Samstag, 25. Januar 2014

Der Gral der theoretischen Physik





Die säkular-religiöse Ambivalenz
Seit Galileo Galilei lesen die Physiker im Buch der Natur, das bekanntlich in der Sprache der Mathematik abgefasst sei. Und sie tun dies mit grossem Erfolg. Genau besehen, ist das überaus erstaunlich. Was Galilei kühn postulierte, war für Albert Einstein nach über dreihundert Jahren mehr denn je Anlass tiefster Verwunderung: “Wie kann es sein, daß sich die Mathematik, ein Produkt des menschlichen Geistes, das von keinerlei Erfahrung abhängt, so wunderbar dazu eignet, Objekte der realen Welt zu beschreiben?“

Die Frage, so naiv sie klingt, birgt philosophischen und religiösen Zunder. Es gibt eine verführerisch einfache Antwort darauf. Man fabriziert unter experimentellen Bedingungen sozusagen mathematikgerechte Objekte der realen Welt, und was sich einer solchen Prozedur widersetzt, fällt aus dem Gesichtskreis der Fabrikation. Der Galilei zugeschriebene Imperativ „Alles messen, was messbar ist, und messbar machen, was es nicht ist“, drückt dieses mathematische Apriori der Naturwissenschaften klar aus. Von daher betrachtet, erscheint die Antwort auf Einsteins Frage trivial.

Einstein wäre zweifellos nicht befriedigt gewesen von ihr. In seinen Augen musste es einen tieferen Grund dafür geben, daß Gebilde des reinen Denkens so viel aussagen können über die Natur. Deren Verständlichkeit war für ihn zutiefst unverständlich. Und diese Unverständlichkeit wiederum wies für ihn über die Physik hinaus. Deshalb verband sich mit seinem Forschen unauflöslich eine Art von erkenntnistheoretischer Religiosität. Sie ist nicht mit Einstein allein verknüpft. Wer einen Blick in die populärwissenschaftlichen Bücher von Physikern wirft, wird bald einmal bemerken, daß Gott meist ein grosses Register darin hat. Das ist letztlich nicht überraschend. Denn nur eine einäugige Fortschrittsideologie, die von Francis Bacon bis heute die „Herrschaft über die Natur“ hervorhebt, vergisst gerne einen tiefverwurzelten Charakterzug der Naturwissenschaften, den ich als säkular-religiöse Ambivalenz  bezeichnen möchte.

Die Gottesperspektive
Einstein ist der grosse Vereinheitlicher in der Physik. Er war - wie er selber sagte - getrieben von einem „Verallgemeinerungsbedürfnis“. Dieses Bedürfnis wurde gespiesen aus religiösen Quellen. Seine ständige Berufung auf Gott ist notorisch, und sie mutet gelegentlich fast arrogant an. Als die Allgemeine Relativitätstheorie 1919 durch astronomische Messungen ihre erste spektakuläre Bestätigung erfuhr, erwiderte Einstein auf die Frage nach einem möglichen falsifizierenden Ausgang des Experiments: „Dann hätte mir der Herrgott leid getan - die Theorie stimmt“. Die Haltung wurde nicht von allen goutiert. Niels Bohr ärgerte sich darüber. Karl Popper berichtet recht ungnädig von einem Gespräch mit Einstein: „Ich lernte nichts (..) Er neigte dazu, in theologischen Begriffen zu argumentieren, und das war oft die einzige Art, mit ihm zu diskutieren. Ich fand es letztlich uninteressant.“

Aber nicht nur Physiker und Philosophen stiessen sich an Einsteins Art. 1929 geriet die Relativitätstheorie unter theologischen Beschuss. Kardinal O’Connell aus Boston brandmarkte sie als nebulöse Spekulation, welche allgemeinen Zweifel an Gott und seinem Werk säe und die schauderhafte Erscheinung des Atheismus nach sich ziehe. Alarmiert sandte Rabbi Goldstein aus New York ein Telegramm an Einstein, mit der dringlichen Frage: „Glauben Sie an Gott? Stop. 50 Wörter als Antwort werden bezahlt.“ Einsteins Replik war kürzer: „Ich glaube an den Gott Spinozas. An den Gott, der sich in der gesetzmässigen Harmonie der Welt offenbart, nicht an den Gott, der sich für das Schicksal und die Tätigkeiten der Menschen interessiert.“

