Montag, 9. März 2020







NZZ, 3.3.2020


Der Mensch ist der Mikrobe egal


Man spricht vom neuen erdgeschichtlichen Zeitalter des Anthropozäns. Der Mensch gestaltet die Erdoberfläche mit einer Wucht um, die man früher allein geologischen Kräften zugemutet hatte. Eigentlich ist das aber eine anthropozentrisch verzerrte Sicht. Seit über drei Milliarden Jahren gibt es das Bakterio- oder Virozän. Die heimlichen Hauptakteurinnen auf dem Planeten sind Mikroben. Sie umgeben uns, sie bewohnen uns. Der Mensch ist quasi eine Galaxie von Bakterien (tatsächlich wohnen in mir mehr Bakterien als es Sterne in unserer Milchstrasse gibt). Wenn ich jemandem die Hand schüttle, setzt sogleich in beiden Richtungen ein Mikrobenfluss ein, und ich weiss nicht, ob die Viecher meine Freunde oder Feinde sind. Ich bin ihnen jedenfalls egal.

Warum ist eine bestimmte Mikrobenart schädlich für den Menschen, eine andere dagegen nicht? Handelt es sich um eine „intrinsische“ Eigenschaft? Die Frage beschäftigt die Biologen seit den Anfängen der Keimtheorie im 19. Jahrhundert. Sie legte das Fundament für das Paradigma der modernen Krankheitslehre: Es gibt eine grundlegende Differenz zwischen pathogenen und nicht-pathogenen Mikroben. Gemäss dieser Sicht ist also Virulenz  – Krankheit erregende Faktoren - ein Merkmal, das der Mikrobe selbst zukommt. Immer aber gab es Gegenbeispiele und im 20. Jahrhundert entdeckten die Forscher zunehmend „Dual-Use“-Mikroben, die dem Menschen sowohl nützen wie schaden können. Offenbar kennt die Natur keinen eindeutigen Unterschied. Angeblich pathogene Mikroben bevölkern unsere Umwelt, ohne uns zu schaden, und scheinbar harmlose Mikroben zeigen plötzlich ihre „böse“ Seite.

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Wir beziehen diese Bösartigkeit fast automatisch auf uns Menschen, den Wirt. Aber das ist – wie gesagt - nichts als verdeckter Anthropozentrismus. Ob uns die Mikroben „wohl oder übel gesinnt“ sind, hängt meist vom Zufall ab. So lautet zumindest eine Hypothese, die immer mehr in den Fokus der Forschung rückt. Der Mikrobiologe Bruce Levin hat für sie die derb-eingängige Bezeichnung „Shit-Happens-Hypothese“ geprägt: Die Virulenz von Mikroben ist nicht spezifisch gegen uns Menschen gerichtet, sie „geschieht“ einfach unter besonderen physikalischen, chemischen und biologischen Bedingungen. Wie Levin bemerkt: „Die Parasitologen lehrten uns Studenten, dass Krankheit ein primitives, unterentwickeltes Stadium im Zusammenleben von Organismen darstelle, und die Evolution schliesslich alles zum Netten richten würde, zu Symbiose und Mutualismus als Endpunkt“. Die Natur kennt aber keine Happyends – oder vielmehr: sie kennt unzählige Happyends, je nach Artengesichtspunkt. Und der Mensch ist nur eine Art. Wenn ihn die Mikroben etwas angehen – was geht die Mikroben der Mensch an?

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Das klingt resignativ: Hat Virulenz denn keine andere Erklärung, ausser dass sie einfach geschieht? Nichts wäre falscher. Natürlich ist Virulenz ein multikausaler mikrobiologischer Prozess und die Forschung nach antiviralen und –bakteriellen Medikamenten könnte nicht dringender sein. Und natürlich lässt sich unter Umständen Virulenz als eine spezielle Eigenschaft erklären, die eine Mikrobenart im Lauf ihrer evolutionären Verstrickung mit ihrem Wirt erworben hat. Dass Mikroben uns befallen können, weil wir gerade zufällig ihren Weg kreuzen, eröffnet aber eine andere Sicht auf sie. Zunächst einmal schreckt sie uns in unserer anthropozentrischen Voreingenommenheit auf. Sie initiiert eine „kopernikanische“ Wende im biologischen Denken. Wir Menschen entdecken jetzt nicht eine neue Welt der Mikroben, wie sie sich erstmals dem holländischen Gerätebauer Antoni van Leeuwenhoek im 17. Jahrhundert unter seinem Mikroskop offenbarte; wir entdecken uns als Teil dieser Welt. Der wichtigste Teil in der Mikrobenwelt sind aber andere Mikroben. Der Mensch, der zufällig in ihr Kreuzfeuer gerät, hat einfach Kollateralpech.

