NZZ, 3.3.2020
Der Mensch
ist der Mikrobe egal
Man spricht vom neuen erdgeschichtlichen Zeitalter des
Anthropozäns. Der Mensch gestaltet die Erdoberfläche mit einer Wucht um, die
man früher allein geologischen Kräften zugemutet hatte. Eigentlich ist das aber
eine anthropozentrisch verzerrte Sicht. Seit über drei Milliarden Jahren gibt
es das Bakterio- oder Virozän. Die heimlichen Hauptakteurinnen auf dem Planeten
sind Mikroben. Sie umgeben uns, sie bewohnen uns. Der Mensch ist quasi eine
Galaxie von Bakterien (tatsächlich wohnen in mir mehr Bakterien als es Sterne
in unserer Milchstrasse gibt). Wenn ich jemandem die Hand schüttle, setzt
sogleich in beiden Richtungen ein Mikrobenfluss ein, und ich weiss nicht, ob die
Viecher meine Freunde oder Feinde sind. Ich bin ihnen jedenfalls egal.
Warum ist eine bestimmte Mikrobenart schädlich für den
Menschen, eine andere dagegen nicht? Handelt es sich um eine „intrinsische“ Eigenschaft?
Die Frage beschäftigt die Biologen seit den Anfängen der Keimtheorie im 19. Jahrhundert.
Sie legte das Fundament für das Paradigma der modernen Krankheitslehre: Es gibt
eine grundlegende Differenz zwischen pathogenen und nicht-pathogenen Mikroben. Gemäss
dieser Sicht ist also Virulenz – Krankheit
erregende Faktoren - ein Merkmal, das der Mikrobe selbst zukommt. Immer aber
gab es Gegenbeispiele und im 20. Jahrhundert entdeckten die Forscher zunehmend „Dual-Use“-Mikroben,
die dem Menschen sowohl nützen wie schaden können. Offenbar kennt die Natur keinen
eindeutigen Unterschied. Angeblich pathogene Mikroben bevölkern unsere Umwelt,
ohne uns zu schaden, und scheinbar harmlose Mikroben zeigen plötzlich ihre
„böse“ Seite.
***
Wir beziehen diese Bösartigkeit fast automatisch auf uns
Menschen, den Wirt. Aber das ist – wie gesagt - nichts als verdeckter
Anthropozentrismus. Ob uns die Mikroben „wohl oder übel gesinnt“ sind, hängt meist
vom Zufall ab. So lautet zumindest eine Hypothese, die immer mehr in den Fokus
der Forschung rückt. Der Mikrobiologe Bruce Levin hat für sie die derb-eingängige
Bezeichnung „Shit-Happens-Hypothese“ geprägt: Die Virulenz von Mikroben ist
nicht spezifisch gegen uns Menschen gerichtet, sie „geschieht“ einfach unter
besonderen physikalischen, chemischen und biologischen Bedingungen. Wie Levin
bemerkt: „Die Parasitologen lehrten uns Studenten, dass Krankheit ein
primitives, unterentwickeltes Stadium im Zusammenleben von Organismen
darstelle, und die Evolution schliesslich alles zum Netten richten würde, zu
Symbiose und Mutualismus als Endpunkt“. Die Natur kennt aber keine Happyends –
oder vielmehr: sie kennt unzählige Happyends, je nach Artengesichtspunkt. Und
der Mensch ist nur eine Art. Wenn ihn die Mikroben etwas angehen – was geht die
Mikroben der Mensch an?
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Das klingt resignativ: Hat Virulenz denn keine andere
Erklärung, ausser dass sie einfach geschieht? Nichts wäre falscher. Natürlich ist
Virulenz ein multikausaler mikrobiologischer Prozess und die Forschung nach
antiviralen und –bakteriellen Medikamenten könnte nicht dringender sein. Und natürlich
lässt sich unter Umständen Virulenz als eine spezielle Eigenschaft erklären,
die eine Mikrobenart im Lauf ihrer evolutionären Verstrickung mit ihrem Wirt
erworben hat. Dass Mikroben uns befallen können, weil wir gerade zufällig ihren
Weg kreuzen, eröffnet aber eine andere Sicht auf sie. Zunächst einmal schreckt sie
uns in unserer anthropozentrischen Voreingenommenheit auf. Sie initiiert eine
„kopernikanische“ Wende im biologischen Denken. Wir Menschen entdecken jetzt
nicht eine neue Welt der Mikroben, wie sie sich erstmals dem holländischen Gerätebauer
Antoni van Leeuwenhoek im 17. Jahrhundert unter seinem Mikroskop offenbarte; wir
entdecken uns als Teil dieser Welt. Der wichtigste Teil in der Mikrobenwelt
sind aber andere Mikroben. Der Mensch, der zufällig in ihr Kreuzfeuer gerät,
hat einfach Kollateralpech.
