NZZ, 7.2.2020
Wir treten
ins Zeitalter des „hässlichen“ Wissens
Für anwaltschaftliche
Objektivität
Im Oktober 2016 erschien im „Scientific American“ ein
Artikel des Wissenschaftspublizisten Shawn Otto mit dem Titel „A Plan to Defend
against the War on Science“. Er mutete an wie ein Fanal. Als hätte Otto
vorausgeahnt, dass im November gleichen Jahres ein Präsident der USA gewählt
würde, der mit Wissenschaft nichts am Hut hat. Der Physiker Michael Lubell,
Sprecher der American Physical Society, twitterte in der Wahlnacht, dass mit
dem neuen Präsidenten die Wissenschaft im Keller sein würde – wörtlich:
„science will be in the toilet.“ Er verlor seinen Posten.
Nun begann dieser „Krieg“ nicht erst mit der amerikanischen
Präsidentenwahl. Ein Lackmustest für die antiwissenschaftliche Haltung war
schon vorher die Frage: Wie hast du’s mit dem Klimawandel? Erinnert sei etwa an
Lamar Smith, den republikanischen Kongressabgeordneten. Er sass von 2013 bis
2018 dem Wissenschaftsausschuss des amerikanischen Repräsentantenhauses vor („House
Committee on Science, Space and Technology“). Smith, Erdöl-Lobbyist, erklärter
Skeptiker des Klimawandels, überführter Faktenfrisierer, benutzte seine
Position, um im McCarthy-Stil „verdächtige“ Wissenschafter, Beamte oder Juristen
vorzuladen, welche den anthropogenen Klimawandel als Tatsache betrachten und
die grossen Energieunternehmen beschuldigen, Zweifel über diese Tatsache zu sähen.
Smith, Anhänger der Christlichen Wissenschaft, schien Gefallen an seiner Rolle
als Subversivenjäger zu finden. Er stand nicht allein auf dem Schlachtfeld. Leugnung
des Klimawandels war und ist das Panier vieler republikanischer Klimakrieger.
***
Das politische Klima ist heute zweifellos polarisiert. Aber vom
„Krieg gegen die Wissenschaft“ zu sprechen, führt gefährlich in die Irre. Faktenleugner
gab und gibt es immer, aus Ignoranz, Arroganz, Dummheit, Verlogenheit. Die
politische Oberfläche verdeckt ein tieferes Problem, eine erkenntnistheoretische
Krise. Sie hob in den 1990er Jahren an, als die postmoderne Kritik wissenschaftlicher
Fakten diese als „gemacht“ dekonstruierte. Das war für praktizierende Wissenschafter
eigentlich kalter Kaffee, denn entscheidend ist, gut von schlecht „gemachten“
Fakten zu unterscheiden. Aber die Kritik stiess ins Herz einer herrschenden Wissenschaftsphilosophie,
die den Objektivitätsanspruch auf unumstössliche „gegebene“ Fakten gegründet
sah. „Wenn es keine objektive Evidenz gibt, die letztgültige Glaubwürdigkeit
hat, wie soll man den Streit zwischen Wahrheitsansprüchen regeln?“ fragte Shawn
Otto theatralisch. Fehlt eine objektive Schiedsinstanz, gewinnt der Appell an
die Autorität an Gewicht. Das Szenario der Wahrheit weicht dem Szenario der
Meinungsoligarchie.
***
Man kann 1979 als das Stichjahr der postmodernen Kritik an
der Legitimität der Wissenschaft betrachten, als Jean-François Lyotards Bericht
„La Condition postmoderne“ erschien. Aber ist die „condition“ wirklich so
schlecht, wenn Wissenschaft nicht mehr im Namen der Objektivität sprechen kann?
Auf diese Frage gibt es eine kurze Antwort: Nein. Und es gibt eine etwas längere
Antwort: Kommt darauf an, wie man Objektivität versteht. Ich versuche, die
zweite Antwort ein bisschen zu tranchieren.
Zunächst einmal stellen wir heute fest, dass die Forschung
es mit zunehmend komplexeren Systemen zu tun bekommt, in den Natur- und
Sozialwissenschaften. Das Klima ist nur eines davon, ein zugegebenermassen
vitales. Und ziemlich sicher steht mit ihm die lebbare Zukunft unseres Planeten
auf dem Spiel. So gesehen kann auch der neutrale und objektive Wissenschafter
nicht indifferent bleiben. Sicher, es
existiert weder eine linke noch rechte Atmosphärenphysik. Aber die Atmosphäre
ist eben auch kein „rein“ physikalisches Phänomen mehr. Und so werden sich die
Naturwissenschaften künftig vermehrt mit „Natur“-Ereignissen beschäftigen
müssen, die sie nicht einfach aus objektiver Distanz und unter idealen
Experimentalbedingungen studieren können. Es verhält sich sogar so, dass
wissenschaftliche Aussagen ein Gerichtsurteil riskieren, wie im Fall des
Erdbebens von Aquila.
