Der 24/7-Mensch
Unser Leben steht unter dem
Diktat permanenter
Abrufbarkeit, Dienstbarkeit, Vernetztheit : Always On! Im Englischen gebraucht
man das Kürzel „24/7“ für den Zustand der Dauerbereitschaft: 24 Stunden am Tag,
7 Tage die Woche. Schlaf wir zu einem Hindernis, ja Skandal, im globalen Hamsterrad der Produktion und
Konsumption. Geld schläft nicht.
Unlängst zog eine amerikanische Spatzenart, der Dachsammer,
die Aufmerksamkeit des Pentagons auf sich. Dieser Zugvogel kommt auf seinem saisonalen
Flug von Alaska nach Nordmexiko ohne Schlaf aus, bis zu einer Woche. Die
Fähigkeit ermöglicht ihm, während der Nacht zu fliegen und bei Tag Nahrung zu
suchen. Die erstaunliche schlaflose Effizienz war für das Militär Anlass,
ornithologische Studien in Auftrag zu geben, die herausfinden sollten, wie die
Gehirnaktivität des Dachsammers ihm diese langen Wachperioden erlaubt. Mit dem
Ziel, die gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen zu übertragen.
Die Wissenschafter beschäftigen sich nun also mit Techniken der Schlaflosigkeit, basierend auf Neurochemikalien, genetischen Eingriffen oder transkranieller Magnetstimulation. Ornithologie wird in den Dienst der nationalen Sicherheit genommen, als Teil eines Grossprojekts der Agentur DARPA („Defence Advanced Research Projects Agency“), deren primäres Ziel die Entwicklng wirksamer neuer Technologien für die Kriegsführung ist. Zu den angestrebten „Produkten“ gehört auch der „Dachsammer“-Soldat, der seinen Auftrag von unbestimmter Zeitdauer effizient ausführt, unbeeinträchtigt durch das Bedürfnis nach Schlaf und Erholung: die perfekte soldatische Maschine.
Die Wissenschafter beschäftigen sich nun also mit Techniken der Schlaflosigkeit, basierend auf Neurochemikalien, genetischen Eingriffen oder transkranieller Magnetstimulation. Ornithologie wird in den Dienst der nationalen Sicherheit genommen, als Teil eines Grossprojekts der Agentur DARPA („Defence Advanced Research Projects Agency“), deren primäres Ziel die Entwicklng wirksamer neuer Technologien für die Kriegsführung ist. Zu den angestrebten „Produkten“ gehört auch der „Dachsammer“-Soldat, der seinen Auftrag von unbestimmter Zeitdauer effizient ausführt, unbeeinträchtigt durch das Bedürfnis nach Schlaf und Erholung: die perfekte soldatische Maschine.
Der 24/7-Mensch
Das ist nur ein Aspekt eines anschwellenden
Mainstreams. Die technisch erzeugte Schlaflosigkeit steht als Emblem für die permanente
Abrufbarkeit, Dienstbarkeit, Vernetztheit des heutigen Menschen. Im Englischen
gebraucht man das Kürzel „24/7“ für den Zustand der Dauerbereitschaft: 24
Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Im Dienstleistungssektor ist dieser Zustand
bereits die Norm: Polizei, Feuerwehr, Spitäler, Geheimdienste, Callcenters sind
24/7-Betriebe. Der ganze globale Markt hat eine 24/7-Infrastruktur. Vertriebstrainer
führen z.B. ein 24-Stunden-Seminar – ein „Webinar“ – über neue Verkaufsmethoden
durch. „Wir sind Umsatz“ lautet das Motto. Wer verkauft, schläft nicht. Und in
dem Masse, in dem wir diese Dauerbereitschaft internalisieren, nimmt ein neuer Idealtypus
Gestalt an: der 24/7-Mensch. Der
Übergriff dieser Lebensform auf den Schlaf lässt sich z.B. an der schwindenden durchschnittlichen
Schlafenszeit ablesen. Der normale erwachsene Amerikaner,
schreibt der Kunsthistoriker Jonathan Crary in seinem Buch „24/7: Late
Capitalism and the End of Sleep“ (2013), schlafe heute etwa sechseinhalb
Stunden: eine markante Schlafreduktion gegenüber den acht Stunden vor einer
Generation und eine noch markantere gegenüber den zehn Stunden zu Beginn des
letzten Jahrhunderts.
