Klimapessimismus
oder Der Verrat des
wissenschaftlichen Modells am Menschen
Ohne Zweifel, der Klimawandel steht unter zunehmend
pessimistischerem Vorzeichen. Und der Pessimismus sieht sich durchaus bestärkt
durch alarmierende klimatologische Befunde, wie kontrovers man sie diskutieren
will. Es gibt freilich noch eine andere Quelle des Pessimismus: Wissenschaftliche
Modelle unseres kollektiven Umgangs mit Allgemeingütern. Deshalb werfe ich hier
die ketzerische Frage nach dem Anteil der Wissenschaft am Klimapessimismus auf.
Ich nehme kurz zwei berühmte klassische Beispiele unter die Lupe: die Tragik
der Allmende und das Gefangenendilemma.
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Das erste Beispiel stammt vom amerikanischen Biologen
Garrett Hardin. 1968 schrieb er den Essay „Die Tragik der Allmende“ - eine
Initialzündung der Diskussion über unsere „Governance“ von Allgemeingütern.
Hardin exemplifiziert das Problem an einer Allmend („was allen gemein ist“), auf
welche die Herdenbesitzer ihre Schafe treiben. Sie haben freien Zugang zum
gemeinsamen Weidegut. Man einigt sich auf eine bestimmte Anzahl weidender Tiere
für jeden Herdenbesitzer. Eines Tages aber kommt ein Schlauberger auf die Idee,
ein Schaf mehr grasen zu lassen. Er hat einen Gewinn davon und der Übernutzungsverlust
wird ja von allen getragen. Nur hat die Logik einen Haken, denn andere Herdenbesitzer
beginnen gleich zu denken. Und die Logik wird zur „Tragik“, weil jeder weiss, dass
sein Handeln irgendwann verhängnisvolle Folgen hat, nur will keiner der
Gelackmeierte sein. Immer mehr Schafe grasen auf der Weide. Am Ende verödet die
Allmend.
Eine Tragik der Allmende lässt sich auch im Klimaproblem
ausmachen, hier in negativer Form, der Verschmutzung unserer gemeinsamen Umwelt.
Anders als die Schafe entnehmen wir nicht etwas der Umwelt, sondern geben etwas
an sie ab: Abwässer, Abfälle, Abwärme, Abgase. Die Logik ist die gleiche. Geben
wir ihr einen Schwenk ins Drastische mit einem kleinen Gedankenexperiment. Die
Erde wird von nur zwei Machtblöcken beherrscht. Sie verhandeln nicht
miteinander und treffen ihre Entscheidungen für sich selber. Sie wissen auch nicht,
was die andere Macht in puncto Schadstoffemissionen tut. Nun räsonniert der Führer
der einen Macht wie folgt: Angenommen, die andere Macht reduziert die
Emissionen. Reduziere ich auch, erhöht das die Kosten massiv; reduziere ich
nicht, bleiben die Kosten gleich und zudem wird ja etwas gegen die allgemeine Verschmutzung
unternommen. Also ist es für mich vernünftig, nicht zu reduzieren. Trittbrettfahren
nennt sich das. Angenommen, die andere Macht reduziert die Emissionen nicht. Reduziere
ich nun, bin ich der Depp, zudem kann ich das Verschmutzungsproblem nicht
allein lösen; reduziere ich nicht, bin ich ja in guter Gesellschaft. Also ist es
wiederum vernünftig, nicht zu reduzieren. So denkt natürlich auch der andere Führer.
Und so fahren beide die Erde „vernünftig“ weiter in den Dreck.
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Dieses Gedankenexperiment ist als sogenanntes
Gefangenendilemma bekannt, weil man es zuerst am Beispiel zweier
Tatverdächtiger in Untersuchungshaft veranschaulichte. Der Staatsanwalt
versucht, sie mit dem Köder eines günstigen Strafmasses zu einem Geständnis zu
bewegen. Die Verdächtigen misstrauen einander und kommen, ganz wie die beiden Weltmachtführer,
zu einem für beide ungünstigen Schluss. Generell zeigt das Szenario, dass man
mit individuell vernünftigen Entscheiden trotzdem unkooperativ in die
kollektive Unvernunft abrutschen kann.
Solche pessimistische Szenarien faszinieren die
Wissenschaftler seit langem, und sie hecken immer raffiniertere Versionen aus,
um dafür Lösungsstrategien zu finden. Es gibt eine spezifische Disziplin dafür,
die Spieltheorie. Sie studiert Gewinnstrategien
und mittlerweile ist sie in der Lage, mit computerverstärkten elaborierten
mathematischen Modellen Lösungen für sehr komplexe Situationen zu finden. Aber
genau da liegt der Hund begraben. Die Modelle können heute mit einer beeindruckend
grossen Zahl von Spielern und Parametern rechnen, nur mit einem rechnen sie
nicht: mit dem konkreten Menschen.
