Samstag, 2. August 2025

 



Neurobiologie der Ideologie – selber eine Ideologie?

Wir alle sind ideologieanfällig. Was natürlich die Frage provoziert, ob und inwieweit diese Anfälligkeit im Gehirn verankert ist. Es gibt neuerdings eine Disziplin namens politische Neurobiologie, die unsere Ideologieanfälligkeit durch die Gehirnbrille betrachtet. Die Neuropsychologin Leor Zmigrod hat zu diesem Thema ein Buch verfasst: «Das ideologische Gehirn» (deutsch 2025). 

Es reiht sich ein in eine Tradition, die politisches und moralisches Verhalten neurowissenschaftlich zu erklären versucht – ein mittlerweile eigenes Genre mit Autoren wie John Gribbin, David Amodio, Jonathan Haidt, Michael Gazzaniga, Chris Frith. Diese vertreten keineswegs einen kruden Neuro-Reduktionismus, wie er sich im Materialismus des 19. Jahrhunderts äusserte, etwa in der berüchtigten Analogie des Mediziners Carl Vogt, der Geist verhalte sich zum Gehirn wie der Urin zur Niere. Doch bei allem Fortschritt bleiben sie eine Antwort auf die Frage schuldig, wie Geist und Gehirn zusammenhängen. Das ist bei Leor Zmigrod nicht anders. 

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Ihr Schlüsselbegriff ist Rigidität. Er kennzeichnet den ideologischen Denkstil, zumal drei Hauptmerkmale: erstens das starre Festhalten an einer Doktrin, zweitens die Resistenz gegenüber neuen Erkenntnissen, drittens den Ingroup-Outgroup-Bias, das heisst, die Bevorzugung der eigenen Meinung gegenüber der Meinung anderer.  Dass ein solcher Denkstil zu Intoleranz disponiert, liegt auf der Hand. 

Was fügt Frau Zmigrod Neues hinzu? Eine Hypothese: Gedankliche Rigidität wider-spiegelt neuronale Rigidität. Damit verschiebt sie den Fokus von geisteswissenschaftlichen zu naturwissenschaftlichen Erklärungen. Aber sie geht weiter. Sie reklamiert für sich einen «neuen und radikalen wissenschaftlichen Ansatz». Gleich am Anfang schreibt sie keck: «Für mich sind Gehirn und Geist ein und dasselbe, denn es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass der menschliche Geist ohne Gehirn existiert». Als ob ein solcher Beweis nötig wäre! Kaum ein Wissenschaftler bestreitet heute, dass neuronale Aktivitäten eine notwendige Bedingung für geistige Aktivitäten sind. Freilich folgt daraus nicht die Identität von Gehirn- und Geistesaktivität. Diesen Fehlschluss lernt man in jedem Propädeutikum der Logik kennen.

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Aber konzentrieren wir uns auf das Hauptanliegen von Leor Zmigrod. Sie möchte erklären, «wie ideologische Überzeugungen aus der Biologie hervorgehen». Und damit lädt  sie sich ein gewaltiges erkenntnistheoretisches Fuder auf. Schon das Wort «hervorgehen» ist heikel. Was meint es genau: einen Kausalnexus, eine Neigung, ein Begünstigen, ein statistisches Resultat? Die Philosophen debattieren seit dem 17. Jahr-hundert über diese Frage, und sie ist bis heute nicht eindeutig entschieden.  

Vermutlich lässt sie sich gar nicht eindeutig entscheiden, weil eine Neurobiologie der Ideologie vom Ansatz her mit mindestens zwei Erklärungsebenen operiert, der mentalen (Motive, Gedanken, Absichten) und der neurobiologischen (Aktionspotenziale, Synapsen, neuronalen Codierung). Nehmen wir zum Beispiel eine Aussage wie «Personen mit einer aktiveren Amygdala tendieren zu stärkeren Angstreaktionen und damit zu konservativem Gedankengut». Wie stellt man das fest? Nun, die neuronale Aktivität beobachtet man auf Gehirnscans, die Verbindung mit konservativem Gedankengut ermittelt man durch Befragung und Tests: Technologie trifft Statistik. Ei-ne bewährte, durch die KI noch verstärkte Methodologie. 

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Das macht sie nicht unproblematisch. Denn im Hintergrund lauert immer die Frage: Was hat die Ebene des Geistes mit der Ebene des Gehirns zu tun? Die Frage ist in einschlägigen Kreisen als das «harte Problem» bekannt. Und die Debatte läuft darüber, ob es überhaupt lösbar sei.  Der «radikale» Ansatz von Frau Zmigrod und ihre Tests mit  «Tausenden» von Probanden bringen uns auch nicht weiter. 