Schlafentzug ist Persönlichkeitszerstörung
Hier manifestiert der Schlaf
seine paradoxe Doppeldeutigkeit: biologisch nützlich, ökonomisch nutzlos. Seine
unprofitable Auszeit kann im Rund-um-die-Uhr-Getriebe der heutigen Lebens- und
Arbeitswelt nur als Skandal erscheinen. Er muss minimiert werden. Die Ökonomie verlangt seine Abkopplung von den natürlichen Zyklen.
Auch
wenn unter Biologen und Neurologen keine Einigkeit herrschen mag über die
vitalen Funktionen des Schlafes, so besteht doch kein Zweifel daran, dass
Schlafmangel diese Funktionen
beeinträchtigt. Schlafentzug weist ex negativo auf die Nützlichkeit des Schlafs
hin. Als Foltermethode seit Jahrhunderten eingesetzt, entfaltete der Entzug sein
Gewaltpotenzial vor allem durch das elektrische Licht; zum ersten Mal systematisch
erprobt von den Häschern Stalins in den 1930er Jahren. Schlafentzug markiert
den Beginn des „Förderbands“ – wie dies in einschlägigen Kreisen genannt wird -
: einer ausgeklügelten Abfolge von Brutalitäten mit dem Ziel, die Wahrheit ans
Licht zu „befördern“ (der zynische Euphemismus der Geheimdienste spricht
allerdings vom Schlafentzug als von einer „psychologischen
Überzeugungstechnik“). Man kann ein Individuum irreparabel zerbrechen, wenn man
ihm den lebenswichtigen Kontakt zur Aussenwelt – sinnliche Wahrnehmung – und
zur Innenwelt – Schlaf und Traum – versagt. Mit dem Schlaf treibt man dem
Menschen sein Selbst aus.
Die Nacht verschwindet
Mit dem Schlaf korrespondiert
die Nacht, die Dunkelheit, der Schatten. Jeremy Benthams „Panoptikum“, das
architektonische Überwachungsmodell für Gefängnisse, Fabriken, Spitäler und
Schulen des 19. Jahrhunderts, funktioniert nur optimal bei permanenter
Helligkeit. Der lichtdurchflutete Raum eliminiert die dunkeln Schlupfwinkel. So
wie die gnadenlose Datenhelligkeit des Netzes und seiner Social Media heute das
Zwielicht abschafft, das Privatheit und Intimität brauchen. Bereits vor der
digitalen Durchleuchtung gab es in den späten 1990er Jahren den Plan eines
Systems von spiegelnden Satelliten, welche das Sonnenlicht auf die Erde
reflektieren würden. Ursprünglich gedacht als elektrizitätssparende Beleuchtungsanlage
für die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen in Gebieten mit langen Polarnächten,
wuchs sich die Idee aus zu einem Illuminationsprojekt planetarischen Ausmasses,
durch das der Globus buchstäblich in eine immerwährende Mittagshelle getaucht
worden wäre. Es scheiterte an der Opposition von Umweltverbänden und aufgrund
zu vieler Zufälligkeiten. Aber die Ambition dahinter - „Tageslicht die ganze
Nacht hindurch“ lautete die Devise - bleibt aktuell und beunruhigend. Hier
liegt das Endresultet der Abkopplung aus natürlichen Zyklen vor uns, um das
Laufrad des globalen Marktes Tag und Nacht auf Touren zu halten. Geld schläft
bekanntlich nicht. Und es definiert zunehmend die Bedingungen des Homo oeconomicus
insomnians.
