NZZ, 13.2.2020
Die verschlüsselte Gesellschaft und ihre
Freunde
Der Mathematiker Charles Seife arbeitete von 1992 bis 1993
als Student bei der National Security Agency (NSA). Im August 2013 publizierte
er online einen „Offenen Brief an seine ehemaligen NSA-Kollegen“. Er brachte
darin das spezifische „Krypto“- Klima im Innern der Agency zur Sprache, seine
verführerische Wirkung auf einen jungen Wissenschafter: „Die Mathematiker und
Kryptoanalytiker, die ich bei der NSA traf, (..) schienen sich aus zwei Gründen
zur Agency hingezogen zu fühlen. Erstens war Mathematik sexy (..) Bestimmte
Probleme verströmen nun mal ein gewisses Etwas – das Gefühl, an etwas besonders
Wichtigem mitzuarbeiten; und die Lösung in Griffweite zu wissen.(..) Zweitens
motivierte uns – so dachten wir jedenfalls – die idealistische Vision, für
unser Land etwas tun zu können. (..) Und wenn man erst einmal im Innern der
Agency war, entdeckte man eine Vielzahl von Wegen, der nationalen Sicherheit zu
dienen. Sogar als Neuling fühlte ich die Chance, in kleinem Masse etwas zu bewegen.“
***
Seifes Brief
lässt gerade deshalb aufhorchen, weil er von jemandem stammt, dessen Arbeit die
Basis nachrichtendienstlicher Aktivitäten darstellt. Die amerikanische
Mathematikerin Cathy O’Neil berichtet in ihrem Blog „mathbabe“, dass
Mitarbeiter der NSA in Schulen Ausschau nach vielversprechenden Talenten halten
würden, um diese dann für spezielle Sommerkurse der „spooks“ – der
Spione/Gespenster – zu rekrutieren. Höchst aufschlussreich ist dabei das Verfahren,
mit dem man diese Mathe-Rekruten ködert: „Zuerst wird ein aktuelles Problem
ausgewählt, dann wird zweitens daraus die Mathematik extrahiert, und drittens
wird es schliesslich so gereinigt, dass niemand mehr wissen kann, was das
ursprüngliche Problem eigentlich war.“ -
Nun, genau so stellt man sich normalerweise die Arbeit des Mathematikers vor:
„gereinigt“ von allen weltlichen und banalen – zwischenmenschlichen,
politischen, ethischen -
Kontaminationen. Böser: reines Fachidiotentum im Reich des Abstrakten.
Längst aber ist die Mathematik in geheimdienstliche
Machenschaften verstrickt. In der Codierung von Informationen spielt sie buchstäblich
eine Schlüsselrolle, von der heute das Wohlergehen der Welt wahrscheinlich
stärker abhängt als einem lieb ist. Dass Mathematik zu einer Waffe werden kann,
offenbarte sich schon im 2. Weltkrieg, zu dessen Verkürzung Code knackende
Genies wie Alan Turing entscheidend beitrugen. Das war die Geburtsstunde der
modernen Kryptoanalyse. Und die Ironie ist nicht zu übersehen: Wenn
Verschlüsselungsprobleme ein typisches Charakteristikum des Kriegs waren, leben
wir dann heute – gemessen an der Bedeutung der Verschlüsselung - nicht auch in
kriegsmässigen Zuständen? Auf jeden Fall in einer Zeit, da ein Code womöglich
die gleichen – wenn nicht sogar grössere - Verheerungen anrichten kann wie eine
Atombombe.
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Seien wir uns dessen bewusst: Das Nervensystem unseres
telekommunikativen Lebens ist zutiefst mathematischer Natur. Denken wir an
Vernetzung, Information und deren Verschlüsselung, Automatisierung unserer
Tätigkeiten, um die wichtigsten Elemente zu nennen. Ein Grossteil des Verkehrs
im Internet beruht auf einem Verschlüsselungs-Verfahren, das drei Mathematiker
1977 entwickelten: dem RSA-Algorithmus, benannt nach seinen Erfindern Ronald
Rivest, Adi Shamir und Leo Adleman. Eine ausgesuchte mathematische Tüftelei,
die eine zeitaufwendige Aufgabe, selbst für Computer, darstellt. Deshalb gilt
die RSA-Verschlüsselung als sehr sicher.
Was nicht bedeutet, dass sie nicht knackbar wäre. Ein Code
ist „sexy“ in dem Masse, in dem er sich in die Aura der Unknackbarkeit hüllt.