***
Die Wissenschafter studieren häufiger „verunreinigte“
Phänomene. Natur, Gesellschaft und Technik bilden „Hybride“, um den Terminus
des Wissenschaftssoziologen Bruno Latour zu verwenden. Nahezu alle virulenten
Fragen betreffen solche Hybride - etwa die Frage nach Treibstoffen aus
Biomasse, nach dem Einfluss von Pestiziden auf Insekten, nach Umwelthormonen
oder Schiefergasfracking. Sie erweisen sich als vertrackte „tückische“ Problemknoten,
die sich nicht einfach mehr in einzelne disziplinäre Fragen aufdröseln lassen.
Der Stil der Forschung wandelt sich angesichts solcher
Hybridisierung, und mit ihm auch das Objektivitätskonzept. Die Philosophen
Jerome Ravetz und Silvio Funtowizc prägten den Begriff „postnormale
Wissenschaft“. Postnormalität bedeutet, grob formuliert: die Probleme sind wertgeladen,
die Werte widerstreitend, Lösungen sind dringend, aber meist suboptimal, die
Fakten ungewiss, uneindeutig oder umstritten, und viel steht auf dem Spiel. Der
„normale“ Ansatz der Forschung, komplexe Probleme in fachinterne, disziplinäre
„Rätsel“ zu übersetzen und sie dergestalt behandelbar und lösbar zu machen,
greift heute auf vielen neuralgischen
Gebieten zu kurz. Oft läuft er Gefahr, in den Reduktionismus „purifizierter“
Fakten abzugleiten.
Postnormalität bedeutet nicht Abschied von der Objektivität.
Die Wissenschafter führen ihre Forschungen mit den besten verfügbaren Mitteln
weiter. Sie entwerfen Modelle, entwickeln Lösungen, simulieren Szenarien und
zeigen deren Vorteile und Risiken auf. Sie tun dies aber nunmehr im Ethos
anwaltschaftlicher Objektivität, das heisst, sowohl um der Wahrheit wie um der
Erde willen. Sie spannen wünschbare realistische – „futurable“ - Erwartungshorizonte
auf. Sie ergreifen Partei für ein Ziel, das alle betrifft: die Erde als
Wohnstätte für die kommenden Generationen – die menschlichen und
nichtmenschlichen - zu erhalten. Die Festellung des CO2-Gehalts in der
Atmosphäre ist also quasi ein postnormales Faktum, das etwas über die reale
Lage aussagt und zugleich zum Handeln anhält.
***
Die Psycholinguistik spricht von „Hypokognition“: uns fehlt
eine Begrifflichkeit für die neue Situation. Dabei wäre der Diskurs über sie
dringend nötig. Denn ironischerweise messen viele Skeptiker des Klimawandels
den wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch nach wie vor an einem unmöglichen
Objektivitätsideal: Einhelligkeit unter Wissenschaftern. Man beobachtet dies
zum Beispiel an der im Journalismus gängigen Praxis, die Meinung eines repräsentativen
Wissenschafters mit der widersprechenden Ansicht eines Aussenseiters zu
konterkarieren. Durch einen solchen Meinungsmix erweckt man nicht nur den
Eindruck einer „ausbalancierteren“ Berichterstattung, sondern warnt das
Publikum zugleich: Seht Leute, auch unter Wissenschaftern herrscht alles andere
als Einigkeit! Die Lage, wie sie sie beschreiben, ist deshalb halb so schlimm! Dabei
gehörte gerade zu einer äusserst wichtigen erkenntnistheoretischen Aufgabe des
Journalismus, zu informieren, welches Gewicht denn der Aussenseiter in der
Meinungsvielfalt hat, was Klimamodelle eigentlich leisten und wie überhaupt so
etwas wie „unumstrittene“ Tatsachen zustande kommen.
Es geht also mit der Zukunft unseres Planeten ebenfalls um
die Zukunft unseres Wissens – genauer: es geht darum, dem „hässlichen“ Wissen
über unseren Planeten deutlich Gehör zu verschaffen, damit man realistische
Erwartungshorizonte aufspannen kann. Darauf zielt anwaltschaftliche Objektivität
ab. Sie obliegt nicht der Wissenschaft allein, vielmehr muss sie getragen
werden von einer erweiterten „Peer-Gemeinschaft“ aus Experten, investigativen
Journalisten, wachsamen Faktencheckern und engagierten Bürgern, sozusagen von einer
„Allianz der Wissenswilligen“, die den Fakten-Fabrikanten und Konfabulierern –
überhaupt dem ganzen zeitgeistigen Geschwafel über das Ende der Fakten ein faktisches
Ende setzt.
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