Montag, 26. August 2019









Aareschwimmen mit Heraklit und Wittgenstein

Sommerzeit ist für indigene Berner Aarezeit. Ich nenne sie „Flusssommer“. Man wandert in der Badehose flussaufwärts, zur Schönaubrücke, zum Eichholz, vielleicht noch weiter, im duftenden vegetativen Clair-obscur der Uferbewaldung, um sich dann ins türkisene kühle Wasser zu stürzen und sich ins Marzilibad hinuntertragen zu lassen: eine aquatische Liebkosung. Es hat etwas wundervoll Gedankenverlorenes, auf dem Rücken in der Strömung zu treiben; man hört das leise Rieseln der Steine am Flussgrund, riecht den Hautgout des reifen Sommers, den das Wasser verströmt, sieht das silbrige Geflicker im Blattwerk der Bäume gemächlich vorbeiziehen. Weil es so heiss war, stieg ich neulich in kurzer Zeitfolge zweimal in den Fluss. Und da suchte mich ein metaphysisches Erlebnis heim. Mich störten plötzlich zwei mitschwimmende Philosophen: Heraklit und Wittgenstein.

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Der erste, Vorsokratiker und im Ruf des Dunklen stehend, der zweite, radikaler Sprachphilosoph mit der Aura des Spinners, aus dem Wien der Wende ins 20. Jahrhundert. Ersterer prägte den bekannten, meist verkürzt zitierten Satz: „Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss“ (Ein Fragment lautet: „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht“). Letzterer behauptete das Gegenteil: „Der Mann, der sagte, man könne nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, sagte etwas Falsches; man kann zweimal in den gleichen Fluss steigen.“

Mit diesem Widerspruch muss man schwimmen lernen. Was genau kann man nun eigentlich nicht? Ganz offensichtlich kann ich meinen Fuss ins Aarewasser tauchen, ihn herausziehen und ihn wieder eintauchen. Ist das die gleiche Aare beim zweiten Mal? Sicher, es ist nicht mehr das gleiche Wasser, das meinen Fuss umströmt, aber der Fluss ist doch immer noch die Aare. –

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Eine Interpretation des Heraklit-Wortes lautet: Wir gebrauchen das Wort „Fluss“, um über etwas zu sprechen, das buchstäblich ständig im Fluss ist, und dieser Gebrauch kann uns zur Meinung verleiten, dass die Dinge „fester“ als in Wirklichkeit sind – ja, zur Illusion, dass es überhaupt Dinge von Dauer gibt. Was wir erfahren, die ganze unermessliche Vielfalt der Phänomene, so scheint uns Heraklit zu sagen, ist ein „Fluss“, und deshalb erweist sich unsere Sprache als ein ungeeignetes Werkzeug, um die „fliessende“ Wirklichkeit zu beschreiben.
Wittgenstein meint etwas anderes. Er wirft den Blick nicht auf den Fluss, sondern auf den Sprechenden. Wenn wir miteinander über etwas reden, spielen wir ein Sprachspiel. Die Figuren im Sprachspiel sind Wörter. Wir verwenden sie gemäss grammatikalischer Regeln, so wie wir etwa Schachfiguren nach Schachregeln bewegen: der Läufer zieht diagonal, der Turm horizontal oder vertikal usw. Gewisse Züge im Sprachspiel sind Aussagen über etwas in der Welt, zum Beispiel über einen Fluss namens „Aare“. Konfusion entsteht nun allerdings, wenn wir nicht zwischen zwei Arten von Sätzen unterscheiden, etwa „Der Fluss überflutet den Uferweg“ und „‚Fluss’ ist ein Substantiv“. Der erste Satz sagt etwas über die Welt, der zweite sagt etwas über den Gebrauch eines Wortes. Die Verwechslung beider kann leicht zu absurden Sätze führen wie „Ein Substantiv überflutet den Uferweg“. Von diese Art sei auch Heraklits Satz „Man kann nicht zweimal in den gleichen  Fluss steigen.“

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Wenn Wittgenstein den Satz als falsch bezeichnet, dann warnt er uns: Der Satz gibt vor, etwas über die Welt zu sagen, aber tatsächlich sagt er etwas über den Gebrauch eines Wortes. „Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen“ meint eigentlich: Gebrauche das Wort „Fluss“ nicht so, dass sich behaupten lässt „Man kann zweimal in den gleichen Fluss steigen“. Ich aber, Wittgenstein, behaupte das, und ich wende mich somit gegen eine solche Sprachregelung. Der Heraklit-Satz ist ein Verwirrspiel im Sprachspiel selbst, etwa so, wie wenn man sagen würde „Der König bewegt sich wie die Königin“. Das ist ein falscher Satz im traditionellen Schach, könnte aber als eine Regel in einem Alternativschach aufgefasst werden.

