NZZ, 28.3.2020
Klopapierpandemie
und Krise der Rationalität
Wir kennen Dyslexie, Dyskalkulie, Dysorthographie Dysästhesie:
Lese-, Rechen-, Rechtschreibschwäche, Empfindungsstörung. Es gibt daneben auch
Dysrationalität: eine „Schwäche“ der Verstandestätigkeit bei ansonsten
intelligenter Disposition. Wir alle erliegen
ihr gelegentlich. Zum Beispiel in Zeiten einer Virenpandemie. Wir sehen, wie
sich die Regale leeren, und der erste Gedanke ist: Ich muss unbedingt auch noch
von dieser Ware haben, handle es sich um Klopapier, Pinzetten oder
Fusspilzsalbe – wenn alle sie einkaufen, liegt ja sicher ein Grund dafür vor. Das
heisst, zwei Perspektiven sind im Spiel: meine und jene der anderen. Jede
Person mag guten Grund haben, sich mit Toilettenpapier einzudecken, aber alle
diese individuellen guten Gründe addieren sich nicht zu einem kollektiven guten
Grund. Das ist die panische Ansteckung: Wenn der andere Panik hat, muss ich
auch Panik haben.
***
Wie viele Menschen meiner Generation, bin ich es gewohnt,
mit diesem Stoff namens Bargeld zu hantieren. Aber jetzt haftet ein maliziöser
Gedankenkeim im Schädel: Der Stoff hat ja seinen Verlauf schon durch viele – womöglich
ungewaschene – Hände genommen und trägt eine ganze unsichtbare Armee von Krankheitserregern.
Bargeld ist dreckig, buchstäblich. Also
setze ich auf bargeldlosen Verkehr und benutze die Kreditkarte. Aber die muss ich
ständig in irgendeinen Schlitz schieben und meinen Code auf der Tastatur
eingeben, mit der schon Tausende vor mir Kontakt gehabt haben. Und der Gedanke nimmt
Fahrt auf: Alle die Dinge, die ich im Laufe eines Tages berühre, bilden sie
nicht eine tückische taktile Kaskade der Kontamination? Wenn man da nicht zwangsneurotisch,
sprich: zum Händealkoholiker wird.
Jedenfalls entwickelt man sich in diesen Zeiten zu einem regelrechten
Forensiker manueller Gewohnheiten. Man verdächtigt andere und sich selber des
„delinquenten“ Handgebrauchs und späht nach entsprechenden Indizien.
Unser Zeitalter nennt sich das digitale: das Zeitalter des
Fingers. Und was tut dieser Körperteil die ganze Zeit? Er schaltet ein und aus,
er drückt Tasten und Knöpfe. Eine ungeheuer einflussreiche Symbolik umgibt Knopf,
Taste und nun Touchpad, und die Asymmetrie zwischen Aufwand und Resultat lädt die
Geste des Berührens ambivalent auf. Am Knopf zeigt sich die ganze Dialektik der
Technikgeschichte. Die verführerischen Welten, die sich durch den Knopfdruck
erschliessen und die unbekannten Gefahren, die sie bergen, bilden eine üppige
Wildnis der Phantasie, in der Literatur, Film, Werbung, Propaganda jagen. Und
nun erweist sich der Finger, dieses wunderbare Organ der Kreativität, jäh als Unheilsbringer.
***
Für eine Person, die in der letzten Grippeepidemie nicht
erkrankt ist, klingt nun plötzlich das ganze Getöse um Corona vielleicht
übertrieben bedrohlich. Hier lässt sich eine weitere Dysrationalität
feststellen: die Verfügbarkeitsheuristik, wie sie die Psychologen Daniel
Kahneman und Amos Tversky genannt haben. Wir überschätzen oder unterschätzen
ein Risiko oft, je nachdem, ob wir einen schweren oder einen leichten Fall in
Erinnerung behalten. Ein herausstechendes Ereignis, bleibt leicht im Gedächtnis
haften und lässt sich wieder abrufen. Vielzitiert ist das Beispiel der
Flugzeugunfälle. Sie sind seltener als Autounfälle, aber man überschätzt das
Risiko des Fliegens aufgrund des meist tragischen Unfallausgangs und eines
entsprechenden medialen Hypes. Die Erinnerung stellt uns dramatische Fälle zur
Verfügung. Umgekehrt liesse sich Ähnliches über die Unterschätzung sagen. An
was erinnern wir uns in der Schweiz, wenn wir an Epidemien denken? Nun, an die
SARS-Infektion 2003 und an die Schweine-Grippe 2010. In beiden Situationen sind
wir glimpflich davongekommen. Wo wir uns nicht zu sorgen brauchen, müssen wir
auch nicht vorsorgen. Womöglich verfügt deshalb unser Gedächtnis vor allem über
die Kategorie „Verschontwerden“, was im Fall des Coronavirus zunächst zu einer
Unterschätzung des Risikos führte.
