Die säkular-religiöse
Ambivalenz
Seit Galileo Galilei lesen die Physiker im Buch der Natur,
das bekanntlich in der Sprache der Mathematik abgefasst sei. Und sie tun dies
mit grossem Erfolg. Genau besehen, ist das überaus erstaunlich. Was Galilei
kühn postulierte, war für Albert Einstein nach über dreihundert Jahren mehr
denn je Anlass tiefster Verwunderung: “Wie kann es sein, daß sich die
Mathematik, ein Produkt des menschlichen Geistes, das von keinerlei Erfahrung
abhängt, so wunderbar dazu eignet, Objekte der realen Welt zu beschreiben?“
Die Frage, so naiv sie klingt, birgt philosophischen und
religiösen Zunder. Es gibt eine verführerisch einfache Antwort darauf. Man
fabriziert unter experimentellen Bedingungen sozusagen mathematikgerechte
Objekte der realen Welt, und was sich einer solchen Prozedur widersetzt, fällt
aus dem Gesichtskreis der Fabrikation. Der Galilei zugeschriebene Imperativ
„Alles messen, was messbar ist, und messbar machen, was es nicht ist“, drückt
dieses mathematische Apriori der Naturwissenschaften klar aus. Von daher
betrachtet, erscheint die Antwort auf Einsteins Frage trivial.
Einstein wäre zweifellos nicht befriedigt gewesen von ihr.
In seinen Augen musste es einen tieferen Grund dafür geben, daß Gebilde des
reinen Denkens so viel aussagen können über die Natur. Deren Verständlichkeit
war für ihn zutiefst unverständlich. Und diese Unverständlichkeit wiederum wies
für ihn über die Physik hinaus. Deshalb verband sich mit seinem Forschen
unauflöslich eine Art von erkenntnistheoretischer Religiosität. Sie ist nicht
mit Einstein allein verknüpft. Wer einen Blick in die populärwissenschaftlichen
Bücher von Physikern wirft, wird bald einmal bemerken, daß Gott meist ein grosses
Register darin hat. Das ist letztlich nicht überraschend. Denn nur eine
einäugige Fortschrittsideologie, die von Francis Bacon bis heute die
„Herrschaft über die Natur“ hervorhebt, vergisst gerne einen tiefverwurzelten
Charakterzug der Naturwissenschaften, den ich als säkular-religiöse
Ambivalenz bezeichnen möchte.
Die Gottesperspektive
Einstein ist der grosse Vereinheitlicher in der Physik. Er
war - wie er selber sagte - getrieben von einem „Verallgemeinerungsbedürfnis“.
Dieses Bedürfnis wurde gespiesen aus religiösen Quellen. Seine ständige
Berufung auf Gott ist notorisch, und sie mutet gelegentlich fast arrogant an.
Als die Allgemeine Relativitätstheorie 1919 durch astronomische Messungen ihre
erste spektakuläre Bestätigung erfuhr, erwiderte Einstein auf die Frage nach
einem möglichen falsifizierenden Ausgang des Experiments: „Dann hätte mir der
Herrgott leid getan - die Theorie stimmt“. Die Haltung wurde nicht von allen
goutiert. Niels Bohr ärgerte sich darüber. Karl Popper berichtet recht ungnädig
von einem Gespräch mit Einstein: „Ich lernte nichts (..) Er neigte dazu, in
theologischen Begriffen zu argumentieren, und das war oft die einzige Art, mit
ihm zu diskutieren. Ich fand es letztlich uninteressant.“
Aber nicht nur Physiker und Philosophen stiessen sich an
Einsteins Art. 1929 geriet die Relativitätstheorie unter theologischen
Beschuss. Kardinal O’Connell aus Boston brandmarkte sie als nebulöse Spekulation,
welche allgemeinen Zweifel an Gott und seinem Werk säe und die schauderhafte
Erscheinung des Atheismus nach sich ziehe. Alarmiert sandte Rabbi Goldstein aus
New York ein Telegramm an Einstein, mit der dringlichen Frage: „Glauben Sie an
Gott? Stop. 50 Wörter als Antwort werden bezahlt.“ Einsteins Replik war kürzer:
„Ich glaube an den Gott Spinozas. An den Gott, der sich in der gesetzmässigen
Harmonie der Welt offenbart, nicht an den Gott, der sich für das Schicksal und
die Tätigkeiten der Menschen interessiert.“
Der Gott Spinozas - das ist der Schöpfer, der die Welt
raffiniert konstruiert hat, aber „nicht würfelt“. „In der Natur gibt es nichts
Zufälliges“, lesen wir in der Ethik
Spinozas, „sondern alle Dinge sind durch die Notwendigkeit der göttlichen Natur
dazu bestimmt, in ihrer Weise zu sein und zu agieren.“ Dieser Determinismus ist
die Basis von Einsteins „kosmischer“ Religiosität. In Spinozas Sicht sind Gott
und Natur eins (deus sive natura).