Der Gott Spinozas - das ist der Schöpfer, der die Welt raffiniert konstruiert hat, aber „nicht würfelt“. „In der Natur gibt es nichts Zufälliges“, lesen wir in der Ethik Spinozas, „sondern alle Dinge sind durch die Notwendigkeit der göttlichen Natur dazu bestimmt, in ihrer Weise zu sein und zu agieren.“ Dieser Determinismus ist die Basis von Einsteins „kosmischer“ Religiosität. In Spinozas Sicht sind Gott und Natur eins (deus sive natura). Wahre Religion basiert nicht auf Dogmen, sie erwacht aus dem ehrfürchtigen Gefühl für eine alles Leben durchdringende Einheit. Dieses Gefühl allein erzeugt die Idee Gottes, eines Gottes freilich ohne menschliches Gesicht. Er manifestiert sich vielmehr in einer gesetzmässig geordneten Welt, weshalb die Entdeckung physikalischer Gesetzmässigkeiten für Einstein immer auch ein Weg hin zu Gott war: „In der Wahrnehmung tiefgründiger Vernunft und Schönheit im Universum liegt die wahre Religiosität; in diesem, und nur in diesem Sinne bin ich ein tief religiöser Mensch.“

Die theoretische Gralssuche
Alle fundamentalen physikalischen Gesetze sind erstaunlich einfach - auf einem elaborierten Niveau mathematischer Begrifflichkeit allerdings. Das zeigt nicht zuletzt die Ikonen-Formel der modernen Physik, E = mc2. Die Vermutung stellt sich natürlich schnell ein, daß hinter dieser Einfachheit etwas steckt: die Einfachheit und Raffinesse der Natur selbst oder eben - wie bei Einstein - Gottes. Aus einer solchen Vermutung heraus entspinnt sich fast zwangsläufig der heuristische Leitfaden, nach den Grundgesetzen gewissermaßen wie nach den fundamentalen „Spielregeln“ der Natur zu suchen.

„Der Traum von der Einheit des Universums“, wie ihn Steven Weinberg, einer der grossen zeitgenössischen Physiker, genannt hat, übt eine anhaltende Faszination auf die Forscher aus. Er hat meiner Meinung nach viel zu tun mit der eingangs erwähnten säkular-religiösen Ambivalenz, und in ihm glimmt wahrscheinlich eine mythische Urflamme. Eine letzte, alles umfassende Theorie verheißt gewissermaßen die Gottesperspektive. Am Ende lockt der Gral der theoretischen Physik. Diese Strategie hat sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten als äußerst vielversprechend erwiesen.

Einsteins Erbe lebt weiter im Projekt einer umfassenden Theorie aller vier bekannten fundamentalen Wechselwirkungen, also der beiden Kernkräfte, des Elektromagnetismus und der Gravitation. Aussichten bestehen auf eine sogenannte Superstringtheorie, einer Quantentheorie des Raumes. Sie postuliert als Grundeinheiten des Universums nicht Teilchen, sondern eine Art von elementaren Mikrosaiten (ca. 1020 mal kleiner als der Durchmesser des Protons), deren Schwingungszustände sich als die heute bekannten Elementarteilchen manifestieren können. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, die raumzeitliche Natur des Universums mit der ultramikroskopischen Struktur der Materie zu verknüpfen. Eine solche Theorie beflügelt „fundamentalistische“ Hoffnungen auf eine letzte große Sicht, ebenso wie sie ein Szenario vom „Ende“ der Physik heraufbeschwört, nicht unähnlich jener terminalen Stimmung vor einem Jahrhundert, als der Gebäudebau der klassischen Physik als abgeschlossen galt und nur noch Detailarbeiten auf der Agenda standen. Und als Einstein die Fundamente dieses Gebäudes revidierte... Das Meiste wird wohl Verheissung bleiben. Wie es sich für eine echte Gralssuche gehört.