Der Maschinen-Schlaf
Unter diesen Bedingungen beobachten wir nicht nur eine
Verwischung der Grenze zwischen Wachen und Schlaf, Tag und Nacht, sondern
generell zwischen Maschine und Mensch. Selbst Maschinen schlafen heute. Benütze
ich meinen Drucker gerade nicht oder schliesse ich meinen Laptop, dann
verabschieden sie sich in den „Sleep“-Modus. Apple führte in sein Betriebsssystem das sogenannte „Power Nap” ein – das
Energienickerchen zwischendurch -, einen Zustand, in dem der Computer immer
noch wichtige Aufgaben erfüllt, z.B. E-Mails empfängt, Software-Updates
herunterlädt, Backups erstellt. Die
Maschine, die selbst im Schlaf arbeitet – wird sie zum Vorbild des Werktätigen
im digitalen Zeitalter? In
der Tat führen Firmen und Behörden Power-Napping bereits als regeneratives
Mittel ein, selbstverständlich unter der normativen Vorgabe der
Leistungssteigerung.
Der Sleep Hacker
Hier wird uns die Neurobiologie wahrscheinlich noch viel
über die „Maschine“ Gehirn und die Bedeutung und Nützlichkeit des Schlafes zu
sagen haben. In einem gerade erschienenen Buch – „Autopilot .The Art and Science of Doing Nothing“ (2013) – berichtet der Autor Andrew
Smart von erstaunlichen „intrinsischen“ Aktivitäten bestimmter Hirnregionen,
die sich im Ruhezustand abspielen, dann also,
wenn wir scheinbar nichts tun. Und er macht daraus – wie heute üblich - auch gleich ein neurobasiertes Vademekum:
Nichtstun und Tagträumen als unentbehrliches „Enhancement“ unserer mentalen
Fähigkeiten. Allerdings werden wir uns gleichzeitg darauf gefasst machen müssen,
dass die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse dazu prädisponiert sind, die
verborgene Produktivität des Schlafs zu exploitieren und so die letzte Bastion
des inneren Rückzugs auch dem Eingriff von aussen zu öffnen – ein Taylorismus
des Unbewussten. Schon gibt es „Sleep hacking“, eine Form der neuen Selbst-Überwachung,
des „self tracking“. Ein Blogger führt
beispielsweise minutiös Bilanz: Von 7.27 Stunden Schlaf seien 52% leichter, 29%
REM- und 19% tiefer Schlaf gewesen; was er aufs Ganze gesehen als „viel
vergeudete Zeit“ taxiert. Unlängst beschrieb Eric Schmidt von Google die
Wirtschaft des 21. Jahrhunderts als eine „Ökonomie der Aufmerksamkeit“.
Gewinner würden jene sein, die möglichst viele „Augäpfel“ auf sich ziehen und
kontrollieren könnten. Selbstredend steht der Schlaf einer solchen Augapfelmaximierung
im Weg. Und vielleicht werden wir künftig ohnehin in ihn tauchen wie in einen Film,
den wir vom Schlaf-Programm auswählen. Im Vorspann läuft unvermeidlich der
Hinweis „Gesponsert von Google“.
Homo
compensator
Womöglich sensibilisiert uns gerade eine Zeit der
totalen Transparenz für eine Neuentdeckung dieses grossen dunklen Kontinents in
uns, der – es ist zu wünschen - in dem
Masse unkolonisierbar bleibt, in dem man ihn zu kolonisieren sucht. Der Schlaf
ist eine der letzten, wenn nicht die letzte Zone des inneren Rückzugs in einer
Gesellschaft, die den Zustand der Dauerwachheit und Dauerverknüpftheit zur Norm
erhebt. Gegen sie und das Ideal des perfekten 24/7-Menschen müsste ein
anthropologischer Gegentypus an Bedeutung gewinnen. Ich denke an Odo Marquards
„Homo compensator“, der gerade hier an Aktualität gewinnt: an den Menschen des
Ausgleichs, welcher den Off-Modus des Schlafs nicht nur als Quelle der
Regeneration versteht, sondern als renitentes Definiens seiner selbst: Mein
Schlaf gehört mir!
Und in diesem Zusammenhang könnte auch der Dachsammer zu
einem anderen Vorbild werden. Man gibt seinen Ruf lautmalerisch so wieder: „You can’t come to catch me!“ – „Du wirst mich
nicht fangen!“ Ein wunderbar passender Ausdruck für die Dissidenz des Schlafs. Für
die Dissidenz des Menschen gegenüber dem Affront seiner totalen Überwachbarkeit.
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