NZZ, 14.9,2019
Intoleranz
gegenüber dummen Meinungen
Liberalismus, schreibt Ortega y Gasset in seinem Buch
„Aufstand der Massen“, sei Ausdruck äusserster Grossmut, „das Recht, das die
Majorität der Minorität einräumt.“ Aber verdient Dummheit diese „Grossmut“?
Erst kürzlich stellte der Philosoph Bryan Van Norden in der „New York Times“
die steile These auf: Angesichts all der Ignoranten und Idioten im Netz muss
man die Meinungsfreiheit einschränken.[i]
In den sozialen Netzwerken stehen bekanntlich Plattformen
der Dissemination „untolerierbaren“ Gedankenguts zur Verfügung –,
nationalistischer, rassistischer, sexistischer, extremistischer Prägung. Freie
Meinungsäusserung online mündet oft in Meinungskloaken. Deshalb schlug Van Norden
eine besondere Art der Kloakenreinigung vor, unter dem Titel „Ignoranten haben
kein Recht auf Zuhörerschaft“: „Der Zugang zur Öffentlichkeit, den
Institutionen wie Fernsehen, Zeitungen, Magazine und Vorlesungen gewähren, ist
eine begrenzte Ressource. Gerechtigkeit verlangt deshalb, dass dieser Zugang (..)
nach Massgabe der Verdienste und des Beitrags zum Wohle der Gemeinschaft
verteilt werden sollte.“
Der Vorschlag bringt einen unangenehmen
Widerspruch liberaler Gesellschaften zum Vorschein. Um „untolerierbaren“
Meinungen zu begegnen, liebäugelt man mit illiberalen Massnahmen. Wer aber definiert
das „Tolerierbare“? Tolerieren erfolgt von einer Machtposition aus. So sind es häufig
gerade jene Türhüter des „elitären“ Diskurses, welche die Macht über die
Zugänge zur Öffentlichkeit besitzen: Medienmogule, öffentlich-rechtliche
Intendanten, Chefredaktoren, wissenschaftliche Autoritäten, Universitätsrektoren.
Sie bestimmen „die Verdienste und den Beitrag zum Wohle der Gemeinschaft“. Sie
ernennen sich zu Repräsentanten dieser Gemeinschaft, aber mit welchem Recht?
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Toleranz
bedeutet zweierlei: Duldung und Respekt. Von daher die Unterscheidung zwischen
negativer und positiver Freiheit. Das Recht auf Meinungsäusserung ist ein
negatives Freiheitsrecht, das wissen wir von liberalen Theoretikern der ersten
Stunde, etwa von John Locke. Freiheit der Meinungsäusserung heisst, „frei zu
sein von dem Zwang und der Gewalttätigkeit anderer (..), nicht aber (..) eine
Freiheit für jeden, zu tun, was er will.“ Das negative Recht auf freie
Meinungsäusserung ist also nicht das positive Recht auf Anerkennung einer
Meinung. Angenommen, ich arbeite an einem renommierten Institut für
Evolutionsbiologie. Nun agitiere ich öffentlich gegen die Evolutionstheorie.
Ich habe ein persönliches negatives Recht dazu. Niemand kann mich hindern. Aber
ich habe kein positives Recht auf Anerkennung – im Besonderen auf Anerkennung durch
das Institut. Wenn es mich feuert, dann tut es dies nicht als
Meinungsunterdrückung, vielmehr sieht es in mir keinen brauchbaren Mitarbeiter.
Meine Meinung ist rufschädigend. Mit gleichem Recht kann die NASA einen
„Flacherdler“ feuern oder ein öffentliches Spital einen Geistheiler. Und warum
können sie das? Weil sie definieren, was in ihrem Rahmen als vernünftiger
Diskurs und anerkannter Meinungsbeitrag gilt.
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Damit
stecken wir zwangsläufig in der philosophischen Bredouille. Was ist
„vernünftiger Diskurs“? Gibt es einen universellen Kanon der Rationalität, der
eindeutig vernünftiges von dummem Denken unterschiede? Rationalisten jeglicher
Prägung – von Descartes über Leibniz, Kant und Mill bis Popper und Habermas –
haben sich auf eine solche Instanz berufen. Wenn man sie ablehnt - Van Norden
tut das –, dann sind alle Meinungen letztlich bestimmt durch die partikulare
Macht meinungsbildender Akteure. Dann muss man dumme Meinungen notfalls durch
repressive Massnahmen ausgrenzen oder unterdrücken. Und wer bestimmt, was dumm
ist?
Man
erinnert sich an die scharfe Diagnose von Herbert Marcuse vor über einem halben
Jahrhundert: „In der Überflussgesellschaft herrscht Diskussion im Überfluss,
und im etablierten Rahmen ist sie weitgehend toleriert. Alle Standpunkte lassen
sich vernehmen (..) Ferner wird bei den Debatten in den Massenmedien die dumme
Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die intelligente, der
Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete (..) Diese reine
Toleranz von Sinn und Unsinn wird durch das demokratische Argument
gerechtfertigt, dass niemand, ob Gruppe oder Individuum, im Besitz der Wahrheit
(..) wäre.“ Aus dieser Diagnose leitete Marcuse seine berühmt-berüchtigte
Definition „befreiender Toleranz“ ab: „Intoleranz gegenüber Bewegungen von
rechts.“ Warum? Weil „das Telos der Toleranz Wahrheit (ist)“, wie der Philosoph
gestelzt verkündete. Und das Ziel liegt links.
