NZZ, 11.1.2020
Die
moralische Rampensau
Das
Reden über die Moral, so beginnt der Philosoph Kurt Baier sein Buch „Der
Standpunkt der Moral“ (1958), sei oft „recht abstossend. Moralische Vorwürfe
erheben, moralische Entrüstung zum Ausdruck bringen, moralische Urteile fällen,
einen moralische Tadel aussprechen, sich selbst rechtfertigen und überhaupt und
ganz besonders moralisieren – wer mag das gern hören?“
Nun,
es gibt heute durchaus einen Schlag von Leuten, die das offenbar mögen. Wer
kennt sie nicht, diese penetrant missionierenden Levitenleser oft
privilegierter Herkunft, die uns mit ihrem zur Schau gestellten Gewissen vorrechnen,
wieviel Tonnen Kohlendioxid wir täglich verpuffen oder wieviele unterbezahlte,
unterdrückte unterernährte Kinder in eine Jeans „investiert“ würden. „Virtue
signalers“ - „Tugendsignalisierer“ - nennt man sie neuerdings im Englischen. Die
abschätzige Konnotation rührt davon her, dass am Signalisieren der Verdacht der
Verlogenheit klebt. Man könnte von „Gretisieren“ sprechen.
Ich
bezichtige Greta Thunberg nicht der Unlauterkeit. Aber eine gewisse
Effekthascherei spielt in ihrem Engagement zweifellos mit. Ist das schlecht? Statuiert
Greta mit ihrer Tugend-Performance nicht das Exempel eines erwachten
ökologischen Bewusstseins, einer „wokeness“, wie das jetzt unter ethischen
Hipstern heisst? Die Frage müssten wir alle in generalisierter Form an uns
selbst richten: Tue ich etwas Gutes oder will ich den anderen zeigen, dass ich
etwas Gutes tue? Gibt es überhaupt einen klaren Unterschied? Eine Frage, wie
geschaffen für unser Zeitalter der Verstellung und Zurschaustellung. Die
Philosophen Justin Tosi und Brandon Warmke sind ihr in einem höchst brisanten
Essay nachgegangen, und sie haben das zeitgeistige Phänomen auf einen Begriff
gebracht: moralisches Selbstdarstellen („moral grandstanding“). Es lässt sich
an fünf augenfälligen Symptomen erkennen: dick auftragen, härtere Konsequenzen
fordern, Anklagen fabrizieren, sich exzessiv empören, selbstgerecht urteilen.
***
Wer
dick aufträgt, bringt keine neuen Argumente oder Gesichtspunkte in eine
moralische Debatte, sondern echot einfach die Argumente anderer. Man will vor
allem als moralisch respektable Person auftreten und wahrgenommen werden. Ein
sozialpsychologisches Phänomen: Gruppenmitglieder tragen umso dicker auf, je
mehr sie das Gefühl haben, den anderen etwas – zum Beispiel eine „korrekte“
Haltung - „beweisen“ zu müssen. Ähnlich setzt das Konsequenzen-Verschärfen bei
einem bereits bestehenden moralischen Urteil an. Angenommen, ein Manager habe
sich unethischer Geschäfte schuldig gemacht. Das Urteil ist klar: Er ist nicht
mehr tragbar. Nun schaltet der Selbstdarsteller quasi einen moralischen Gang
höher: Ich bin einverstanden, aber wenn uns wirklich um die Unternehmensethik
zu tun ist, dann bin ich für die öffentliche Ächtung dieser Person. Durch
dieses Hochfahren des Urteils wird gleichzeitig auch die Respektabilität des
Urteilenden hochgefahren. Das kann zu einem moralischen Wettrüsten führen.
Anklagen
fabrizieren – im Englischen höchst bezeichnend „trump up“ genannt – macht aus
einer moralischen Mücke einen moralischen Elefanten. Der Selbstdarsteller,
typischerweise begierig, in strittigen Fragen seine ethische Profilschärfe zu
demonstrieren, wird deshalb nicht zögern, auch auf relativ unumstrittenem Terrain
die „moralische Sache“ hervorzuheben. Er signalisiert dadurch, dass sein
moralischer Riechkolben auf all den Unrat der Welt empfindlicher reagiert als
andere.
Mit
dieser Empfindlichkeit korreliert die Empörungsbereitschaft. Empörung und
Betroffenheit verbreiten sich wie moralischer Herpes. Es scheint, als liesse
man sich von der Annahme leiten, moralische Integrität messe sich an der Stärke
der Indigniertheit. Der emotionale Ausdruck ist zweifellos oft das
wahrnehmbarste und stärkste Indiz für innere moralische Bewegtheit. Aber solche
Bewegtheit hat nichts mit der Richtigkeit der moralischen Überzeugung zu tun. Nur
der sicht- und hörbar Empörte oder Betroffene ist der „ethisch Kompetente“: das
ist der Fehlschluss des Strassenmobs. - Übrigens erschöpft sich Empörung irgendwann.