Irreführende Einfachheit
Die Frage, die sich natürlich stellt, ist: Was, wenn wir im Besitz einer letzten grossen Theorie wären? Wir wüssten „im Prinzip“ alles, aber alles ist nicht genug. Damit meine ich Folgendes. Wir lernen in der Schule, daß alle Körper auf der Erde mit der gleichen Beschleunigung fallen, daß die Fallstrecke mit der Fallzeit quadratisch zunimmt. Ein Gesetz der Natur, von Galilei entdeckt. Schauen wir genauer hin, werden wir bemerken, daß es nie genau gilt. Eine Feder und ein Hammer fallen unterschiedlich schnell. Galilei beeilte sich, uns zu belehren, daß die Gesetze der Natur nur unter Idealbedingungen gelten, d.h. nur dann, wenn wir uns alle Komplikationen wie etwa Luftwiderstand und andere störenden Einflüsse wegdenken. Die Gesetze sind für eine ideale Natur gedacht. Die reale Natur aber ist der Inbegriff aller Komplikationen.

Die Einfachheit fundamentaler physikalischer Gesetze ist das eine. Ihre Lösung als mathematische Gleichungen unter „besonderen Komplikationen“ ist das andere. Wer kennt nicht die Frustration aus dem Phyikunterricht, wenn sich relativ einfach formulierbare Prinzipen in der Anwendung auf konkrete Probleme als tückisch schwierig herausstellen. Damit kämpfen nicht nur Schüler, sondern Nobelpreis-Physiker wie Robert Laughlin, der über die Quantentheorie schreibt: „Wir sind die stolzen Besitzer von mathematischen Gleichungen, die - so weit wir wissen - allem in der Welt gerecht werden, was grösser ist als ein Atomkern. Sie sind sehr einfach und schön und können in zwei, drei Zeilen hingeschrieben werden. Aber dann findet man heraus, daß diese Einfachheit äußerst irreführend ist. Es ist teuflisch schwierig, mit den Gleichungen umzugehen und tatsächlich unmöglich, sie ausser in einer kleinen Zahl von Spezialfällen zu lösen.“ Hat uns Gott etwa schöne einfache Gleichungen geschenkt, wohl wissend, daß wir  Menschen nicht viel damit anfangen können ? ...


„More is different“
Zum Beispiel Fragen nach der Natur der Stoffe und ihrer Eigenschaften. Die technische Revolution unseres Silizium-Zeitalters verdankt sich wesentlich der Entdeckung einer besonderen Eigenschaft der Materie, nämlich der Halbleiterfähigkeit. An dieser Forschungsfront kristallisiert sich immer deutlicher eine Einsicht heraus: Die Physik ist mitnichten „am Ende“. Das Problem ist, kurz gesagt, folgendes: Die Stoffe, die uns aus dem Alltag vertraut sind, setzen sich aus Mikroobjekten zusammen, aus Molekülen, Atomen, Elementarteilchen, Subelementarteilchen. Wir kennen die fundamentalen Gesetze ihrer Wechselwirkung; aber wir kennen nach wie vor schlecht das Verhalten der Teilchen im Kollektiv. Materie ist alles andere als eine langweilige Ansammlung von ungeheuer vielen Teilchen – sie ist ein richtiges Wunderhorn.

Wie es der Physiker P.W. Anderson schön sagte: „More is different“. Alltägliche Materialien manifestieren kollektive Effekte, welche in den fundamentalen Gesetzen nicht „festgeschrieben“ sind. Dazu gehören triviale Eigenschaften wie Festigkeit, Flüssigkeit, elektrische Leitfähigkeit, ebenso wie exotische, z.B. die flüssige Kristallinität, die Supraleitfähigkeit oder Supraflüssigkeit ultrakalter Stoffe (supraflüssiges Helium beginnt nahe beim absoluten Temperaturnullpunkt spontan die Wände eines Bechers hochzukriechen). Dazu gehören aber auch Eigenschaften, wie wir sie von den Grundbausteinen des Lebens her kennen, etwa die informations­tragende Struktur organischer Moleküle. Offensichtlich gibt es mehr Dinge zwischen Mikroebene und Makroebene, als es sich die reduktionistische Schulweisheit träumen lässt. Und nicht wenige Physiker lassen sich hier von einem neuen Paradigma leiten, für das Robert Laughlin den folgenden Slogan geprägt hat: In der Natur ist Komplikation die Regel, Einfachheit die Ausnahme.