Wir meinen, so Wittgenstein, oft über Dinge zu sprechen, dabei sprechen wir über Regeln des Sprechens. „Der Fluss tritt über die Ufer“ ist ein Satz über Dinge. Aber der Satz „Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen“ ist ein impliziter Satz über die Sprache. Sein philosophischer Tiefsinn resultiert, wie Wittgenstein schreibt, aus der „Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“. Dagegen hat Philosophie anzukämpfen.

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Das ist freilich nicht das letzte Wort. Warum sollte man nicht über den Fluss reden, wie Heraklit das tut? Mit welchem Recht verbietet Wittgenstein einen solchen Sprachgebrauch? Er mahnt uns ja selber: „In einem gewissen Sinn kann man mit philosophischen Fehlern nicht sorgfältig genug umgehen, so viel Wahrheit enthalten sie.“ Welche Wahrheit steckt also im Heraklit-Satz?

Vielleicht führt es weiter, wenn wir nicht Wahrheit oder Falschheit im Auge haben, sondern philosophische Haltungen. Wir können den Heraklit-Satz so interpretieren: Unsere Sprache ist kein passendes Werkzeug, um die Wirklichkeit darzustellen. Die Wirklichkeit ist im Grunde ein Fluss, und wenn man ihn beschreiben will, ist er schon im nächsten Moment ein anderer - „verflossen“. Was aber bedeutet „die“ Wirklichkeit? Wie überprüft man, ob ein Sprachspiel ihr angepasst ist oder ob es besser als ein anderes angepasst ist? Sobald man eine solche Frage stellt, riskiert man, in eine philosophische Falle zu tappen - was heisst, dass man die Frage anders formulieren sollte.

Man müsste ja zur Beantwortung einen Gesichtspunkt beanspruchen, von dem aus sich ein Vergleich anstellen liesse zwischen der sprachlich dargestellten Wirklichkeit und der Wirklichkeit „wie sie ist“: Wirklichkeit pur und undargestellt. Aber das ist ein Paradox: Was soll ich von einer Wirklichkeit sagen, die sich nicht „sagen“ lässt?  Womöglich fasziniert uns gerade das Paradox-Metaphysische des Gesichtspunktes so sehr. Vermutlich spricht aus dieser Faszination das tiefe Transzendenzverlangen, sich aus allen menschlichen Begrenzungen zu lösen, aus der körperlichen, zeitgebundenen, sprachlichen Existenz herauszutreten und die Welt zu sehen „wie sie fliesst“. Man könnte dies die transzendenz-orientierte Haltung nennen; im Kern ein religiöses Motiv. Wittgenstein bemerkte denn auch einmal: „Ich bin kein religiöser Mensch. Aber ich kann mir nicht helfen, jedes Problem unter einem religiösen Gesichtspunkt zu sehen.“

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Nun wählt Wittgenstein jedoch gerade die entgegengesetzte Haltung, die immanenz-orientierte. Hier zeigt sich sozusagen der Sprach-Ingenieur. Metaphysische Aussagen wie jene von Heraklit sind in Wittgensteins Augen wie Räder eines Sprachgetriebes, die sich losgelöst haben und nun frei und unkontrolliert drehen. Die Aufgabe des Philosophen erweist sich so gesehen als eine praktische, nämlich das metaphysisch „beschädigte“ Getriebe zu reparieren, und uns nicht von Problemen „verhexen“ zu lasssen, die im Grunde sprachliche Dysfunktionen sind. Obwohl er sich nicht helfen kann, jedes Problem unter religiösem Gesichtspunkt zu betrachten, liegt Wittgensteins „Religiosität“ gerade nicht im Transzendieren, im Aussteigen aus der Sprache, sondern im Immanieren, im totalen Einwohnen. Hör auf, vom Gesichtspunkt „ausserhalb“ der Sprache zu träumen!


Und ohnehin: Gibt gibt es diesen Gesichtspunkt für das Leben? Es ist der Fluss, in den wir gar nicht zweimal steigen können, weil wir immer schon in ihm schwimmen. Das sagte ich mir, als ich nach dem zweiten Mal Hinunterschwimmen aus der Aare stieg. Immerhin: Aus ihr kann ich zweimal aussteigen. Aber ich war mir nicht sicher, ob mich das nun beruhigen oder beunruhigen sollte.  

