Sommerzeit ist für indigene Berner Aarezeit. Ich nenne sie
„Flusssommer“. Man wandert in der Badehose flussaufwärts, zur Schönaubrücke,
zum Eichholz, vielleicht noch weiter, im duftenden vegetativen Clair-obscur der
Uferbewaldung, um sich dann ins türkisene kühle Wasser zu stürzen und sich
ins Marzilibad hinuntertragen zu lassen: eine aquatische Liebkosung. Es hat etwas
wundervoll Gedankenverlorenes, auf dem Rücken in der Strömung zu treiben; man
hört das leise Rieseln der Steine am Flussgrund, riecht den Hautgout des reifen
Sommers, den das Wasser verströmt, sieht das silbrige Geflicker im Blattwerk
der Bäume gemächlich vorbeiziehen. Weil es so heiss war, stieg ich neulich in
kurzer Zeitfolge zweimal in den Fluss. Und da suchte mich ein metaphysisches
Erlebnis heim. Mich störten plötzlich zwei mitschwimmende Philosophen: Heraklit
und Wittgenstein.
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Der erste, Vorsokratiker und im Ruf des Dunklen stehend, der
zweite, radikaler Sprachphilosoph mit der Aura des Spinners, aus dem Wien der
Wende ins 20. Jahrhundert. Ersterer prägte den bekannten, meist verkürzt
zitierten Satz: „Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss“ (Ein Fragment
lautet: „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir
nicht, wir sind und wir sind nicht“). Letzterer behauptete das Gegenteil: „Der Mann, der sagte,
man könne nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, sagte etwas Falsches;
man kann zweimal in den gleichen Fluss steigen.“
Mit
diesem Widerspruch muss man schwimmen lernen. Was genau kann man nun eigentlich
nicht? Ganz offensichtlich kann ich meinen
Fuss ins Aarewasser tauchen, ihn herausziehen und ihn wieder eintauchen. Ist
das die gleiche Aare beim zweiten Mal? Sicher, es ist nicht mehr das gleiche
Wasser, das meinen Fuss umströmt, aber der Fluss ist doch immer noch die Aare.
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Eine
Interpretation des Heraklit-Wortes lautet: Wir gebrauchen das Wort „Fluss“, um
über etwas zu sprechen, das buchstäblich ständig im Fluss ist, und dieser
Gebrauch kann uns zur Meinung verleiten, dass die Dinge „fester“ als in
Wirklichkeit sind – ja, zur Illusion, dass es überhaupt Dinge von Dauer gibt. Was
wir erfahren, die ganze unermessliche Vielfalt der Phänomene, so scheint uns
Heraklit zu sagen, ist ein „Fluss“, und deshalb erweist sich unsere Sprache als
ein ungeeignetes Werkzeug, um die „fliessende“ Wirklichkeit zu beschreiben.
Wittgenstein meint etwas anderes. Er wirft den Blick nicht
auf den Fluss, sondern auf den Sprechenden. Wenn wir miteinander über etwas
reden, spielen wir ein Sprachspiel. Die Figuren im Sprachspiel sind Wörter. Wir
verwenden sie gemäss grammatikalischer Regeln, so wie wir etwa Schachfiguren
nach Schachregeln bewegen: der Läufer zieht diagonal, der Turm horizontal oder
vertikal usw. Gewisse Züge im Sprachspiel sind Aussagen über etwas in der Welt,
zum Beispiel über einen Fluss namens „Aare“. Konfusion entsteht nun allerdings,
wenn wir nicht zwischen zwei Arten von Sätzen unterscheiden, etwa „Der Fluss
überflutet den Uferweg“ und „‚Fluss’ ist ein Substantiv“. Der erste Satz sagt
etwas über die Welt, der zweite sagt etwas über den Gebrauch eines Wortes. Die Verwechslung
beider kann leicht zu absurden Sätze führen wie „Ein Substantiv überflutet den
Uferweg“. Von diese Art sei auch Heraklits Satz „Man kann nicht zweimal in den
gleichen Fluss steigen.“
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Wenn Wittgenstein den Satz als falsch bezeichnet, dann warnt
er uns: Der Satz gibt vor, etwas über die Welt zu sagen, aber tatsächlich sagt
er etwas über den Gebrauch eines Wortes. „Man kann nicht zweimal in den
gleichen Fluss steigen“ meint eigentlich: Gebrauche das Wort „Fluss“ nicht so,
dass sich behaupten lässt „Man kann zweimal in den gleichen Fluss steigen“. Ich
aber, Wittgenstein, behaupte das, und ich wende mich somit gegen eine solche
Sprachregelung. Der Heraklit-Satz ist ein Verwirrspiel im Sprachspiel selbst,
etwa so, wie wenn man sagen würde „Der König bewegt sich wie die Königin“. Das
ist ein falscher Satz im traditionellen Schach, könnte aber als eine Regel in
einem Alternativschach aufgefasst werden.
