Donnerstag, 2. April 2020









NZZ, 28.3.2020

Klopapierpandemie und Krise der Rationalität

Wir kennen Dyslexie, Dyskalkulie, Dysorthographie Dysästhesie: Lese-, Rechen-, Rechtschreibschwäche, Empfindungsstörung. Es gibt daneben auch Dysrationalität: eine „Schwäche“ der Verstandestätigkeit bei ansonsten intelligenter Disposition.  Wir alle erliegen ihr gelegentlich. Zum Beispiel in Zeiten einer Virenpandemie. Wir sehen, wie sich die Regale leeren, und der erste Gedanke ist: Ich muss unbedingt auch noch von dieser Ware haben, handle es sich um Klopapier, Pinzetten oder Fusspilzsalbe – wenn alle sie einkaufen, liegt ja sicher ein Grund dafür vor. Das heisst, zwei Perspektiven sind im Spiel: meine und jene der anderen. Jede Person mag guten Grund haben, sich mit Toilettenpapier einzudecken, aber alle diese individuellen guten Gründe addieren sich nicht zu einem kollektiven guten Grund. Das ist die panische Ansteckung: Wenn der andere Panik hat, muss ich auch Panik haben.

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Wie viele Menschen meiner Generation, bin ich es gewohnt, mit diesem Stoff namens Bargeld zu hantieren. Aber jetzt haftet ein maliziöser Gedankenkeim im Schädel: Der Stoff hat ja seinen Verlauf schon durch viele – womöglich ungewaschene – Hände genommen und trägt eine ganze unsichtbare Armee von Krankheitserregern.  Bargeld ist dreckig, buchstäblich. Also setze ich auf bargeldlosen Verkehr und benutze die Kreditkarte. Aber die muss ich ständig in irgendeinen Schlitz schieben und meinen Code auf der Tastatur eingeben, mit der schon Tausende vor mir Kontakt gehabt haben. Und der Gedanke nimmt Fahrt auf: Alle die Dinge, die ich im Laufe eines Tages berühre, bilden sie nicht eine tückische taktile Kaskade der Kontamination? Wenn man da nicht zwangsneurotisch, sprich: zum  Händealkoholiker wird. Jedenfalls entwickelt man sich in diesen Zeiten zu einem regelrechten Forensiker manueller Gewohnheiten. Man verdächtigt andere und sich selber des „delinquenten“ Handgebrauchs und späht nach entsprechenden Indizien.

Unser Zeitalter nennt sich das digitale: das Zeitalter des Fingers. Und was tut dieser Körperteil die ganze Zeit? Er schaltet ein und aus, er drückt Tasten und Knöpfe. Eine ungeheuer einflussreiche Symbolik umgibt Knopf, Taste und nun Touchpad, und die Asymmetrie zwischen Aufwand und Resultat lädt die Geste des Berührens ambivalent auf. Am Knopf zeigt sich die ganze Dialektik der Technikgeschichte. Die verführerischen Welten, die sich durch den Knopfdruck erschliessen und die unbekannten Gefahren, die sie bergen, bilden eine üppige Wildnis der Phantasie, in der Literatur, Film, Werbung, Propaganda jagen. Und nun erweist sich der Finger, dieses wunderbare Organ der Kreativität,  jäh als Unheilsbringer.

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Für eine Person, die in der letzten Grippeepidemie nicht erkrankt ist, klingt nun plötzlich das ganze Getöse um Corona vielleicht übertrieben bedrohlich. Hier lässt sich eine weitere Dysrationalität feststellen: die Verfügbarkeitsheuristik, wie sie die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky genannt haben. Wir überschätzen oder unterschätzen ein Risiko oft, je nachdem, ob wir einen schweren oder einen leichten Fall in Erinnerung behalten. Ein herausstechendes Ereignis, bleibt leicht im Gedächtnis haften und lässt sich wieder abrufen. Vielzitiert ist das Beispiel der Flugzeugunfälle. Sie sind seltener als Autounfälle, aber man überschätzt das Risiko des Fliegens aufgrund des meist tragischen Unfallausgangs und eines entsprechenden medialen Hypes. Die Erinnerung stellt uns dramatische Fälle zur Verfügung. Umgekehrt liesse sich Ähnliches über die Unterschätzung sagen. An was erinnern wir uns in der Schweiz, wenn wir an Epidemien denken? Nun, an die SARS-Infektion 2003 und an die Schweine-Grippe 2010. In beiden Situationen sind wir glimpflich davongekommen. Wo wir uns nicht zu sorgen brauchen, müssen wir auch nicht vorsorgen. Womöglich verfügt deshalb unser Gedächtnis vor allem über die Kategorie „Verschontwerden“, was im Fall des Coronavirus zunächst zu einer Unterschätzung des Risikos führte.