Wahre Religion basiert nicht auf Dogmen, sie erwacht aus dem ehrfürchtigen
Gefühl für eine alles Leben durchdringende Einheit. Dieses Gefühl allein
erzeugt die Idee Gottes, eines Gottes freilich ohne menschliches Gesicht. Er
manifestiert sich vielmehr in einer gesetzmässig geordneten Welt, weshalb die
Entdeckung physikalischer Gesetzmässigkeiten für Einstein immer auch ein Weg
hin zu Gott war: „In der Wahrnehmung tiefgründiger Vernunft und Schönheit im
Universum liegt die wahre Religiosität; in diesem, und nur in diesem Sinne bin
ich ein tief religiöser Mensch.“
Die theoretische Gralssuche
Alle
fundamentalen physikalischen Gesetze sind erstaunlich einfach - auf einem
elaborierten Niveau mathematischer Begrifflichkeit allerdings. Das zeigt nicht
zuletzt die Ikonen-Formel der modernen Physik, E = mc2. Die
Vermutung stellt sich natürlich schnell ein, daß hinter dieser Einfachheit
etwas steckt: die Einfachheit und Raffinesse der Natur selbst oder eben - wie
bei Einstein - Gottes. Aus einer solchen Vermutung heraus entspinnt sich fast
zwangsläufig der heuristische Leitfaden, nach den Grundgesetzen gewissermaßen
wie nach den fundamentalen „Spielregeln“ der Natur zu suchen.
„Der
Traum von der Einheit des Universums“, wie ihn Steven Weinberg, einer der
grossen zeitgenössischen Physiker, genannt hat, übt eine anhaltende Faszination
auf die Forscher aus. Er hat meiner Meinung nach viel zu tun mit der eingangs
erwähnten säkular-religiösen Ambivalenz, und in ihm glimmt wahrscheinlich eine
mythische Urflamme. Eine letzte, alles umfassende Theorie verheißt gewissermaßen
die Gottesperspektive. Am Ende lockt der Gral der theoretischen Physik. Diese
Strategie hat sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten als äußerst
vielversprechend erwiesen.
Einsteins
Erbe lebt weiter im Projekt einer umfassenden Theorie aller vier bekannten
fundamentalen Wechselwirkungen, also der beiden Kernkräfte, des
Elektromagnetismus und der Gravitation. Aussichten bestehen auf eine sogenannte
Superstringtheorie, einer Quantentheorie des Raumes. Sie postuliert als
Grundeinheiten des Universums nicht Teilchen, sondern eine Art von elementaren
Mikrosaiten (ca. 1020 mal kleiner als der Durchmesser des Protons),
deren Schwingungszustände sich als die heute bekannten Elementarteilchen manifestieren
können. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, die raumzeitliche Natur des
Universums mit der ultramikroskopischen Struktur der Materie zu verknüpfen.
Eine solche Theorie beflügelt „fundamentalistische“ Hoffnungen auf eine letzte
große Sicht, ebenso wie sie ein Szenario vom „Ende“ der Physik heraufbeschwört,
nicht unähnlich jener terminalen Stimmung vor einem Jahrhundert, als der Gebäudebau
der klassischen Physik als abgeschlossen galt und nur noch Detailarbeiten auf
der Agenda standen. Und als Einstein die Fundamente dieses Gebäudes
revidierte... Das Meiste wird wohl Verheissung bleiben. Wie es sich für eine
echte Gralssuche gehört.
Irreführende Einfachheit
Die
Frage, die sich natürlich stellt, ist: Was, wenn wir im Besitz einer letzten
grossen Theorie wären? Wir wüssten „im Prinzip“ alles, aber alles ist nicht
genug. Damit meine ich Folgendes. Wir lernen in der Schule, daß alle Körper auf
der Erde mit der gleichen Beschleunigung fallen, daß die Fallstrecke mit der
Fallzeit quadratisch zunimmt. Ein Gesetz der Natur, von Galilei entdeckt.
Schauen wir genauer hin, werden wir bemerken, daß es nie genau gilt. Eine Feder
und ein Hammer fallen unterschiedlich schnell. Galilei beeilte sich, uns zu
belehren, daß die Gesetze der Natur nur unter Idealbedingungen gelten, d.h. nur
dann, wenn wir uns alle Komplikationen wie etwa Luftwiderstand und andere
störenden Einflüsse wegdenken. Die Gesetze sind für eine ideale Natur gedacht.
Die reale Natur aber ist der Inbegriff aller Komplikationen.
Die
Einfachheit fundamentaler physikalischer Gesetze ist das eine. Ihre Lösung als
mathematische Gleichungen unter „besonderen Komplikationen“ ist das andere. Wer
kennt nicht die Frustration aus dem Phyikunterricht, wenn
sich relativ einfach formulierbare Prinzipen in der Anwendung auf konkrete
Probleme als tückisch schwierig herausstellen. Damit kämpfen nicht nur Schüler,
sondern Nobelpreis-Physiker wie Robert Laughlin, der über die Quantentheorie
schreibt: „Wir sind die stolzen Besitzer von mathematischen Gleichungen, die -
so weit wir wissen - allem in der Welt gerecht werden, was grösser ist als ein
Atomkern. Sie sind sehr einfach und schön und können in zwei, drei Zeilen
hingeschrieben werden. Aber dann findet man heraus, daß diese Einfachheit
äußerst irreführend ist. Es ist teuflisch schwierig, mit den Gleichungen
umzugehen und tatsächlich unmöglich, sie ausser in einer kleinen Zahl von
Spezialfällen zu lösen.“ Hat uns Gott etwa schöne einfache Gleichungen
geschenkt, wohl wissend, daß wir
Menschen nicht viel damit anfangen können ? ...