Überdies zeigen die Thermodynamik von Nicht-Gleich­gewichts­zuständen und die Komplexitätstheorie - ein neuer Zweig der Mathematik -, daß Ordnungsmuster sich spontan aus regellosem Verhalten heraus bilden können. Der Zufall wirkt durchaus konstruktiv, gesetzes- und strukturbildend. Es ist, so gesehen, nicht widersinnig, das Gesetzmässige an einem Vorgang quasi als „Glückstreffer“ eines im Grunde chaotischen Naturgeschehens zu betrachten. Der Chemiker Ilja Prigogine - einer der Pioniere der Chaostheorie - spricht in diesem Zusammenhang unumwunden von den „Gesetzen des Chaos“. Und John Wheeler - ein führender Kosmologe (er prägte den Begriff des Schwarzen Lochs) - brachte einmal die „subversive“ Auffassung physikalischer Gesetze auf den „anti-spinozistischen“ Punkt: „Es gibt kein Gesetz, ausser dem, daß es keines gibt“. Weiter kann man sich von Einstein nicht entfernen.

Gibt es Naturgesetze?
Warum gibt es Naturgesetze und nicht vielmehr keine? Woher wissen wir eigentlich, daß die Natur „fundamental“ einfach ist und nicht „fundamental“ chaotisch? Oder mal dies, mal jenes?  Wir wissen es - religiöse Zuversicht einmal dahingestellt - nicht. Das ist kein resignativer Bescheid. Bloß ein kleines Memento, das uns auf den Boden des Profanen zurückholt: Wenn wir von der „Einheit“ der Natur oder des Universums sprechen, sprechen wir von unseren Theorien; von einfachen oder vertrackten Theorien; von Theorien, die mit deterministischen oder nichtdeterministischen Mechanismen arbeiten, von Theorien, die experimentell mehr oder weniger bestätigt sind.

All dies läuft auf eine sehr, sehr elementare Lektion hinaus: Das Bild, das sich die Physiker von der Natur machen, ist nicht die Natur. Niemand weiss, was sie noch in petto hat. „Man muss immer mit einer Überraschung, mit einer sehr grossen Überraschung rechnen,“ sagte Einsteins großer Gegenspieler, Niels Bohr. Um im Bild vom Anfang zu bleiben: Es könnte durchaus sein, dass das Buch der Natur keine letzte Seite hat. 

Sonntag, 8. September 2013

Schlaflos im Internet





WOZ, 5.9.13


Der 24/7-Mensch



Unser Leben steht unter dem Diktat permanenter Abrufbarkeit, Dienstbarkeit, Vernetztheit : Always On! Im Englischen gebraucht man das Kürzel „24/7“ für den Zustand der Dauerbereitschaft: 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Schlaf wir zu einem Hindernis, ja Skandal,  im globalen Hamsterrad der Produktion und Konsumption. Geld schläft nicht.

Unlängst zog eine amerikanische Spatzenart, der Dachs­ammer, die Aufmerksamkeit des Pentagons auf sich. Dieser Zugvogel kommt auf seinem saisonalen Flug von Alaska nach Nordmexiko ohne Schlaf aus, bis zu einer Woche. Die Fähigkeit ermöglicht ihm, während der Nacht zu fliegen und bei Tag Nahrung zu suchen. Die erstaunliche schlaflose Effizienz war für das Militär Anlass, ornithologische Studien in Auftrag zu geben, die herausfinden sollten, wie die Gehirnaktivität des Dachsammers ihm diese langen Wachperioden erlaubt. Mit dem Ziel, die gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen zu übertragen. 


