Mittwoch, 18. September 2019






NZZ, 14.9,2019

Intoleranz gegenüber dummen Meinungen

Liberalismus, schreibt Ortega y Gasset in seinem Buch „Aufstand der Massen“, sei Ausdruck äusserster Grossmut, „das Recht, das die Majorität der Minorität einräumt.“ Aber verdient Dummheit diese „Grossmut“? Erst kürzlich stellte der Philosoph Bryan Van Norden in der „New York Times“ die steile These auf: Angesichts all der Ignoranten und Idioten im Netz muss man die Meinungsfreiheit einschränken.[i]

In den sozialen Netzwerken stehen bekanntlich Plattformen der Dissemination „untolerierbaren“ Gedankenguts zur Verfügung –, nationalistischer, rassistischer, sexistischer, extremistischer Prägung. Freie Meinungsäusserung online mündet oft in Meinungskloaken. Deshalb schlug Van Norden eine besondere Art der Kloakenreinigung vor, unter dem Titel „Ignoranten haben kein Recht auf Zuhörerschaft“: „Der Zugang zur Öffentlichkeit, den Institutionen wie Fernsehen, Zeitungen, Magazine und Vorlesungen gewähren, ist eine begrenzte Ressource. Gerechtigkeit verlangt deshalb, dass dieser Zugang (..) nach Massgabe der Verdienste und des Beitrags zum Wohle der Gemeinschaft verteilt werden sollte.“

Der Vorschlag bringt einen unangenehmen Widerspruch liberaler Gesellschaften zum Vorschein. Um „untolerierbaren“ Meinungen zu begegnen, liebäugelt man mit illiberalen Massnahmen. Wer aber definiert das „Tolerierbare“? Tolerieren erfolgt von einer Machtposition aus. So sind es häufig gerade jene Türhüter des „elitären“ Diskurses, welche die Macht über die Zugänge zur Öffentlichkeit besitzen: Medienmogule, öffentlich-rechtliche Intendanten, Chefredaktoren, wissenschaftliche Autoritäten, Universitätsrektoren. Sie bestimmen „die Verdienste und den Beitrag zum Wohle der Gemeinschaft“. Sie ernennen sich zu Repräsentanten dieser Gemeinschaft, aber mit welchem Recht?

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Toleranz bedeutet zweierlei: Duldung und Respekt. Von daher die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit. Das Recht auf Meinungsäusserung ist ein negatives Freiheitsrecht, das wissen wir von liberalen Theoretikern der ersten Stunde, etwa von John Locke. Freiheit der Meinungsäusserung heisst, „frei zu sein von dem Zwang und der Gewalttätigkeit anderer (..), nicht aber (..) eine Freiheit für jeden, zu tun, was er will.“ Das negative Recht auf freie Meinungsäusserung ist also nicht das positive Recht auf Anerkennung einer Meinung. Angenommen, ich arbeite an einem renommierten Institut für Evolutionsbiologie. Nun agitiere ich öffentlich gegen die Evolutionstheorie. Ich habe ein persönliches negatives Recht dazu. Niemand kann mich hindern. Aber ich habe kein positives Recht auf Anerkennung – im Besonderen auf Anerkennung durch das Institut. Wenn es mich feuert, dann tut es dies nicht als Meinungsunterdrückung, vielmehr sieht es in mir keinen brauchbaren Mitarbeiter. Meine Meinung ist rufschädigend. Mit gleichem Recht kann die NASA einen „Flacherdler“ feuern oder ein öffentliches Spital einen Geistheiler. Und warum können sie das? Weil sie definieren, was in ihrem Rahmen als vernünftiger Diskurs und anerkannter Meinungsbeitrag gilt.
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Damit stecken wir zwangsläufig in der philosophischen Bredouille. Was ist „vernünftiger Diskurs“? Gibt es einen universellen Kanon der Rationalität, der eindeutig vernünftiges von dummem Denken unterschiede? Rationalisten jeglicher Prägung – von Descartes über Leibniz, Kant und Mill bis Popper und Habermas – haben sich auf eine solche Instanz berufen. Wenn man sie ablehnt - Van Norden tut das –, dann sind alle Meinungen letztlich bestimmt durch die partikulare Macht meinungsbildender Akteure. Dann muss man dumme Meinungen notfalls durch repressive Massnahmen ausgrenzen oder unterdrücken. Und wer bestimmt, was dumm ist?

Man erinnert sich an die scharfe Diagnose von Herbert Marcuse vor über einem halben Jahrhundert: „In der Überflussgesellschaft herrscht Diskussion im Überfluss, und im etablierten Rahmen ist sie weitgehend toleriert. Alle Standpunkte lassen sich vernehmen (..) Ferner wird bei den Debatten in den Massenmedien die dumme Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die intelligente, der Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete (..) Diese reine Toleranz von Sinn und Unsinn wird durch das demokratische Argument gerechtfertigt, dass niemand, ob Gruppe oder Individuum, im Besitz der Wahrheit (..) wäre.“ Aus dieser Diagnose leitete Marcuse seine berühmt-berüchtigte Definition „befreiender Toleranz“ ab: „Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts.“ Warum? Weil „das Telos der Toleranz Wahrheit (ist)“, wie der Philosoph gestelzt verkündete. Und das Ziel liegt links.

