Mittwoch, 22. April 2020








NZZ, 18.4.2020

Die Natur straft nicht

Von einem neuerdings erhobenen moralischen Ton im Krankheitsdiskurs



Die Rede von der „Strafe“ oder „Rache“ der Natur ist religiösen Ursprungs. Der Zorn Gottes ergiesst sich in Naturkatastrophen über den Menschen, das weiss schon das Alte Testament. Aber auch heute, in einem anscheinend säkularen Zeitalter, greifen wir gelegentlich zu dieser Wendung. Gerade in Krisensituationen wie einer Pandemie. So äusserte sich der Wissenschaftsjournalist David Quammen neulich in der New York Times (28.1.2020): „Wir dringen in tropische Wälder und andere wilde Landschaften ein, die so viele Pflanzen- und Tierarten beherbergen – und in ihnen so viele unbekannte Viren. Wir fällen Bäume, töten die Tiere oder sperren sie ein und schicken sie auf den Markt. Wir zerstören Ökosysteme und wir schütteln Viren von natürlichen Wirten. Wenn das geschieht, brauchen sie einen neuen Wirt. Oft ist das der Mensch.“

Dem ist als deskriptivem Befund nichts entgegenzuhalten. Hingegen vernimmt man unterschwellig noch eine andere Botschaft: Unberührte Ökosysteme sind „von Natur“ aus „gut“ , sie sind im Gleichgewicht, harmonisch und selbstregulierend. Probleme entstehen genau dann, wenn der „schlechte“ Mensch eindringt.  Dann schlägt die Natur zurück und zahlt es ihm heim für seine Ausbeuterei, seinen Mobilitäts- und Expansionsdrang, seinen Globalisierungswahn.   

Das sind vertraute Töne aus Kreisen der „Deep Ecology“. Aber das Virus scheint nun auch Kritiker einer „Vermutterung“ der Erde umgestimmt zu haben, wie etwa Slavoj Žizek: „Wenn die Natur uns mit Viren attackiert, sendet sie gewissermassen unsere Botschaft an sie zurück. Sie lautet: Was du mir antust, tue ich nun dir an.“

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Kurz: Hier bringt man den normativen, zivilisationskritischen Begriff der Natur oder Natürlichkeit in Stellung. Man fingiert, wie seinerzeit Rousseau, einen „unverdorbenen“ Urzustand, den man als Massstab ökologischer Sittlichkeit allen nachfolgenden „unnatürlichen“ Zuständen anlegt. Typisch etwa die Äusserung des Krankheitsökologen Kevin Olival von EcoHealth Alliance über Wildtiermärkte in China: „Wenn man Tiere in diesen unnatürlichen Situationen zusammenbringt, riskiert man das Auftauchen menschlicher Krankheiten.“
Gewiss, auf chinesischen Märkten – wie auf auf anderen Märkten auch – mögen „unnatürliche“ Missstände herrschen, aber der ganze Natürlichkeitsdiskurs manifestiert sozusagen einen konzeptuellen Missstand. Natürlichkeit ist eine leere und deshalb umso mächtigere Chiffre, die wir nach unserem Belieben und Gutdünken lesen und verwenden können. Mit der Behauptung, etwas sei natürlich oder unnatürlich, gibt man Erklärungs-Forfait. Und indem man über Krankheit als Resultat „unnatürlicher“ Aktivitäten oder Situationen spricht, erleichtert man die Projektion von ideologischen Ursachen. Selbstverständlich kann und soll man zum Beispiel „wet markets“ kritisieren, wenn die Forschung sie als gefährliche Virenherde nachweist; dies aber nicht im Zeichen ihrer „Unnatürlichkeit“. Impfen ist, wenn man so will, unnatürlich, aber nur wenige Menschen lehnen die prophylaktische Massnahme deswegen ab. Impfgegner weigern sich aus anderen Gründen, etwa weil sie glauben, Impfen sei mit weiteren Krankheiten verknüpft.

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Im Kern der Problematik steckt die Vermischung von Kausalität und Moral. Das heisst, leicht verkehrt sich die Frage „Was ist die Ursache?“ in die Frage „Wer ist schuld?“ So klingt denn auch der Titel des oben zitierten Artikels von Quammen „Wir schufen die Coronavirus-Epidemie“.

Eine solche Selbstbeschuldigung hat ihre latente Tücke, vor allem, wen man fragt: Wer sind „wir“? Und genau dann kann die Lage garstig werden. Einigermassen nüchtern und objektiv lässt sich feststellen, dass das Coronavirus seiner ökologischen Nische in Wuhan entfloh. Nun mischt sich aber sehr schnell ein weiterer Gedanke in die Feststellung: Haben denn  die Chinesen nicht diese seltsamen „unnatürlichen“ Esssitten? Sie verzehren Ratten, Fledermäuse, Gürteltiere, oft halb roh, wahre Brutstätten von Viren. Esssitten können leicht einem moralischen Urteil anheimfallen  – „abstossend“, „eklig“, „pervers“ - , und ebenso leicht springt dann der Schluss über auf die Identiät des Essers. Was der Jude im Mittelalter war, ist jetzt der Chinese in der Postmoderne.