Wirklich
problematisch ist der Monopolanspruch auf die Richtgkeit, die „Selbstevidenz“
des eigenen Standpunktes. Für die Begründung oder Verteidigung des eigenen
Standpunkts sehen Selbstdarsteller oft keinen Bedarf. Ihre Sicht auf andere
Gesichtspunkte ist ein einziger blinder Fleck. Wer ihren moralischen Standards
nicht entspricht oder sie nicht akzeptiert, zeigt Begriffsstutzigkeit, ist
nicht „woke“ genug, die Argumente zu verstehen. Was sich allerdings leicht
verstehen lässt, ist die Tendenz zur Rechthaberei und damit zur Polarisierung,
die sich in der selbstevidenten, selbstgerechten moralischen Monopolhaltung
abzeichnet.
***
Diese
Symptome zeigen eines: Der moralische Selbstdarsteller lebt im sozialen
Komparativ. Er will nicht nur gut, er will besser dastehen als andere. Und
dieses Bedürfnis sieht sich besonders auf den Online-Bühnen gefördert. Man
vernimmt hier ja ständig, was andere über einen denken, und diese Exposition
lässt sich am besten dadurch aufrecht erhalten, dass man quasi zur moralischen
Rampensau wird. Rousseau sprach 1755 in seiner berühmten Abhandlung über die Ungleichheit
von der Mutation der natürlichen Selbstliebe (amour de soi), als notwendiger
Grundlage genügsamer Selbsterhaltung, zur Selbstsucht (amour propre), die
unersättlich ist und die Menschen einander zu Feinden macht.
Der
moralische Impuls hat eine klar erkennbare Richtung: Weg vom Ego. Moralisches Selbstdarstellen
verläuft antiparallel: Hin zum Ego. Trotzdem ist der Selbstdarsteller oft geschickt
darin, den Eindruck zu erwecken, es ginge ihm primär um öffentliche Belange.
Und er hat in einem perversen Sinn sogar recht. Denn öffentliche Belange sind
für ihn das Medium der Selbstdarstellung. Zwischen Selbstinteresse und
öffentlichem Interesse besteht kein Widerspruch. Die Öffentlichkeit, die Moral:
das bin ICH.
Der
wohl schädlichste Einfluss des moralischen Selbstdarstellens – hier dem
Bullshit nah verwandt - dürfte darin liegen,
dass es sich zu einem Herd des Zynismus entwickeln kann. Ich komme noch
einmal auf das Beispiel von Greta Thunberg zurück. Die aufkeimenden Zweifel an ihrer
Performance sind symptomatisch für den kränkelnden moralischen Diskurs dieser
Tage. Man vertraut dem ganzen Mummenschanz der Tugend, all diesen einstudierten
Gebärden und Posen der Rechtschaffenheit und Me-Too-Betroffenheit, schlicht nicht
mehr. Ja, Infiziert vom Verdacht des Selbstdarstellens nehmen wir auf einmal
dieses Phänomen auch bei Leuten wahr, die es aufrichtig meinen. Der giftige Infekt
hat das gesellschaftliche Bindegewebe befallen.
***
In
uns steckt das tief verwurzelte Bedürfnis nach Anerkennung und diese
Anerkennung holen wir uns immer auch durch das Selbstdarstellen. Die Rampensau
lauert in uns allen. Es kann also nicht um eine pauschale Verurteilung dieser
Verhaltensweise gehen. Wir stossen hier auf die uralte Frage nach dem Kern des
tugendhaften Verhaltens, eine Frage, die wir nie eindeutig beantworten können. Aber
um zu ermessen, wie weit es mit unserer Moral gekommen ist, muss man über zwei
Jahrtausende zurücksetzen, zur Ethik von Aristoteles. Er unterschied zwischen
Handlungen, die aus charakterlichen Gründen moralisch sind, und solchen, die
bloss so erscheinen. „Handlungen im Bereich des Sittlichen (haben) nicht ohne
weiteres den Charakter des Gerechten oder Besonnenen, wenn sie selbst einfach
in charakterlicher Erscheinungsform auftreten, sondern es muss auch der
handelnde Mensch selbst in ganz bestimmter Verfassung wirken.“
Ein einziges Wort beschreibt diese Verfassung: Selbstkritik. Meist schätzen wir
uns moralisch zu hoch ein. Deshalb greifen wir ja in Debatten auch gerne zur
Moralkeule. Wir wollen imponieren. Tugend signalisieren. Und genau darin liegt
die Gefahr: Man unterzieht den eigenen Standpunkt gar nicht mehr der Prüfung.
Wer Tugend als Instrument benützt – als
Maske, Prügel, Ego-Pusher - , hat sich von ihr verabschiedet.
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