NZZ, 2.5.2020
Das Coronoptikum
Die Tücken der panoptischen
Technologie
In exemplarischer Schärfe führt uns die Coronakrise die
fundamentale Herausforderung einer liberalen Demokratie vor: das Virus-Trilemma. Wir können zwischen drei
Optionen A, B und C entscheiden; wobei die Wahl von je zwei Optionen sich nicht
mit der dritten verträgt. Im gegenwärtigen Krisenfall lautet die Option A:
Ansteckungs- und Todesrate minimieren; Option B: Das Wirtschaftsleben so wenig wie möglich
einschränken; Option C: „Illiberale“ Massnahmen treffen, indem man bürgerliche
Freiheiten beschneidet. Westliche Demokratien tendieren zu Optionen A und B,
schrecken vor Option C zurück. Denn ein Übermass an staatlicher Intervention
widerspricht der liberalen Grundidee.
Wir beobachten gegenwärtig, wie ostasiatische Länder das
Trilemma anders zu lösen versuchen, mit dem Hauptgewicht auf Option C:
Gesundheits-Überwachung auf Kosten bürgerlicher Freiheiten. Und Befürchtungen
werden laut, dass wir uns der ostasiatischen Situtation annähern; dass wir uns auch
unter demokratischen Regimes schliesslich mit dieser demokratie-inkonsistenten
Option abgegeben müssen. Einige wittern im Lockdown und Social Distancing
bereits Kontrollgelüste staatlicher Institutionen im Namen des Notstandes.
***
Option C reanimiert eine Idee des 19. Jahrhunderts: das
Panoptikum. Der Philosoph Jeremy Bentham verlieh ihr in einer Architektur des
zentralen Kontrollblicks Gestalt, der jede Ecke und Nische ausleuchtet, in
Gefängnis, Spital, Fabrik, Schule. Das Panoptikum von heute braucht keine
Architektur. Es nennt sich Internet der Dinge. In ihm überwachen wir uns
selbst. Wir tragen Technologie –
„Wearables“ - , die das Monitoring perfektioniert. All die smarten
Geräte tun vor allem eines: sie senden unausgesesetzt Daten in die unsichtbare
Cloud, die uns als eine elektronische Atmosphäre umhüllt.
Ein normales Handy weist heute zahlreiche Sensoren auf,
welche das permanente Tracking und Tracing der Nutzerwege erlauben. Wir rüsten
uns mit einem künstlichen Sensorium aus, das sich zweifellos als hilfreich
herausstellen kann, gerade in einer Situation der Epidemie. Zu ihrem
Hauptcharakteristikum gehört ja die Ungewissheit: Welche Personen sind
angesteckt, welche weiteren haben sie angesteckt, in welchem Mass und in
welchen Gruppen ist die Ansteckung fortgeschritten? Fragen, die einen panoptischen
Blick durchwegs rechtfertigen. Die Entwicklung des künstlichen Sensoriums baut
auf die Rechenstärke der Computer; und die ist enorm.
Das weckt latente Begehrlichkeiten. In dem Masse, in dem die
Kontroll- und Test-Technologie besser und billiger wird, bietet sie sich Wissenschaftern
und Politikern als probates Mittel an, das datifizierte Verhalten des Bürgers
für eine präzise epidemiologische Kartierung zu nutzen. Das Englische kennt
bereits den Ausdruck „Coronopticon“. In Singapur, Taiwan oder Südkorea lassen
sich die Spuren „viraler“ Mitbürger verfolgen. Man kann auf dem Handy Warnungen
empfangen, wenn ein „Verdachstfall“ in der Umgebung auftaucht. Wie gesagt: Die
fernöstlichen Massnahmen sind nicht so fern, dass sie uns im Westen nichts
angingen. Über biometrische Erfassung im Namen nationaler Sicherheit wird auch
in Europa - zumal in der Schweiz - diskutiert. Allenthalben entwickeln
Softwaredesigner Apps, welche den Handynutzer aufrufen, Daten über sein
Verhalten zu liefern. Vorerst noch freiwillig. Und was, wenn die Situation gebietet,
diese Freiwilligkeit aufzugeben? Wer gebietet eigentlich darüber, was die
Situation „gebietet“? Die Exekutive, die Experten, das Zentralkomitee?
***
Solche Fragen suggerieren immer Dramatis personae, die im
Hintergrund die Fäden ziehen. Aber dieses Bild ist zu einseitig, zu
anthropozentrisch. Es blendet ein Problem aus, das in der Technologie selbst
steckt, und heute schon imminent ist. Der amerikanische Technikphilosoph Langdon
Winner hat es 1980 – noch vor dem Internet - in eine allgemeinere Frage
gekleidet: Do Artifacts Have Politics? Gibt es Technologien, die durch ihre Natur
und durch die Bedingungen ihres Funktionierens die sozialen und politischen Formen
um sie „diktieren“? Platon brauchte das Bild des Schiffs als eines Artefakts,
das eine hierarchische soziale Form vorgibt. Eine „liberale“ Ordnung auf dem
Schiff führt es nicht durch stürmische See. Auf analoge Weise führt auch eine
Demokratie nicht durch die unruhigen Gewässer einer Epidemie. Es braucht einen
Kapitän, einen Offiziersstab und klare Unterstellungsverhältnisse.