Wir meinen, so Wittgenstein, oft über Dinge zu sprechen,
dabei sprechen wir über Regeln des Sprechens. „Der Fluss tritt über die Ufer“
ist ein Satz über Dinge. Aber der Satz „Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen“ ist
ein impliziter Satz über die Sprache. Sein philosophischer Tiefsinn resultiert,
wie Wittgenstein schreibt, aus der „Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel
unserer Sprache“. Dagegen hat Philosophie anzukämpfen.
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Das ist freilich nicht das letzte Wort. Warum sollte man
nicht über den Fluss reden, wie Heraklit das tut? Mit welchem Recht verbietet
Wittgenstein einen solchen Sprachgebrauch? Er mahnt uns ja selber: „In einem
gewissen Sinn kann man mit philosophischen Fehlern nicht sorgfältig genug
umgehen, so viel Wahrheit enthalten sie.“ Welche Wahrheit steckt also im
Heraklit-Satz?
Vielleicht führt es weiter, wenn wir nicht Wahrheit oder
Falschheit im Auge haben, sondern philosophische Haltungen. Wir können den Heraklit-Satz
so interpretieren: Unsere Sprache ist kein passendes Werkzeug, um die
Wirklichkeit darzustellen. Die Wirklichkeit ist im Grunde ein Fluss, und wenn
man ihn beschreiben will, ist er schon im nächsten Moment ein anderer -
„verflossen“. Was aber bedeutet „die“ Wirklichkeit? Wie überprüft man, ob ein
Sprachspiel ihr angepasst ist oder ob es besser als ein anderes angepasst ist? Sobald
man eine solche Frage stellt, riskiert man, in eine philosophische Falle zu
tappen - was heisst, dass man die Frage anders formulieren sollte.
Man müsste ja zur Beantwortung einen Gesichtspunkt
beanspruchen, von dem aus sich ein Vergleich anstellen liesse zwischen der sprachlich
dargestellten Wirklichkeit und der Wirklichkeit „wie sie ist“: Wirklichkeit pur
und undargestellt. Aber das ist ein Paradox: Was soll ich von einer
Wirklichkeit sagen, die sich nicht „sagen“ lässt? Womöglich fasziniert uns gerade das
Paradox-Metaphysische des Gesichtspunktes so sehr. Vermutlich spricht aus dieser
Faszination das tiefe Transzendenzverlangen, sich aus allen menschlichen
Begrenzungen zu lösen, aus der körperlichen, zeitgebundenen, sprachlichen
Existenz herauszutreten und die Welt zu sehen „wie sie fliesst“. Man könnte
dies die transzendenz-orientierte Haltung nennen; im Kern ein religiöses Motiv.
Wittgenstein bemerkte denn auch einmal: „Ich bin kein religiöser Mensch. Aber
ich kann mir nicht helfen, jedes Problem unter einem religiösen Gesichtspunkt
zu sehen.“
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Nun wählt Wittgenstein jedoch gerade die entgegengesetzte
Haltung, die immanenz-orientierte. Hier zeigt sich sozusagen der Sprach-Ingenieur.
Metaphysische Aussagen wie jene von Heraklit sind in Wittgensteins Augen wie Räder
eines Sprachgetriebes, die sich losgelöst haben und nun frei und unkontrolliert
drehen. Die Aufgabe des Philosophen erweist sich so gesehen als eine praktische,
nämlich das metaphysisch „beschädigte“ Getriebe zu reparieren, und uns nicht von
Problemen „verhexen“ zu lasssen, die im Grunde sprachliche Dysfunktionen sind. Obwohl
er sich nicht helfen kann, jedes Problem unter religiösem Gesichtspunkt zu
betrachten, liegt Wittgensteins „Religiosität“ gerade nicht im Transzendieren,
im Aussteigen aus der Sprache, sondern im Immanieren, im totalen Einwohnen. Hör
auf, vom Gesichtspunkt „ausserhalb“ der Sprache zu träumen!
Und ohnehin: Gibt gibt es diesen Gesichtspunkt für das Leben?
Es ist der Fluss, in den wir gar nicht zweimal steigen können, weil wir immer
schon in ihm schwimmen. Das sagte ich mir, als ich nach dem zweiten Mal Hinunterschwimmen
aus der Aare stieg. Immerhin: Aus ihr kann ich zweimal aussteigen. Aber ich war
mir nicht sicher, ob mich das nun beruhigen oder beunruhigen sollte.
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