***
Vergessen wir nicht die emotionale Seite, vor allem ihre
Inflation. Je mehr die Medien den Emotionen Gelegenheit geben, sich
„aufzublasen“, desto mehr verdrängen sie die rationale Seite. Nicht dass wir
keine Emotionen haben oder sie gar unterdrücken sollten. Das Problem ist
vielmehr der gefährliche Mix aus schlecht geeichten Gefühlen und begrenztem
Wissen. Dieser Mix erweist sich selber als höchst ansteckend.
Um hier eine Analogie aus der Physik zu verwenden, das
Phänomen der Resonanz. Eine Saite, die zu schwingen beginnt, kann unter
Umständen auch eine benachbarte Saite in Schwingung bringen. Die Nachrichten
über den Tribut an Toten, den das Virus in China oder auch in Italien fordert,
schüren unsere Ängste. Wir beginnen quasi mit kleinen Angstschwingungen und stecken
andere an zum Resonieren. Dadurch verstärken wir gegenseitig unsere Ängste über
ein Mass hinaus, das durch die Faktenlage nicht notwendig gerechtfertigt ist.
Zudem werden wir – heftiger schwingend – auch empfänglicher für „falsche“
Schwingungen – Gerüchte und Fake News -, und so treten wir einen Teufelskreis
los. Im Kollektiv steigt die Angst-Amplitude. In der Physik nennt man dies
„Resonanzkatastrophe“. Man kann damit Brücken zum Einsturz bringen. Und man
kann analog das rationale Denken kollabieren lassen.
Im Zusammenhang mit der Verfügbarkeitsheuristik steht
natürlich ein anderes dysrationales Phänomen: Monothematik, die einseitige
thematische Diät. Gerade dieser Tage mästen uns Zeitungen mit einem einzigen
Thema, reduzieren den Umfang der Berichterstattung, plausiblerweise, weil nicht
viel aus der Welt der Massenveranstaltungen zu hören ist. Dabei öffnete doch
gerade die Zeit der Pause, des Werktags-Sabbats, den Raum der Reflexion, des
Innehaltens, des Besinnens, also den Raum für „abseitigere“ Themen, die
vielleicht schon lange auf der Halde liegen; Themen, die uns in der hektischen
Schnelligkeit der News die nötige Langsamkeit beibringen, den Ernst der Lage zu
erkennen.
***
Apropos Kenntnis der Faktenlage. Sie ist dringend. Aber auch
hier erliegen wir leicht einer Dysrationalität. Hyperinformiertheit kann
Ignoranz und Ungewissheit verstärken. Wir erleben ein tägliches Bombardement durch
Zahlen und Statistiken, das uns in eine Quasihypnose versetzt. Wichtig in
diesem Dauerbeschuss wird das, was die Kognitionspsychologen „Frame“ nennen.
Die Medien müssen den Fakten einen Bedeutungsrahmen verleihen. Das fängt schon
mit der Interpretation von Statistiken
an. Zum Beispiel hören wir ständig Meldungen über den „rasanten“ Anstieg der
Infektionsfälle. Diese Rasanz ist bei exponentiellem Wachstum normal, man muss
sie nicht eigens hervorheben. Wenn man die Normalität zur Kalamität hochdramatisert,
präsentiert man sie in einem irreführenden Frame.
Hüten wir uns auch vor übertriebenen Erwartungen in die
Wissenschaft. Wir alle begrüssen Fortschritte in der Virenbekämpfung. Aber
Viren bilden die grosse Unbekannte im Gesamtökosystem des Planeten. Nur schon eine
virale Krankheit lässt sich meist nicht in einer schönen linearen Geschichte
darstellen: Da ist ein Virus – und da bricht die Krankheit aus. Möglicherweise
sind andere Viren und weitere Faktoren an der Pathogenese beteiligt. Eine
typische wissenschaftliche Aussage hat die Form: Unter diesen und diesen und
diesen ... Bedingungen geschieht das und das. Die Pointe ist, dass man alle die
Bedingungen in der Regel nicht kennt. Heute erst recht nicht. Wir leben ja
nicht in Labors. Und deshalb ist der Spielraum für Skepsis immer da.
Nun gibt es freilich eine ganz andere Art von Skepsis. Zunehmend
beunruhigter stellt der Laie einen ungeduldigen Anspruch an den Wissenschafter:
Gib mir endlich eine eindeutige Antwort! Wann schwächt sich die Ausbreitung ab?
Wann ist ein Impfstoff verfügbar? Und da der Wissenschafter keine eindeutige
Antwort geben kann, sucht der Laie oft andere Antwortgeber: inkompetente,
betrügerische, aufschneiderische, dumme. Hier kippt Dysrationalität in
Irrationalität. Und diese ist gefährlicher als jede Epidemie.
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