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Vergessen wir nicht die emotionale Seite, vor allem ihre Inflation. Je mehr die Medien den Emotionen Gelegenheit geben, sich „aufzublasen“, desto mehr verdrängen sie die rationale Seite. Nicht dass wir keine Emotionen haben oder sie gar unterdrücken sollten. Das Problem ist vielmehr der gefährliche Mix aus schlecht geeichten Gefühlen und begrenztem Wissen. Dieser Mix erweist sich selber als höchst ansteckend.

Um hier eine Analogie aus der Physik zu verwenden, das Phänomen der Resonanz. Eine Saite, die zu schwingen beginnt, kann unter Umständen auch eine benachbarte Saite in Schwingung bringen. Die Nachrichten über den Tribut an Toten, den das Virus in China oder auch in Italien fordert, schüren unsere Ängste. Wir beginnen quasi mit kleinen Angstschwingungen und stecken andere an zum Resonieren. Dadurch verstärken wir gegenseitig unsere Ängste über ein Mass hinaus, das durch die Faktenlage nicht notwendig gerechtfertigt ist. Zudem werden wir – heftiger schwingend – auch empfänglicher für „falsche“ Schwingungen – Gerüchte und Fake News -, und so treten wir einen Teufelskreis los. Im Kollektiv steigt die Angst-Amplitude.  In der Physik nennt man dies „Resonanzkatastrophe“. Man kann damit Brücken zum Einsturz bringen. Und man kann analog das rationale Denken kollabieren lassen.

Im Zusammenhang mit der Verfügbarkeitsheuristik steht natürlich ein anderes dysrationales Phänomen: Monothematik, die einseitige thematische Diät. Gerade dieser Tage mästen uns Zeitungen mit einem einzigen Thema, reduzieren den Umfang der Berichterstattung, plausiblerweise, weil nicht viel aus der Welt der Massenveranstaltungen zu hören ist. Dabei öffnete doch gerade die Zeit der Pause, des Werktags-Sabbats, den Raum der Reflexion, des Innehaltens, des Besinnens, also den Raum für „abseitigere“ Themen, die vielleicht schon lange auf der Halde liegen; Themen, die uns in der hektischen Schnelligkeit der News die nötige Langsamkeit beibringen, den Ernst der Lage zu erkennen.

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Apropos Kenntnis der Faktenlage. Sie ist dringend. Aber auch hier erliegen wir leicht einer Dysrationalität. Hyperinformiertheit kann Ignoranz und Ungewissheit verstärken. Wir erleben ein tägliches Bombardement durch Zahlen und Statistiken, das uns in eine Quasihypnose versetzt. Wichtig in diesem Dauerbeschuss wird das, was die Kognitionspsychologen „Frame“ nennen. Die Medien müssen den Fakten einen Bedeutungsrahmen verleihen. Das fängt schon mit der Interpretation von  Statistiken an. Zum Beispiel hören wir ständig Meldungen über den „rasanten“ Anstieg der Infektionsfälle. Diese Rasanz ist bei exponentiellem Wachstum normal, man muss sie nicht eigens hervorheben. Wenn man die Normalität zur Kalamität hochdramatisert, präsentiert man sie in einem irreführenden Frame.

Hüten wir uns auch vor übertriebenen Erwartungen in die Wissenschaft. Wir alle begrüssen Fortschritte in der Virenbekämpfung. Aber Viren bilden die grosse Unbekannte im Gesamtökosystem des Planeten. Nur schon eine virale Krankheit lässt sich meist nicht in einer schönen linearen Geschichte darstellen: Da ist ein Virus – und da bricht die Krankheit aus. Möglicherweise sind andere Viren und weitere Faktoren an der Pathogenese beteiligt. Eine typische wissenschaftliche Aussage hat die Form: Unter diesen und diesen und diesen ... Bedingungen geschieht das und das. Die Pointe ist, dass man alle die Bedingungen in der Regel nicht kennt. Heute erst recht nicht. Wir leben ja nicht in Labors. Und deshalb ist der Spielraum für Skepsis immer da.


Nun gibt es freilich eine ganz andere Art von Skepsis. Zunehmend beunruhigter stellt der Laie einen ungeduldigen Anspruch an den Wissenschafter: Gib mir endlich eine eindeutige Antwort! Wann schwächt sich die Ausbreitung ab? Wann ist ein Impfstoff verfügbar? Und da der Wissenschafter keine eindeutige Antwort geben kann, sucht der Laie oft andere Antwortgeber: inkompetente, betrügerische, aufschneiderische, dumme. Hier kippt Dysrationalität in Irrationalität. Und diese ist gefährlicher als jede Epidemie.

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