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Ein Axiom des klassischen Liberalismus lautet: Die Freiheit des Einzelnen ist an allgemeinverbindliche Verhaltensregeln gebunden. Die Freiheit der Meinungsäusserung braucht bestimmte Regeln rationaler Fairness. Nun setzen aber gerade die neuen Online-Verhaltens­formen derartige Regeln ausser Kraft. Denn das Netz begünstigt so etwas wie Meinungsverklumpung. Es herrscht nicht der zwanglose Zwang des besseren Arguments, sondern der zwanglose Zwang der gleichen Meinung. Menschen, mit „verklumpten“ Meinungen kommt man mit universellen Regeln nicht bei. Eine andere Meinung ist eine Zumutung und ein Aufruf zu Verachtung und Hass. Toleranz im positiven Sinn bedeutet wie gesagt Respekt vor der anderen Meinung. Sieht man aber in dieser Meinung bloss den Anderen, verweigert man ihm den Diskurs: Du bist eine Frau/ ein Schwarzer/ ein Journalist, also kann, was du sagst, nicht stimmen. Nicht Diskurs-Apriori, sondern Clash-Apriori.

Den ganzen Mob der potenziellen Amoktäter, Verschwörungstheoretiker, Junk-Wissen­schaft­ler, Fake-Facts-Verzettler aus der Öffentlichkeit zu verbannen erinnert zudem an den Witz über den Mathematiker in der Wildnis. Von einem Löwenrudel umzingelt, definiert er einfach alles ausser sich als Gehege. Im Internet ist die herkömmliche Öffentlichkeit längst zersplittert in Myriaden von Phantom-Öffentlichkeiten mit dem Hang zu Meinungsinzucht. 8chan, die Plattform, welche dem Attentäter von El Paso als Motivationsquelle diente, wurde 2013 als Forum der freien Meinungsäusserung gegründet. Inzwischen ist 8chan zu einem Forum der freien Gewaltaufforderung pervertiert. Verbietet Waffen, nicht Websites, schlug eine Tageszeitung kürzlich vor. Aber Waffen- oder Websiteverbote schaffen Gewaltgedanken nicht aus der Welt. Die Hydra der vernetzten Dummköpfe ist technischen Massnahmen gegenüber resilient.

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Die neuen kommunikativen Bedingungen begünstigen Meinungsverklumpung und machen es notwendig, den liberalen Diskurs von Grund auf zu überdenken. Wenn man Vernunft als ein Kollektivgut, als ein offenes Repertoire an Argumentationsformen und Instrumenten der Faktenprüfung betrachtet, dann stellt sich die Frage: Welches Kollektiv? „Die“ Menschheit? Das war und bleibt ja das grosse Problem des aufklärerischen Universalismus: Allgemeingültige Spielregeln rationaler Fairness sind leichter zu definieren als zu praktizieren. Ohnehin fragt sich, ob die an einem liberalen Diskurs interessierten Bürger nicht schon zu einer Minorität geschrumpft sind. Ist Toleranz als Grossmut passé?

Vielleicht sollten wir uns zunächst einmal die hochtrabende Redeweise von „der“ Vernunft abgewöhnen. Denn sie beruht auf der impliziten Annahme, es gebe so etwas wie einen allgemeinverbindlichen „Kanon“, aus dem sich „top down“ rationale Maximen ableiten lassen. Ein alter Philosophenhut. Ich plädiere dagegen für ein Manual von Problemlösungsmitteln „bottom up“. Argumentieren ist ein Handwerk, das sich in den Niederungen von Meinungsstreiten bewährt und sich iterativ weiter anwenden lässt. Scheitern inklusive. Spielregeln der Fairness dürften zudem eher offline als online greifen. Man lernt sie in der Auseinandersetzung mit Menschen aus Fleisch und Blut. Ihr Ort ist die Vereinsversammlung, der Arbeitsplatz, der Workshop, das Universitätsseminar, der Beizentisch und – ja, die Strasse.

Hin also zur „konkreten“ Vernunft, verkörpert durch vernünftige „Einzeltäter“, die in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, in Medien, Parlamenten und Schulen rationale Offline-Tugenden nachahmenswert vordemonstrieren, im Kampf gegen die Meinungsverklumpung von Antiwissenschaftlern, Rassensuprematisten, politischen Scharfmachern, Scharlatanen, religiösen Fundamentalisten. Im Visier: Dummheit als Ignoranz, die sich selber beglückwünscht. –  Frischauf, in den Kampf!




[i]    https://www.nytimes.com/2018/06/25/opinion/free-speech-just-access.html

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