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Modelle sind unentbehrliche Instrumente wissenschaftlichen
Denkens. Ironischerweise kann ihr Erfolg sie zu einem Denkfehler verführen, den
ich als den „Magritte-Fehlschluss“ bezeichne: Das Bild einer Pfeife ist nicht
die Pfeife. Die Stärke eines Modells liegt in der Abstraktion, darin also, dass
es vom realen Phänomen zahlreiche Abstriche macht, um mit einer begrenzten Zahl
von Parametern überschaubare oder sogar berechenbare Simulationen
durchzuführen. Die Physik bringt erfolgreich Wasser-, Erde-, Luft-, Licht-,
Wärme-, Quanten- oder Gravitationsphänomene unter den abstrakten Hut des
Wellenmodells. Analog sucht man so diverse Phänomene wie politische Entscheide,
Preisegulierungen, Hungersnöte, urbane Kriminalität, ethnische Konflikte als
Gefangenendilemma oder Tragik der Allmende zu behandeln. Die Krux des Modells
ist jedoch sein Anwendungsbereich. Die Physik handelt von lebloser Materie,
Disziplinen wie Soziologie, Ökonomie oder Politologie handeln von Menschen. Und
Menschen sind nur begrenzt „modellierbar“. Magritte nannte sein berühmtes Gemälde
mit der Pfeife „Der Verrat der Bilder“. Ich möchte analog vom Verrat der
Modelle am Menschen sprechen.
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Zugegeben, die Tragik der Allmende sieht sich
durch eine ganze Serie ökologischer Desaster bestätigt: Überfischen der Meere,
Abholzen der Wälder, Veröden von Weideflächen, Vergiften der Böden. Aber hüten
wir uns, hier einfach eine Art Naturgesetz zu unterstellen. Wenn uns ein Modell
voraussagt, dass unkooperatives Verhalten auf die Dauer allen schadet, dann
handelt es sich um eine Notwendigkeit im
Modell, nicht in der Realität. Oft sieht der Umgang mit Allmenden nämlich ganz
anders aus als in den sinistren Modellszenarien, vor allem in kleinen und lokalen
Gruppen. Die Schweiz kennt zum Beispiel eine Bewirtschaftung im Alpenraum, die
der Tragik der Allmende widerspricht. Die Walliser Gemeinde Törbel regelt seit
1483 die nachhaltige Nutzung der Weiden und Wälder durch eine Satzung.
Elinor Ostrom, die erste weibliche Nobelpreisträgerin für
Ökonomie, erwähnt in ihrem Hauptwerk „Die Verfassung der Allmende“ (1990) die
Walliser Gemeinde als ein kleindimensionales Muster für gelungene Nutzung von
Allmenderessourcen, neben Hunderten von anderen auf dem ganzen Planeten. Elinor
Ostroms Blickwechsel ist in seiner Banalität revolutionär: Er analysiert nicht
top-down, ausgehend von abstrakten Modellen, sondern bottom-up, ausgehend von
konkreten Fällen. Und durch Vergleich solcher Fälle gewinnt man bestenfalls
Einsichten in empirische Bedingungen der Möglichkeit, klug mit Allmenden
umzugehen.
Wie Elinor Ostrom schreibt, glauben „noch immer viele
Analytiker – in der akademischen Welt, in Interessegruppen, Regierungen und in
der Presse - , alle Allmendprobleme seien Dilemmata, in denen die Akteure
notgedrungen suboptimale, und in einigen Fällen gar katastrophale Resultate
produzieren.“
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Es geht nicht darum, wissenschaftliche, insbesondere
ökonomische Modelle zu verunglimpfen. Beherzigt man Frau Ostroms Lektion, müsste
man vermehrt nach den realen Bedingungen lokalen Gelingens ausspähen. Gefragt
wäre also eine breite „Bürgerdämmerung“, die den Allmende-Gedanken wiederbelebt.
Das bedeutet nicht sozialromantische Nachbarschaftsidylle. Der Umgang mit
gemeinschaftlichen Gütern bleibt dornig. Den Lösungsweg eines Probleme findet man
freilich oft, indem man es anders formuliert, zum Beispiel: Die Erdatmosphäre ist
eine Allmend, deren Schwierigkeiten man durch eine Vielzahl kleindimensionaler
lokaler Ansätze – Ostrom nennt sie „polyzentrisch“ – bezukommen sucht. Gewiss, wir
brauchen Abkommen auf globaler Ebene. Und kein vernünftiger Mensch bezweifelt institutionelle,
wissenschaftliche und technologische Bewältigungsversuche des Klimaproblems.
Aber, oh Wunder: Das verantwortlich handelnde Individuum existiert! Es gilt an
ihm Mass zu nehmen, nicht am Modell. „There are many alternatives“, lautet daher
die Devise. Die Apokalypse kann warten.
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