Die Wissenschafter beschäftigen sich nun also mit Techniken der Schlaflosigkeit, basierend auf Neurochemikalien, genetischen Eingriffen oder transkranieller Magnetstimulation. Ornithologie wird in den Dienst der nationalen Sicherheit genommen, als Teil eines Grossprojekts der Agentur DARPA („Defence Advanced Research Projects Agency“), deren primäres Ziel die Entwicklng wirksamer neuer Technologien für die Kriegsführung ist. Zu den angestrebten „Produkten“ gehört auch der „Dachsammer“-Soldat, der seinen Auftrag von unbestimmter Zeitdauer effizient ausführt, unbeeinträchtigt durch das Bedürfnis nach Schlaf und Erholung: die perfekte soldatische Maschine.
Der 24/7-Mensch
Das ist nur ein Aspekt eines anschwellenden Mainstreams. Die technisch erzeugte Schlaflosigkeit steht als Emblem für die permanente Abrufbarkeit, Dienstbarkeit, Vernetztheit des heutigen Menschen. Im Englischen gebraucht man das Kürzel „24/7“ für den Zustand der Dauerbereitschaft: 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Im Dienstleistungssektor ist dieser Zustand bereits die Norm: Polizei, Feuerwehr, Spitäler, Geheimdienste, Callcenters sind 24/7-Betriebe. Der ganze globale Markt hat eine 24/7-Infrastruktur. Vertriebstrainer führen z.B. ein 24-Stunden-Seminar – ein „Webinar“ – über neue Verkaufsmethoden durch. „Wir sind Umsatz“ lautet das Motto. Wer verkauft, schläft nicht. Und in dem Masse, in dem wir diese Dauerbereitschaft internalisieren, nimmt ein neuer Idealtypus Gestalt an: der  24/7-Mensch. Der Übergriff dieser Lebensform auf den Schlaf lässt sich z.B. an der schwindenden durchschnittlichen Schlafenszeit ablesen. Der normale erwachsene Amerikaner, schreibt der Kunsthistoriker Jonathan Crary in seinem Buch „24/7: Late Capitalism and the End of Sleep“ (2013), schlafe heute etwa sechseinhalb Stunden: eine markante Schlafreduktion gegenüber den acht Stunden vor einer Generation und eine noch markantere gegenüber den zehn Stunden zu Beginn des letzten Jahrhunderts.
Schlafentzug ist Persönlichkeitszerstörung
Hier manifestiert der Schlaf seine paradoxe Doppeldeutigkeit: biologisch nützlich, ökonomisch nutzlos. Seine unprofitable Auszeit kann im Rund-um-die-Uhr-Getriebe der heutigen Lebens- und Arbeitswelt nur als Skandal erscheinen. Er muss minimiert werden. Die Ökonomie verlangt seine Abkopplung von den natürlichen Zyklen. Auch wenn unter Biologen und Neurologen keine Einigkeit herrschen mag über die vitalen Funktionen des Schlafes, so besteht doch kein Zweifel daran, dass Schlafmangel diese Funktionen beeinträchtigt. Schlafentzug weist ex negativo auf die Nützlichkeit des Schlafs hin. Als Foltermethode seit Jahrhunderten eingesetzt, entfaltete der Entzug sein Gewaltpotenzial vor allem durch das elektrische Licht; zum ersten Mal systematisch erprobt von den Häschern Stalins in den 1930er Jahren. Schlafentzug markiert den Beginn des „Förderbands“ – wie dies in einschlägigen Kreisen genannt wird - : einer ausgeklügelten Abfolge von Brutalitäten mit dem Ziel, die Wahrheit ans Licht zu „befördern“ (der zynische Euphemismus der Geheimdienste spricht allerdings vom Schlafentzug als von einer „psychologischen Überzeugungstechnik“). Man kann ein Individuum irreparabel zerbrechen, wenn man ihm den lebenswichtigen Kontakt zur Aussenwelt – sinnliche Wahrnehmung – und zur Innenwelt – Schlaf und Traum – versagt. Mit dem Schlaf treibt man dem Menschen sein Selbst aus.
Die Nacht verschwindet
Mit dem Schlaf korrespondiert die Nacht, die Dunkelheit, der Schatten. Jeremy Benthams „Panoptikum“, das architektonische Überwachungsmodell für Gefängnisse, Fabriken, Spitäler und Schulen des 19. Jahrhunderts, funktioniert nur optimal bei permanenter Helligkeit. Der lichtdurchflutete Raum eliminiert die dunkeln Schlupfwinkel. So wie die gnadenlose Datenhelligkeit des Netzes und seiner Social Media heute das Zwielicht abschafft, das Privatheit und Intimität brauchen. Bereits vor der digitalen Durchleuchtung gab es in den späten 1990er Jahren den Plan eines Systems von spiegelnden Satelliten, welche das Sonnenlicht auf die Erde reflektieren würden. Ursprünglich gedacht als elektrizitätssparende Beleuchtungsanlage für die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen in Gebieten mit langen Polarnächten, wuchs sich die Idee aus zu einem Illuminationsprojekt planetarischen Ausmasses, durch das der Globus buchstäblich in eine immerwährende Mittagshelle getaucht worden wäre. Es scheiterte an der Opposition von Umweltverbänden und aufgrund zu vieler Zufälligkeiten. Aber die Ambition dahinter - „Tageslicht die ganze Nacht hindurch“ lautete die Devise - bleibt aktuell und beunruhigend. Hier liegt das Endresultet der Abkopplung aus natürlichen Zyklen vor uns, um das Laufrad des globalen Marktes Tag und Nacht auf Touren zu halten. Geld schläft bekanntlich nicht. Und es definiert zunehmend die Bedingungen des  Homo oeconomicus insomnians.