Dienstag, 13. August 2019





NZZ, 9.8.2019

Deepfakes und der böse Dämon Descartes’

Es wird immer schwieriger, sich gegen Falschinformation zu wappnen. Computergenerierte Bilder ermöglichen mittlerweile täuschend echte Fälschungen: „Deepfakes“. Bekannt geworden ist etwa das Video, das Nancy Pelosi, die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, betrunken zeigt; oder Mark Zuckerberg, der über sich prahlt:  „Stell dir für eine Sekunde vor: Ein Mann kontrolliert Milliarden gestohlener Daten von Leuten, alle ihre Geheimnisse, ihr Leben, ihre Zukunft.“ Beliebt ist auch der Austausch von Gesichtern zwischen beliebigen Personen und Pornodarstellern: „Face-Swapping“. Der Gedanke, dass irgend ein Fiesling im Internet solche Austausche relativ leicht tätigt, mutet doch recht unbehaglich an. Wahrscheinlich werden sich Deepfakes – auch „Cheapfakes“ genannt - im Alltag endemisch ausbreiten und damit die Informationsflüsse zunehmend kontaminieren. Und verunklären kann man die Flüsse mit relativ wenigen Falschinformationen - dank einer beispiellosen Kombination aus sozialen Netzwerken, viraler Verbreitung von Nachrichten, kognitiven Voreingenommenheiten, Newsfeed, und nicht zuletzt dank der Polarisierung zwischen Netzstämmen.

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Wir bekommen es mit einer Tücke der Falschinformation zu tun: Ihre Verbreitung ist ungleich leichter als ihre Korrektur.  Selbst wenn man ein Fake einmal als solches entlarvt hat, hält es sich mit bemerkenswerter Beharrlichkeit im Netz. Das Phänomen hat bereits einen Namen: Dividende des Lügners. Aufdecken von Fakes erhöht unter Umständen ihre Attraktivität. Es geht ja nicht um Wahrheit, sondern um Aufmerksamkeitsbindung. Zusätzlich zum Schüren des Feuers von Fakes legitimieren wir auch die Debatte über deren Falschheit. Denn die Legitimität der Debatte hängt von der Zahl derer ab, die sich daran beteiligen. Das verstärkt unter Umständen den Argwohn, dass am Fake doch „etwas Wahres“ dran sein könnte. „Never wrong for long“, lautet der Slogan. Letztlich kann sich dies also als Dividende für den auszahlen, der das Fake in die Welt gesetzt hat. Selbst nachdem zum Beispiel die Falschinformation korrigiert worden war, Obama sei kein gebürtiger Amerikaner, glaubten nach wie vor 25 Prozent der befragten Landsleute an die Lüge.

Eine Illusion zum Platzen bringen ist keine unproblematische Angelegenheit. Die Ur-Allegorie dafür bietet Platons Höhlengleichnis. Die meisten Menschen leben in der „Höhle“ der Illusion. Sie sehen die Dinge nicht, wie sie wirklich sind, sondern nur die Informationsschatten der Dinge. Allein der Philosoph entsteigt der Höhle und erblickt das Licht der Wahrheit.  Aber wenn er zurückkehrt und den anderen weismachen will, sie lebten in einer Illusion, erntet er nur Widerstand und Aversion. Die Höhleninsassen betrachten ihn als Fremdling, Störefried, als lästigen Wahrheitsmaniak. So kann es heute dem Fake-Entlarver ergehen.

Dem Deep Fake kommt eine menschliche Neigung entgegen: Viele Dinge, die man nicht erwartet oder nicht sehen will, nimmt man nicht zur Kenntnis. Unserer physiologischen Wahrnehmung lassen sich mentale Brillen aufsetzen. In einem inzwischen klassischen Experiment über kognitive Täuschung zeigten die Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons ihren Probanden ein Video: Studentinnen und Studenten in weissen und schwarzen T-Shirts warfen einander Bälle zu. Die Aufgabe lautete, die Pässe der Spieler im weissen Dress zu zählen. Etwa in der Mitte des Videos mischte sich eine als Gorilla verkleidete Studentin in die Szenerie, schaute kurz in die Kamera, klopfte primatenhaft auf die Brust und verschwand wieder. Mehr als die Hälfte der Probanden nahmen den Gorilla nicht wahr, weil sie nur zu zählende Bälle sahen.