Und dies hauptsächlich aus zwei Gründen. Der erste liegt im empirischen Vorgehen. Betrachten wir als Beispiel den anterioren cingulären Cortex, die Region, die komplexe kognitive Prozesse steuert, etwa die Fehlerwahrnehmung und Anpassung an veränderte Umweltbedingungen. Es gibt Experimente, die zeigen, dass diese Region bei «nicht-rigiden» Personen grösser ist. Die Crux dabei ist die Wahl der Probanden. Stellt man in einer Gruppe einen solchen Zusammenhang fest, folgt daraus nicht, dass dies auch bei einer anderen der Fall ist. Die Experimente sind oft schwer replizierbar. Die Universalisierung der statistischen Resultate erweist sich stets als frag-würdig. 

Das führt zum zweiten Grund. Die Neurobiologie der Ideologie stellt fest, dass be-stimmte Hirnregionen wie Amygdala, präfrontaler Cortex, anteriorer cingulärer Cortex mit gewissen Denkstilen zusammenhängen. Aber wir können noch so viel über die neuronale Dynamik wissen, dieses Wissen führt uns nicht aus der Gehirnebene heraus. Wenn Zmigrod zum Beispiel feststellt, dass bei flexiblen Menschen die Dopaminkonzentration im präfrontalen Cortex hoch und im Striatum niedrig ist, dann fügt sie einfach Beobachtungen aus zwei Ebenen aneinander – sie korreliert sie - , sie sagt nicht, wie sie auseinander «hervorgehen». 

Nun erhebt aber gerade die Neurobiologie der Ideologie den nicht unbescheidenen Anspruch, die Frage nach der Henne und dem Ei zu beantworten: «Was ist Ursache, was Wirkung? (..) In welche Richtung zielt der Pfeil?» Die Antwort: «Unser Gehirn formt unsere politischen Einstellungen, und gleichzeitig formen unsere Ideologien die Funk-tionsweise unseres Gehirns (..) Das Bestimmen der Richtung, in die der Pfeil fliegt, bleibt eine ständige Herausforderung». Und wir sind so klug als wie zuvor. 

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Vermutlich ist Frau Zmigrod selbst nicht ganz wohl bei ihrer Sache. Erkenntnistheoretische Skrupel suchen sie heim: «Jeder Gedanke hat einen biologischen Marker, also hat eine neuronale Aktivität an sich wenig mehr zu bedeuten, als dass wir am Leben und Organsimen mit Bewusstsein sind (..) Wann sagt ein neuronales Muster etwas Spannendes über die Natur ideologischen Denkens aus? Wann ist die Neurowissenschaft der Ideologie ein verheissungsvolles Feld und wann ist sie eine sinnlose Übung?» 

Ich würde darauf antworten: Sie ist weder verheissungsvoll noch sinnlos. Sie ist nützlich, wenn sie neue spannende Fragen stellt. Dass sie «radikale» Einsichten über die Erziehung zu flexiblem Denken liefert, darf einstweilen stark bezweifelt werden. Nach wie vor ist wichtig, was man denkt. Wenn Ideologien komplexe Verhältnisse auf simple Muster reduzieren, dann empfielt sich vor allem eine Kritik dieser Logik.  

Ideologie sitzt nicht im Gehirn. Eine Ideologie ist ein kollektives Phänomen, eingebettet in Traditionen, Rituale und gesellschaftliche Institutionen. Wer Ideologie durch die Untersuchung isolierter Gehirne verstehen will, riskiert einen Kategorienfehler – ähnlich, wie wenn man im Parlamentsgebäude nach einem Raum namens «Demokratie» suchen würde.  

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Ideologisch wird eine Neurobiologie der Ideologie dann, wenn sie sich an einem irre-führenden Ideal orientiert. Und dieses Ideal heisst Ideologiefreiheit. Zmigrods Schlussbemerkungen sind bezeichnend: «Der Kampf gegen Rigiditäten zwingt uns dazu, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie ein anti-ideologisches Gehirn aussehen könnte (..) ein Bewusstsein, das frei ist von Ideologie». Hat uns Frau Zmigrod nicht eindringlich  vor dem Zwangscharakter der Ideologie gewarnt? Und nun präsentiert sie uns ihren Ansatz selbst als «zwingend».

«Aus einer Ideologie auszubrechen heisst, sich mit multiplen Stimmen auseinanderzusetzen», schreibt Leor Zmigrod. Man kann ihr Buch in diesem Sinn als einen Weckruf lesen, der Stimme der Geisteswissenschaften mehr Gehör zu schenken in einer Zeit, in der ohnehin technologische und naturwissenschaftliche Ansätze dominieren. Ideologiekritik ist bei politischen Doktrinen dringend nötig. Man vergesse nicht, sie auch auf die politische Neurobiologie anzuwenden. 



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