Der Maschinen-Schlaf
Unter diesen Bedingungen beobachten wir nicht nur eine Verwischung der Grenze zwischen Wachen und Schlaf, Tag und Nacht, sondern generell zwischen Maschine und Mensch. Selbst Maschinen schlafen heute. Benütze ich meinen Drucker gerade nicht oder schliesse ich meinen Laptop, dann verabschieden sie sich in den „Sleep“-Modus. Apple führte in sein Betriebsssystem das sogenannte „Power Nap” ein – das Energienickerchen zwischendurch -, einen Zustand, in dem der Computer immer noch wichtige Aufgaben erfüllt, z.B. E-Mails empfängt, Software-Updates herunterlädt, Backups erstellt.  Die Maschine, die selbst im Schlaf arbeitet – wird sie zum Vorbild des Werktätigen im digitalen Zeitalter? In der Tat führen Firmen und Behörden Power-Napping bereits als regeneratives Mittel ein, selbstverständlich unter der normativen Vorgabe der Leistungssteigerung.
Der Sleep Hacker
Hier wird uns die Neurobiologie wahrscheinlich noch viel über die „Maschine“ Gehirn und die Bedeutung und Nützlichkeit des Schlafes zu sagen haben. In einem gerade erschienenen Buch – „Autopilot .The Art and Science of Doing Nothing“ (2013) – berichtet der Autor Andrew Smart von erstaunlichen „intrinsischen“ Aktivitäten bestimmter Hirnregionen, die sich im Ruhezustand abspielen, dann also, wenn wir scheinbar nichts tun. Und er macht daraus – wie heute üblich -  auch gleich ein neurobasiertes Vademekum: Nichtstun und Tagträumen als unentbehrliches „Enhancement“ unserer mentalen Fähigkeiten. Allerdings werden wir uns gleichzeitg darauf gefasst machen müssen, dass die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse dazu prädisponiert sind, die verborgene Produktivität des Schlafs zu exploitieren und so die letzte Bastion des inneren Rückzugs auch dem Eingriff von aussen zu öffnen – ein Taylorismus des Unbewussten. Schon gibt es „Sleep hacking“, eine Form der neuen Selbst-Überwachung, des „self tracking“. Ein Blogger führt beispielsweise minutiös Bilanz: Von 7.27 Stunden Schlaf seien 52% leichter, 29% REM- und 19% tiefer Schlaf gewesen; was er aufs Ganze gesehen als „viel vergeudete Zeit“ taxiert. Unlängst beschrieb Eric Schmidt von Google die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts als eine „Ökonomie der Aufmerksamkeit“. Gewinner würden jene sein, die möglichst viele „Augäpfel“ auf sich ziehen und kontrollieren könnten. Selbstredend steht der Schlaf einer solchen Augapfelmaximierung im Weg. Und vielleicht werden wir künftig ohnehin in ihn tauchen wie in einen Film, den wir vom Schlaf-Programm auswählen. Im Vorspann läuft unvermeidlich der Hinweis „Gesponsert von Google“.
Homo compensator
Womöglich sensibilisiert uns gerade eine Zeit der totalen Transparenz für eine Neuentdeckung dieses grossen dunklen Kontinents in uns, der – es ist zu wünschen -  in dem Masse unkolonisierbar bleibt, in dem man ihn zu kolonisieren sucht. Der Schlaf ist eine der letzten, wenn nicht die letzte Zone des inneren Rückzugs in einer Gesellschaft, die den Zustand der Dauerwachheit und Dauerverknüpftheit zur Norm erhebt. Gegen sie und das Ideal des perfekten 24/7-Menschen müsste ein anthropologischer Gegentypus an Bedeutung gewinnen. Ich denke an Odo Marquards „Homo compensator“, der gerade hier an Aktualität gewinnt: an den Menschen des Ausgleichs, welcher den Off-Modus des Schlafs nicht nur als Quelle der Regeneration versteht, sondern als renitentes Definiens seiner selbst: Mein Schlaf gehört mir!
Und in diesem Zusammenhang könnte auch der Dachsammer zu einem anderen Vorbild werden. Man gibt seinen Ruf lautmalerisch so wieder:  „You can’t come to catch me!“ – „Du wirst mich nicht fangen!“ Ein wunderbar passender Ausdruck für die Dissidenz des Schlafs. Für die Dissidenz des Menschen gegenüber dem Affront seiner totalen Überwachbarkeit. 