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Natürlich sind Abwehrmassnahmen gefragt. An der technologischen Front arbeiten die Softwareentwickler an Algorithmen, die Deepfakes schnell erkennen. Künstliche Intelligenz bekämpft künstliche Intelligenz. Aus diesem Wettrüsten der Algorithmen wird wahrscheinlich kein Sieger hervorgehen: eine No-Win-No-Win-Situation. Harid Farid, Experte in der Aufdeckung von Kinderpornografie am Dartmouth College, klingt nicht besonders zuversichtlich: „Wir liegen Jahrzehnte hinter einer forensischen Technologie (..) zurück, die effizient ein echtes von einem gefälschten Video unterscheiden könnte. Wenn man das forensische System wirklich täuschen will, wird man auf dem Deepfake-Weg in es einbrechen.“

Auch juristische Massnahmen stossen schnell auf ihre Grenzen. Immer wieder hört man Klagen über das Netz als rechtslosen Raum. Die Daten suchen sich ihre Flussbetten global. Bekanntlich kann eine russische Trollfarm die Meinungsbildung in den USA sensibel beeinflussen. Gesetze greifen aber primär in einem nationalen Rahmen. Und dies handikapiert natürlich die regulatorische Interventionskraft. Zudem erweisen sich die wichtigsten Disseminationsherde von Deepfakes, die sozialen Netze, als regelrechte Immunsysteme gegen den gesetzlichen Eingriff. Es fällt nicht schwer, die Dystopie einer Welt auszumalen, wo es ein Kinderspiel ist, eine Person so „umzugestalten“, dass sie Dinge sagt und tut, die sie nicht gesagt und getan hat.

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Neben den technischen und rechtlichen Weiterungen stossen wir auf etwas noch Beunruhigenderes. Deep Fakes unterminieren eine fundamentale Vertrauensbasis der Erkenntnis: unsere Sinne. Wir stützen uns in Alltagssituationen auf sie und orientieren uns an ihnen. Die Sinne trügen normalerweise nicht. Die eigene Augenzeugenschaft zum Beispiel ist eine relativ verlässliche erkenntnistheoretische Instanz. Nun definieren die neuen Techniken der Simulation gerade diese Normalität um. Normal ist die Verstellung. Was wir sehen, steht unter dem Apriori-Verdacht der Täuschung. Der Augen- und Ohrenzeugenschaft – generell dem Zeugnis unserer Sinne –  wird die Bürgfunktion entzogen. In den neuen Medien vergehen uns buchstäblich Sehen und Hören. Sie lassen uns am natürlichen Urmedium der Gewissheit zweifeln: unserem Körper.

Man muss sich klar machen, was dadurch auf dem Spiel steht. Nicht nur erodiert die soziale Vertrauensbasis unseres Wissens, unserer Kommunikation und Diskussion. Ein gewisses Mass an Vertrauen in das, was man mit seinem Körper wahrnimmt, gehört zur geistigen Gesundheit. Die technische Entwicklung raubt uns dieses Vertrauen, gefährdet somit unsere geistige Gesundheit. Alte Selbstverständlichkeiten, herkömmliche Appellationsinstanzen der Verlässlichkeit fallen in sich zusammen. Das Wahre für falsch zu halten und das Falsche für wahr: damit beginnen Wahnvorstellungen. Die Technologie des Deepfake entpuppt sich von ihrem Wesen her  als Technologie des Wahns.

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Wir sehen uns - kaum zu übertreffende Ironie – an den Anfang der neuzeitlichen Philosophie zurückversetzt. Man erinnert sich an das Szenario, das uns René Descartes in seinen „Meditationen“ skizziert. Er äussert darin den Fundamentalverdacht: „Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr gehalten habe, verdanke ich den Sinnen oder der Vermittlung der Sinne. Nun aber bin ich dahintergekommen, dass diese uns bisweilen täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, denen niemals ganz zu trauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben.“

Mit seinem Universalzweifel machte sich Descartes sozusagen zum ersten Informationsquellenvergifter der Neuzeit. Oder genauer: Er spielt mit dem Gedanken eines solchen Quellenvergifters: „So will ich denn annehmen, dass nicht der allgütige Gott die Quelle der Wahrheit, sondern irgendein böser Dämon, der zugleich allmächtig und verschlagen ist, habe allen seinen Fleiss daran gewandt, mich zu täuschen; ich will glauben, Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne (..) seien nichts als das täuschende Spiel von Träumen, durch die er meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt.“

Descartes’ Meditation war ein Gedankenexperiment. Deepfakes sind ein technisches und soziales Experiment. Heute vermögen uns Informations- und Kommunikationstechnologie wie ein böser Dämon in elektronischen Träumen zu wiegen. Und das wirklich Böse an diesem Dämon ist, dass wir uns an ihn gewöhnen

  Der «Verzehr» des Partners Kant und der aufgeklärte Geschlechtsverkehr Kant zeigte philosophisches Interesse nicht nur an Vernunft und Urt...