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Ein Axiom des klassischen Liberalismus lautet: Die Freiheit
des Einzelnen ist an allgemeinverbindliche Verhaltensregeln gebunden. Die Freiheit
der Meinungsäusserung braucht bestimmte Regeln rationaler Fairness. Nun setzen
aber gerade die neuen Online-Verhaltensformen derartige Regeln ausser Kraft. Denn
das Netz begünstigt so etwas wie Meinungsverklumpung. Es herrscht nicht der zwanglose
Zwang des besseren Arguments, sondern der zwanglose Zwang der gleichen Meinung.
Menschen, mit „verklumpten“ Meinungen kommt man mit universellen Regeln nicht bei.
Eine andere Meinung ist eine Zumutung und ein Aufruf zu Verachtung und Hass. Toleranz
im positiven Sinn bedeutet wie gesagt Respekt vor der anderen Meinung. Sieht
man aber in dieser Meinung bloss den Anderen, verweigert man ihm den Diskurs: Du bist eine Frau/ ein Schwarzer/ ein Journalist,
also kann, was du sagst, nicht stimmen. Nicht Diskurs-Apriori, sondern
Clash-Apriori.
Den ganzen Mob der potenziellen Amoktäter, Verschwörungstheoretiker,
Junk-Wissenschaftler, Fake-Facts-Verzettler aus der Öffentlichkeit zu
verbannen erinnert zudem an den Witz über den Mathematiker in der Wildnis. Von
einem Löwenrudel umzingelt, definiert er einfach alles ausser sich als Gehege. Im
Internet ist die herkömmliche Öffentlichkeit längst zersplittert in Myriaden
von Phantom-Öffentlichkeiten mit dem Hang zu Meinungsinzucht. 8chan, die
Plattform, welche dem Attentäter von El Paso als Motivationsquelle diente,
wurde 2013 als Forum der freien Meinungsäusserung gegründet. Inzwischen ist 8chan
zu einem Forum der freien Gewaltaufforderung pervertiert. Verbietet Waffen,
nicht Websites, schlug eine Tageszeitung kürzlich vor. Aber Waffen- oder
Websiteverbote schaffen Gewaltgedanken nicht aus der Welt. Die Hydra der
vernetzten Dummköpfe ist technischen Massnahmen gegenüber resilient.
***
Die neuen kommunikativen Bedingungen begünstigen
Meinungsverklumpung und machen es notwendig, den liberalen Diskurs von Grund
auf zu überdenken. Wenn man Vernunft als ein Kollektivgut, als ein offenes Repertoire
an Argumentationsformen und Instrumenten der Faktenprüfung betrachtet, dann
stellt sich die Frage: Welches Kollektiv? „Die“ Menschheit? Das war und bleibt ja
das grosse Problem des aufklärerischen Universalismus: Allgemeingültige
Spielregeln rationaler Fairness sind leichter zu definieren als zu praktizieren.
Ohnehin fragt sich, ob die an einem liberalen Diskurs interessierten Bürger
nicht schon zu einer Minorität geschrumpft sind. Ist Toleranz als Grossmut
passé?
Vielleicht sollten wir uns zunächst einmal die hochtrabende Redeweise
von „der“ Vernunft abgewöhnen. Denn sie beruht auf der impliziten Annahme, es
gebe so etwas wie einen allgemeinverbindlichen „Kanon“, aus dem sich „top down“
rationale Maximen ableiten lassen. Ein alter Philosophenhut. Ich plädiere
dagegen für ein Manual von Problemlösungsmitteln „bottom up“. Argumentieren ist
ein Handwerk, das sich in den Niederungen von Meinungsstreiten bewährt und sich
iterativ weiter anwenden lässt. Scheitern inklusive. Spielregeln der Fairness dürften
zudem eher offline als online greifen. Man
lernt sie in der Auseinandersetzung mit Menschen aus Fleisch und Blut.
Ihr Ort ist die Vereinsversammlung, der Arbeitsplatz, der Workshop, das
Universitätsseminar, der Beizentisch und – ja, die Strasse.
Hin also zur „konkreten“ Vernunft, verkörpert durch vernünftige
„Einzeltäter“, die in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, in Medien,
Parlamenten und Schulen rationale Offline-Tugenden nachahmenswert
vordemonstrieren, im Kampf gegen die Meinungsverklumpung von Antiwissenschaftlern,
Rassensuprematisten, politischen Scharfmachern, Scharlatanen, religiösen
Fundamentalisten. Im Visier: Dummheit als Ignoranz, die sich selber beglückwünscht.
– Frischauf, in den Kampf!
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