelebt. Das bedeutet nicht sozialromantische Nachbarschaftsidylle. Der Umgang mit gemeinschaftlichen Gütern bleibt dornig. Den Lösungsweg eines Probleme findet man freilich oft, indem man es anders formuliert, zum Beispiel: Die Erdatmosphäre ist eine Allmend, deren Schwierigkeiten man durch eine Vielzahl kleindimensionaler lokaler Ansätze – Ostrom nennt sie „polyzentrisch“ – bezukommen sucht. Gewiss, wir brauchen Abkommen auf globaler Ebene. Und kein vernünftiger Mensch bezweifelt institutionelle, wissenschaftliche und technologische Bewältigungsversuche des Klimaproblems. Aber, oh Wunder: Das verantwortlich handelnde Individuum existiert! Es gilt an ihm Mass zu nehmen, nicht am Modell. „There are many alternatives“, lautet daher die Devise. Die Apokalypse kann warten.





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