Dienstag, 14. Mai 2013

Tretmühlen der Fitness







Wir leben in einer Zeit der Heteromobilität, der Fremdbewegtheit. Selbst wenn wir heute Fussgängerzonen in den Städten einrichten, ein dichtes Wanderwegnetz durch die Landschaften legen, in unseren Freizeitbeschäftigungen dem Gehen eine zentrale Stellung einräumen, müssen diese Massnahmen im Kontext der Heteromobilität gesehen werden, d.h. als das Einrichten von pedestrischen Reservaten in einer zunehmend nicht-pedestrischen Ökologie. Das Entspannungs-, Erholungs-, Sammlungs-, Innere-Aufrü­stungs­potential des Gehens findet seinen Absatz in Kursen, Seminarien und Ratge­bern für unsere vom Konsumalltag verödeten, ausgereizten Körper. Eine boomende Ertüchtigungsindustrie vermarktet das Kompensations­bedürfnis nach Eigenbewe­gung, vom Aerobic-Kurs, über den Hometrai­ner, Walking, Jogging und Biking bis zu Bungie-jumping oder Canyoning. Man bewegt sich nicht, man verschafft sich die Ware Bewegung. Auf den Bändern der Laufmühlen rennen wir wie von Sinnen, aber dafür womöglich mit Puls-, Geschwindigkeits-, Aktions­sensoren um die Gelenke ge­schnallt, diesem „fitten“ Zustand der Angepasstheit nach. Auf der Stelle, wohlgemerkt.

Vielsagend in diesem Zusammenhang erscheint eine historische Parallele. Die Tretmühle wurde zu Beginn des 19. Jahrhundert in englischen Gefängnissen eingeführt: ein langes, walzenartiges Laufrad mit Sprossen, auf denen mehrere Häftlinge nebeneinander eine bestimmte festgesetzte Zeit lang ihre „Runden drehten“. Obwohl gelegentlich als Motor für Mühlen und Pumpen eingesetzt, war das Gerät primär zur „Korrektion“ von störrischen oder faulen Insassen gedacht. Im Klartext: ein subtiles Folter-Werkzeug. Wie der Gefängnisaufseher James Hardie schrieb, war es „die beständige Monotonie, und nicht die harte Anstrengung, die ihren Schrecken verbreitet, und oft den halsstarrigsten Geist bricht.“ Wobei er sich zu bemerken beeilte, dass nach übereinstimmender ärztlicher Ansicht den Häftlingen kein gesundheitlicher Schaden zugefügt würde, im Gegenteil, in disziplinierender Hinsicht hätte sich die Maschine von beachtenswertem Nutzen erwiesen.
Kehrt die Tretmühle wieder, in Gestalt des Cross-Trainers? Anders als die Häftlinge auf der Tretmühle des 19. Jahrhunderts, die Leistung an die Maschine abgaben, konsumiert der moderne Benutzer des Laufbandes Leistung zwecks Erneuernung und Kräftigung seiner selbst, zum Aufbau seiner Muskulatur, zur Kompensation seiner eigenen Immobiltät. Nicht er treibt das Gerät an, sondern das Gerät treibt ihn an – auch dies ein Beispiel der Heteromobilität. Man halte sich etwa auch die grassierenden Flyer vor Augen. Repetitive Arbeit hat seit Sisyphus den Anstrich der Strafe. Deshalb war die Monotonie der Tretmühle eine passende Bestrafung renitenter Häftlinge. Heute nennt man diese Strafe Fitnesstraining. Müsste einem Zeitreisenden aus dem frühen 19.Jahrhundert, der all die schwitzenden, rotgesichtigen Menschen auf den Laufbändern der Fitnessstudios erblickte, nicht unwillkürlich die Frage auf der Zunge liegen, was sie denn verbrochen hätten...

  Salavaux Plage