Der Biologe Arturo Casadevall und sein Team studieren diese – wie er sie etwas akademischer nennt – „akzidentelle Virulenz“. Er braucht eine hilfreiche Analogie: Die Evolution stattet jede Mikrobenart mit einem Satz von Spielkarten aus – adaptive Attribute -, die ihr ermöglichen, zu überleben. Eine Karte schützt zum Beispiel das Bakterium davor, gefressen zu werden; eine andere ermöglicht ihm, sich bei 37 Grad Celsius zu vermehren; aber dann hat es keine Karte, die ihm dies in alkalischer Umgebung gestattet. Es muss also durchaus eine Koinzidenz der „richtigen“ Kombination stattfinden, damit das Bakterium gedeiht. Diese Koinzidenz ist umso wahrscheinlicher, je mehr Mikrobenarten mitspielen. Betrachtet man die ungeheure Mannigfaltigkeit der Mikrobenarten, welche die Evolution im Lauf von Jahrmilliarden produziert hat, erscheint es durchaus wahrscheinlich, eine Kartenkombination zu finden, die eine Mikrobenart aus purem Zufall pathogen für den Menschen werden lässt. Das kann sogar auf Mikroben zutreffen, die bisher mit dem Wirt in Eintracht gelebt haben. Es gibt, so gesehen, pathogene Mikroben, die wir noch gar nicht kennen. Und möglicherweise schafft gerade der Klimawandel gedeihlichere Bedingungen für sie.

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In diesem Sinn vermutet ein Epidemiologe der University of California: „Ich glaube, wir werden mehr Coronaviren auftauchen sehen, weil dies die Folge dessen ist, was wir der Umwelt antun. Es ist unsere Strafe.“ Nun kennt die Natur keine „Strafe“. Aber die Aussage lässt sich in „moralfreie“ Rede übersetzen: Wenn der Mensch im Anthropozän immer tiefer in die natürlichen Ökosysteme eindringt, riskiert er dadurch, auch in den Wirkungsbereich von Mikroben zu gelangen, von denen er bisher verschont blieb. Viele Biologen sind der Meinung, dass sich mit dieser fortgesetzten Ausbreitung des Menschen auch die Wahrscheinlichkeit erhöht, von anderen Arten infiziert zu werden. Wir kennen längst solche Krankheiten: Schweinegrippe, Tollwut, Ebola, AIDS, Sars, um nur einige zu nennen. Die Familie der Coronaviren ist seit über fünzig Jahren „aktenkundig“. Ihre Angehörigen warteten nur auf eine günstige Gelegenheit wie Wuhan.

Hier erhält das Szenario definitiv einen beängstigenden Anstrich. Da gibt es „draussen in der Natur“ unsichtbare Winzlinge, von denen man nicht weiss, wann sie uns unterstützen und wann sie uns abmurksen. Der Science-Fiction-Autor Herbert G. Wells antizipierte dies bereits in seinem Klassiker „Der Krieg der Welten“ mit genialem Scharfsinn. Eine Invasion vom Mars wurde nicht von Menschen, sondern von Mikroben abgewehrt, und zwar dadurch, dass sich bestimmte irdische Mikroben für die Marsianer „zufällig“ als tödlich erwiesen. Die Erdbakterien konnten nichts „wissen“ von den Marsinvasoren, es gab keine vorgängige Koevolution, durch die sie ihre Virulenz gegen die Aliens hätten ausbilden können. Sie sprangen einfach „akzidentiell“ auf die Invasoren über und vernichteten sie. Könnte nicht ein ähnliches Schicksal auf menschliche Invasoren lauern, die in fremde planetarische Gefilde eindringen und dadurch alte Symbiosen mit den Mikroben zerstören?

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Gewiss, wir verbuchen im Kampf gegen Infektionskrankheiten und deren Verbreitung bemerkenswerte Fortschritte. Deuten wir diese nur nicht falsch als fortschreitende Beherrschung der Mikrobenwelt. Wir tun gut daran, Krankheit als ökologisches Problem zu begreifen. Und man kann es als Dialektik des Anthropozäns betrachten, dass je tiefer der Mensch sich der Erdoberfläche einzeichnet, die Natur sich umso drastischer von ihrer unvorhersehbaren und beschränkt kontrollierbaren Seite her zeigt: makroskopisch, in den Klimaschwankungen, und mikroskopisch, in den Launen der kleinsten Lebewesen. Das ist kein Grund zu Defaitismus oder Fatalismus, sondern zur nüchternen Neueinschätzung unseres Platzes in der Natur. Wie es der Paläontologe Andrew Knoll ausdrückte: „Tiere mögen der Zuckerguss der Evolution sein, aber der eigentliche Kuchen sind die Bakterien.“ – Und wenn wir von der Evolution reden: machen wir die Rechnung ja nicht ohne den Zufall. Lernen wir ihn als die eigentliche Naturmacht kennen.

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