Zumal den Geheimdienst kann so etwas nicht gleichgültig lassen, deshalb setzt
er „seine“ Mathematiker auf das Problem an. Ein Schnüffler-Hirn kann
verschiedene Wege zum Geheimnis aushecken. Zum Beispiel die Infiltration. 1982
gründeten Rivest, Shamir und Adleman – ganz im Geiste des neoliberalen
Forscher-Unternehmertums – die Sicherheitsfirma RSA Security. Dank Snowden
wissen wir, dass die NSA und RSA Security vereinbarten, deren
Zufallszahlen-Generator für den Geheimdienst entzifferbar zu machen. Auf
ähnliche Weise nimmt die NSA Firmen und Behörden in die Pflicht, sogenannte
„Hintertüren“ in ihre Produkte einzubauen, durch welche die Abhörer in die geheimen
Gewirke gelangen können. Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde die
„Kooperationswilligkeit“ des Kommunikationsriesen AT&T bekannt. Es ist, wie
wenn ein fremdes Nervennetz stetig seine Dendriten in mein Gehirn einspeiste
und allmählich zu meinem eigenen würde. Solche Machenschaften als „Orwellsch“
zu bezeichnen, wäre schiere Untertreibung.
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Ein anderer Weg ist natürlich „mehr Forschung“. Von grosser
Bedeutung erweisen sich leistungsstarke Algorithmen, welche die Zeit des
Codeknackens erheblich verkürzen. Speziell grosse Hoffnung wird in
Quanten-Algorithmen gesetzt, Verfahren, die auf der Manipulation von
spezifischen, sogenannt verschränkten Zuständen von Atomverbänden beruhen.
Damit überschreitet man die Schwelle zu einer völlig neuartigen, nicht-digitalen
Datenverarbeitung. Dass die NSA grösstes Interesse daran hat, ist evident. So forscht
sie einerseits in ihren eigenen Top-Secret-Abteilungen; andererseits sucht sie
quasi nach Affiliationen, nach „Pentagon-Töchtern“, an Universitäten. Google
unterhält ein Forschungslabor über Quantencomputing, an dem sich auch die NASA
beteiligt. Der militärisch-industrielle Kryptokomplex formiert sich unaufhaltsam.
Wenn sich aber Kryptoanalyse stetig verbessert, kann dann
eine immer verschlüsseltere Gesellschaft überhaupt noch offen sein? Wir
verschränken uns zunehmend mit automatischen Systemen. Und ihre wachsenden
Leistungsfähigkeit verstrickt uns in ein beunruhigendes Dilemma: Einerseits
sollen effizientere Verschlüsselungstechniken die Sicherheit und Privatheit unserer
Kommunikationskanäle garantieren – andererseits ist der Staat dadurch umso mehr
auf entsprechend effiziente Entschlüsselungstechniken angewiesen, die notfalls
das Eindringen in diese Kanäle gestatten. Höchst aufschlussreich erscheint mir
die Anekdote, die der Quantenphysiker Seth Lloyd erzählte. Er wollte Larry Page
und Sergey Brin von Google das Projekt einer Quanten-Suchmaschine – „Quoogle“ -
schmackhaft machen. Sie sei absolut unknackbar. Page und Brin lehnten ab: „Wir
können nicht in eine Technologie investieren, die uns daran hindert, alles über
jeden zu wissen. Das ist gegen unser Geschäftsmodell.“
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Ist das nun Zynismus oder grenzenlose Naivität? Jedenfalls
zeigt sich die Ideologie des Internetgiganten nirgends „unverschlüsselter“ als
in diesem Zitat. Hinter dem Geschäftsgeheimnis machen die grossen
Internetfirmen ihre Geschäfte mit dem Geheimnis. Wahrscheinlich bezog sich der
Algebraiker Tom Leinster von der Universität Edinburgh darauf, als er in der
Aprilausgabe 2014 des „New Scientist“ unter dem Titel „Ethical Calculus“ seine
Kollegen aufrief, wachsamer zu werden und nicht mehr als Kopflanger dubioser
Projekte zu arbeiten. Pointiert könnte man sagen: Es gibt kein „reines“
mathematisches Wissen, das nicht irgendwann von irgendjemandem zu irgendwelchen
„unreinen“ Zwecken benutzt werden könnte. Das Rhizom der Schnüffler breitet
sich aus, weltweit.
Worauf wir uns in einer verschlüsselten Gesellschaft
zubewegen, ist offen. Zumindest dürfte eines klar sein: Wir müssen die Feinde
der offenen Gesellschaft nicht bloss bei den Terroristen, Geheimdiensten, den
dubios agierenden Internetriesen oder Finanzinstituten orten, sondern auch in
uns: das heisst in unserer Trägheit und Sorglosigkeit gegenüber einer ausser
Rand und Band geratenen digitalisierten Lebensform, in deren Adern exklusive –
will sagen: geheime - Informationen fliessen. Früher hiess es: Alle Räder
stehen still, wenn dein starker Arm es will. Es geht heute nicht um Räder, auch
nicht um starke Arme, wohl aber um eine „starke“ menschliche Intelligenz, die
erkennt, worauf sie sich einlässt, wenn sie der künstlichen Intelligenz nicht
Einhalt gebietet.
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