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Schuldzuschreibung im Namen der Natur betreiben auch alternative Gesundheitstheoretiker, Naturmediziner, Wellnessgurus. Oft erfolgt dies im Gestus eines Partisanenkampfs der „natürlichen“ Methoden gegen die „unnatürlichen“ Mittel der mächtigen Pharmariesen und Gesundheitstechnologen. Schnell gerät man in den Konspirationssumpf. Der Alternativ­mediziner Joseph Mercola verbreitet auf seiner populären Website das Gerücht, die Gates-Stiftung hätte mit ihrer Pandemie-Simulation „Event 201“ im Oktober 2019 „die Bevölkerung in einem Zustand der Angst vor Mikroben halten wollen, damit Pharmaunternehmen mit einem weiteren teuren (..) Mittel oder Impfstoff zu Hilfe eilen können.“ Mit dieser Rattenfängerlogik hält man die Leute allerdings auch im Zustand der Leichtgläubigkeit in Scharlatanerie.

Explizit ethisch argumentiert die Tierrechtsorganisation PETA („People for Ethical Treatment of Animals“). Für sie ist der Fleischkonsum der ultimative Grund für die Coronakrise. Auch hier mischt die „Unnatürlichkeit“ der Diät mit. Ein Tweet von PETA wagt sich an ein Wortspiel: „ ,coronavirus’ ist ein Anagramm von ‚carnivorous’: fleischfressend – kann das ein Zufall sein? Wir glauben nicht! Wissenschafter vermuten, dass der Kontakt mit lebenden Tieren oder deren totem Fleisch die Ursache des tödlichen Virus’ sein könnte.“ Die Organisation investiert auf ihrer Website beträchtliche Mühe in den Beleg der Behauptung, Fleischverzehr sei unnatürlich, sprich „unmoralisch“.

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Ist der Mensch „von Natur aus“ ein karnivores oder herbivores Tier? Die Frage lässt sich durchaus als Hypothese diskutieren. Man kann auch einen kausalen Zusammenhang zwischen Fleischkonsum und Virenübertragung postulieren. Daraus leiten sich vielleicht gesundheitspolitische Massnahmen ab, aber keine moralischen Gebote. Ohnehin hüte man sich, bei viralen Krankheiten – bei den meisten Krankheiten -  monokausale Geschichten zu erzählen, oder solchen zu glauben. Wir alle neigen zu simplen binären Erklärungsmustern wie dem Gegensatzpaar Natürlich-Unnatürlich. Und dieses Paar ist immer moralisch aufgeladen: gut-schlecht. So drohte jahrhundertelang die Kirche: Gehorche den Gesetzen Gottes in der Natur, und du wirst gedeihen; widersetze dich ihnen, und du wirst leiden.

Solche Töne hört man wieder vermehrt, etwa vom amerikanischen Endzeitpropheten Rick Wiles: „Seuchen sind einer der letzten Schritte des göttlichen Gerichts.“ Und sie träfen sowohl die „gottlosen chinesischen Kommunisten“ wie das „gemeine, widerliche“ Amerika, das in Vergewaltigung, Immoralität und dem Dreck von Film und Fernsehen versinke. In der Schweiz versprühte der Churer Weihbischof Marian Eleganti ähnlichen Ungeist in einem Video. Er vertraut dem Schutz Gottes, und in der Coronakrise erblickt er ein Symptom der Gottverlassenheit. Er könne „in seinem Herzen“ nicht nachvollziehen, dass die räumliche Enge bei der Kommunion einen Superspreader darstellt. Aber mit Verlaub: die Lage gilt es nicht so sehr im Herzen, als im Kopf verstehen zu lernen. Wer das Virus als Zeichen der Gottlosigkeit deutet und das Gebet als Schutz vor Viren empfiehlt, verhöhnt nicht nur die Wissenschaft, sondern zieht ein vormodernes Denkregister. Ein solches Denken ist umso alarmierender, als es sich mit der Aura klerikaler „Autorität“ schmückt.

Was einst göttlich war, ist jetzt menschlich, allzumenschlich. Besonders das Moralisieren. Und das neue Coronavirus ist wie geschaffen dafür. Aber hüten wir uns vor einem Rückfall ins Zeitalter der Naturstrafe. Lassen wir den biomedizinischen Sachverstand nicht durch Moralviren infizieren. Krankheit ist auch ein Spiegel: Schaut man lange genug hinein, starren einem immer  deutlicher die selbstgezüchteten ideologischen Gespenster im Kopf entgegen.











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