„More is different“
Zum Beispiel Fragen nach der Natur der Stoffe und ihrer
Eigenschaften. Die technische Revolution unseres Silizium-Zeitalters verdankt
sich wesentlich der Entdeckung einer besonderen Eigenschaft der Materie,
nämlich der Halbleiterfähigkeit. An dieser Forschungsfront kristallisiert sich
immer deutlicher eine Einsicht heraus: Die Physik ist mitnichten „am Ende“. Das
Problem ist, kurz gesagt, folgendes: Die Stoffe, die uns aus dem Alltag
vertraut sind, setzen sich aus Mikroobjekten zusammen, aus Molekülen, Atomen,
Elementarteilchen, Subelementarteilchen. Wir kennen die fundamentalen Gesetze
ihrer Wechselwirkung; aber wir kennen nach wie vor schlecht das Verhalten der
Teilchen im Kollektiv. Materie ist alles andere als eine langweilige Ansammlung
von ungeheuer vielen Teilchen – sie ist ein richtiges Wunderhorn.
Wie es der Physiker P.W. Anderson schön sagte: „More is
different“. Alltägliche Materialien manifestieren kollektive Effekte, welche in
den fundamentalen Gesetzen nicht „festgeschrieben“ sind. Dazu gehören triviale
Eigenschaften wie Festigkeit, Flüssigkeit, elektrische Leitfähigkeit, ebenso
wie exotische, z.B. die flüssige Kristallinität, die Supraleitfähigkeit oder
Supraflüssigkeit ultrakalter Stoffe (supraflüssiges Helium beginnt nahe beim
absoluten Temperaturnullpunkt spontan die Wände eines Bechers hochzukriechen).
Dazu gehören aber auch Eigenschaften, wie wir sie von den Grundbausteinen des Lebens
her kennen, etwa die informationstragende Struktur organischer Moleküle.
Offensichtlich gibt es mehr Dinge zwischen Mikroebene und Makroebene, als es
sich die reduktionistische Schulweisheit träumen lässt. Und nicht wenige
Physiker lassen sich hier von einem neuen Paradigma leiten, für das Robert
Laughlin den folgenden Slogan geprägt hat: In der Natur ist Komplikation die
Regel, Einfachheit die Ausnahme.
Überdies zeigen
die Thermodynamik von Nicht-Gleichgewichtszuständen und die Komplexitätstheorie
- ein neuer Zweig der Mathematik -, daß Ordnungsmuster sich
spontan aus regellosem Verhalten heraus bilden können. Der Zufall wirkt durchaus
konstruktiv, gesetzes- und strukturbildend. Es ist, so gesehen,
nicht widersinnig, das
Gesetzmässige an einem Vorgang quasi als „Glückstreffer“
eines im Grunde chaotischen Naturgeschehens zu betrachten. Der Chemiker Ilja
Prigogine - einer der Pioniere der Chaostheorie - spricht in diesem
Zusammenhang unumwunden von den „Gesetzen des Chaos“. Und John Wheeler - ein führender
Kosmologe (er prägte den Begriff des Schwarzen Lochs) - brachte einmal die
„subversive“ Auffassung physikalischer Gesetze auf den „anti-spinozistischen“
Punkt: „Es gibt kein Gesetz, ausser dem, daß es keines gibt“. Weiter kann man
sich von Einstein nicht entfernen.
Gibt es Naturgesetze?
Warum gibt es Naturgesetze und nicht vielmehr keine? Woher
wissen wir eigentlich, daß die Natur „fundamental“ einfach ist und nicht
„fundamental“ chaotisch? Oder mal dies, mal jenes? Wir wissen es - religiöse Zuversicht einmal
dahingestellt - nicht. Das ist kein resignativer Bescheid. Bloß ein kleines
Memento, das uns auf den Boden des Profanen zurückholt: Wenn wir von der
„Einheit“ der Natur oder des Universums sprechen, sprechen wir von unseren Theorien; von einfachen oder
vertrackten Theorien; von Theorien, die mit deterministischen oder
nichtdeterministischen Mechanismen arbeiten, von Theorien, die experimentell
mehr oder weniger bestätigt sind.
All dies läuft auf eine sehr, sehr elementare Lektion
hinaus: Das Bild, das sich die Physiker von der Natur machen, ist nicht die
Natur. Niemand weiss, was sie noch in petto hat. „Man muss immer mit einer
Überraschung, mit einer sehr grossen Überraschung rechnen,“ sagte Einsteins
großer Gegenspieler, Niels Bohr. Um im Bild vom Anfang zu bleiben: Es könnte
durchaus sein, dass das Buch der Natur keine letzte Seite hat.
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