Der Biologe Arturo Casadevall und sein Team studieren diese
– wie er sie etwas akademischer nennt – „akzidentelle Virulenz“. Er braucht
eine hilfreiche Analogie: Die Evolution stattet jede Mikrobenart mit einem Satz
von Spielkarten aus – adaptive Attribute -, die ihr ermöglichen, zu überleben.
Eine Karte schützt zum Beispiel das Bakterium davor, gefressen zu werden; eine
andere ermöglicht ihm, sich bei 37 Grad Celsius zu vermehren; aber dann hat es
keine Karte, die ihm dies in alkalischer Umgebung gestattet. Es muss also
durchaus eine Koinzidenz der „richtigen“ Kombination stattfinden, damit das
Bakterium gedeiht. Diese Koinzidenz ist umso wahrscheinlicher, je mehr Mikrobenarten
mitspielen. Betrachtet man die ungeheure Mannigfaltigkeit der Mikrobenarten,
welche die Evolution im Lauf von Jahrmilliarden produziert hat, erscheint es
durchaus wahrscheinlich, eine Kartenkombination zu finden, die eine Mikrobenart
aus purem Zufall pathogen für den Menschen werden lässt. Das kann sogar auf Mikroben
zutreffen, die bisher mit dem Wirt in Eintracht gelebt haben. Es gibt, so
gesehen, pathogene Mikroben, die wir noch gar nicht kennen. Und möglicherweise schafft
gerade der Klimawandel gedeihlichere Bedingungen für sie.
***
In diesem Sinn vermutet ein Epidemiologe der University of
California: „Ich glaube, wir werden mehr Coronaviren auftauchen sehen, weil
dies die Folge dessen ist, was wir der Umwelt antun. Es ist unsere Strafe.“ Nun
kennt die Natur keine „Strafe“. Aber die Aussage lässt sich in „moralfreie“
Rede übersetzen: Wenn der Mensch im Anthropozän immer tiefer in die natürlichen
Ökosysteme eindringt, riskiert er dadurch, auch in den Wirkungsbereich von
Mikroben zu gelangen, von denen er bisher verschont blieb. Viele Biologen sind
der Meinung, dass sich mit dieser fortgesetzten Ausbreitung des Menschen auch
die Wahrscheinlichkeit erhöht, von anderen Arten infiziert zu werden. Wir
kennen längst solche Krankheiten: Schweinegrippe, Tollwut, Ebola, AIDS, Sars,
um nur einige zu nennen. Die Familie der Coronaviren ist seit über fünzig
Jahren „aktenkundig“. Ihre Angehörigen warteten nur auf eine günstige Gelegenheit
wie Wuhan.
Hier erhält das Szenario definitiv einen beängstigenden
Anstrich. Da gibt es „draussen in der Natur“ unsichtbare Winzlinge, von denen
man nicht weiss, wann sie uns unterstützen und wann sie uns abmurksen. Der
Science-Fiction-Autor Herbert G. Wells antizipierte dies bereits in seinem
Klassiker „Der Krieg der Welten“ mit genialem Scharfsinn. Eine Invasion vom
Mars wurde nicht von Menschen, sondern von Mikroben abgewehrt, und zwar dadurch,
dass sich bestimmte irdische Mikroben für die Marsianer „zufällig“ als tödlich
erwiesen. Die Erdbakterien konnten nichts „wissen“ von den Marsinvasoren, es
gab keine vorgängige Koevolution, durch die sie ihre Virulenz gegen die Aliens
hätten ausbilden können. Sie sprangen einfach „akzidentiell“ auf die Invasoren über
und vernichteten sie. Könnte nicht ein ähnliches Schicksal auf menschliche Invasoren
lauern, die in fremde planetarische Gefilde eindringen und dadurch alte
Symbiosen mit den Mikroben zerstören?
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Gewiss, wir verbuchen im Kampf gegen Infektionskrankheiten
und deren Verbreitung bemerkenswerte Fortschritte. Deuten wir diese nur nicht
falsch als fortschreitende Beherrschung der Mikrobenwelt. Wir tun gut daran, Krankheit
als ökologisches Problem zu begreifen. Und man kann es als Dialektik des Anthropozäns
betrachten, dass je tiefer der Mensch sich der Erdoberfläche einzeichnet, die Natur
sich umso drastischer von ihrer unvorhersehbaren und beschränkt kontrollierbaren
Seite her zeigt: makroskopisch, in den Klimaschwankungen, und mikroskopisch, in
den Launen der kleinsten Lebewesen. Das ist kein Grund zu Defaitismus oder
Fatalismus, sondern zur nüchternen Neueinschätzung unseres Platzes in der
Natur. Wie es der Paläontologe Andrew Knoll ausdrückte: „Tiere mögen der
Zuckerguss der Evolution sein, aber der eigentliche Kuchen sind die Bakterien.“
– Und wenn wir von der Evolution reden: machen wir die Rechnung ja nicht ohne
den Zufall. Lernen wir ihn als die eigentliche Naturmacht kennen.
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