Sind also hypertechnisierte Gesellschaften „Schiffe“, die
demokratische Verhältnisse schlecht vertragen, und zwar nicht bloss im
Ausnahmefall eines Sturms, sondern auch im Normalfall ruhigeren Gewässers? Bewegen
wir uns unabwendbar auf Option C zu, vor allem, wenn man mit weiteren Pandemien – ohnehin mit katastrophischen
Ereignissen - zu rechnen hat?
Schaut man genauer hin, sieht man, dass die Technologie des
Panoptikums sich bereits als Normalfall eingebürgert hat. Man spricht viel von „Digital
Health“, Selbst-Monitoring um seiner Gesundheit willen. Dabei sollte man
hellhörig sein, denn Gesundheit wird unter der Hand häufig betriebsökonomisch
definiert, also im Sinne einer Lebensführung als „Best Practice“. Hinzu kommt
etwas anderes. Die neuen Technologien, die man ja meist in offizieller Diktion
„zum Besten“ des Nutzers einsetzt, entwickeln inoffiziell eine nichtintendierte
Eigendynamik. Bekanntlich verhalte ich mich anders, wenn ich beobachtet werde,
ja, sogar schon, wenn ich mich beobachtet fühle. Tracking und Tracing machen im
Endeffekt aus dem Nutzer einen humanen Fortsatz des technischen Beobachtungssystems.
Selbstverständlich kann ich mir das so zurechtlegen, dass
ich genauer Buch über meine persönlichen „Rekorde“ führen möchte. Auf den
zweiten Blick entpuppt sich dieses „Bio-Enhancement“ als nicht so harmlos. Man
sieht sich immer weniger mit eigenen Augen, immer mehr mit den „Augen“ des
Geräts. Es emanzipiert sich vom Benutzer, je smarter es wird, und es nimmt
unser Ureigenstes, unseren Körper, in normativen Beschlag. Die Biodaten, die es
mir liefert, informieren mich nicht nur über meinen Ist-Zustand, sondern über
meinen Soll-Zustand. Wenn ich täglich Blutdruck, Puls, Cholesterinspiegel überprüfe,
geschieht dies im Hinblick auf eine Vorgabe. Die Vorgabe kann von mir selber
stammen. Zunehmend wahrscheinlicher ist aber, dass ich mich unmerklich den
Vorgaben angleiche, welche von den „Wearables“ diktiert werden. Genau das bezweckt
„autonome Technologie“. Die Designer bauen nicht Geräte, sondern Gewohnheiten.
Gewohnheiten üben auch einen normativen Druck aus. Ein Teil der Computertechnologie
entwickelt sich zur „Captology“, sie sucht den Nutzer via Artefakte zu einem
bestimmten Verhalten zu beeinflussen (CAPT: „Computers As Persuasive
Technologies“).
***
Ohne hier nun über technologischen Paternalismus zu menetekeln,
scheint mir der kritische Blick auf das Potenzial einer panoptischen
Technologie notwendig zu sein. Sie kann sich vom Ausnahmezustand der Pandemie
loslösen und über sie hinaus die Politik des Normalzustands nachhaltig prägen. Im
Hinterhalt lauert die Verführung, „Infektion“ einfach umzudefinieren. Wenn man
restriktive bis repressive Sanktionen um der Gesundheit eines Volkskörpers
willen legitimiert, warum sollte man dies nicht auch um der „Gesundheit“ eines
politischen Systems willen tun können? In Orwellschem Neusprech liesse sich dann
sagen: Sicherheit ist gleich Gesundheit. Wer die Sicherheit eines Systems in
Frage stellt, stellt dessen Gesundheit in Frage, sprich: ist ein politisches
Virus. Kritik des Regimes erscheint dann als „pathogen“ und „virulent“, und
provoziert adäquate „Prophylaxe“ und „Therapie“. Sind viele Bürger unzufrieden
mit dem Regime, handelt es sich um eine „Epidemie“. Dann schickt man eine Armee
von Tracking-Detektiven zur Identifizierung von „infizierten“ kritischen
Bürgern los. Das ist die Logik der Ausweitung der Ausnahmezone. Der politische
Autoritarismus hat sie bereits für sich entdeckt. Treffen wir hier eine bessere
Vorsorge als bei der Coronapandemie.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen