Mittwoch, 27. Februar 2019

Im Zeitalter des Techno-Primitivismus

NZZ am Sonntag, 10.2.2019





Wir sind nie aufgeklärt gewesen

Nichts ist hartnäckiger als der Mythos der Aufklärung, der uns einredet, Wissenschaft und Technik hätten uns aus dem Entwicklungsstadium des „Primitiven“ gehoben. Max Weber prägte vor hundert Jahren den Begriff, der die Folgezeit charakterisieren sollte: Entzauberung der Welt. Dabei zeigt schon ein kursorischer Blick: Die Welt ist verzaubert wie nie zuvor – durch Technik. Wir schaffen andauernd technische Wunderwerke. Verwunderlich dabei ist allerdings, wie wenig wir uns wundern. Wir lassen uns von den neuesten Apps und Gadgets durchaus verzaubern, aber diese Verzauberung verläuft in kommerzialisierbaren Bahnen. Sie führt meist kaum weiter als zum reibungslosen Gebrauch und zu einer fiebrigen Erwartung neuer Versionen und Updates; nur nicht zur Frage, wie das Ding funktioniert. Magie und technischer Analpha­betis­mus bedingen einander wechselseitig. Von einem Klassiker der Science-Fiction, Arthur C. Clarke, stammt der vielzitierte Satz: „Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie ununterscheidbar.“

Das iPad wurde als „magisch“ lanciert. Laut dem Chefdesigner von Apple, Jonathan Ive, sei die Aufgabe der Firma, harte, schwierige Probleme zu lösen, ohne die Komplexität der Probleme erscheinen zu lassen. Interface-Design ist „Magifizierung“. Man betrachte das Smartphone: ein glatter, handlicher, undurchsichtiger Kleinmonolith. Mit einer leichten Berührung lässt sich alles herbeizaubern. Aber Hand aufs Herz: Wem ist bewusst, welchen Ausbund an technischer Raffinesse man mit ihm in den Händen hält? Die vertrackte Mikro-Architektur winziger Schaltelemente; die ausgetüftelte physikalisch-chemi­sche Konstruktion des Touch­screens; die verborgenen, schnell getakteten Befehlsketten, die eine leichte Berührung auslöst - Wunder über Wunder. Aber eben auch: Tücke über Tücke.

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Eine besondere Tücke liegt in einer magischen Vorstellung von Technik, welche die Psychologen Frank Keil und Leonid Rozenblit „Illusion der erklärenden Tiefe“ nennen: Man hält das Verwendenkönnen des Geräts für dessen Verständnis. Jede „eingebürgerte“ Technologie tendiert zur Gewohnheit, und damit zu einer solchen Illusion. Sie wiegt uns im falschen Glauben, das Gerät zu kennen. Dabei haben wir uns einfach an es adaptiert. Leicht kann eine solche Adaptation dazu führen, dass nicht wir das Gerät benutzen, sondern es uns. Viele Technikkonsumenten bringen weder den Willen, die Zeit noch das Vermögen für ein tieferes Verständnis der Geräte auf. Noch vor zwanzig Jahren sprach man von der Transparenz des Computers in dem Sinne, dass man ihn bis zu seiner Hardware auseinandernehmen konnte. Bald einmal aber bekam diese Transparenz einen neuen, „oberflächlichen“ Sinn. Die amerikanische Psychologin Sherry Turkle bemerkt zu diesem Bedeutungswandel: „Als die Benutzer des MacIntosh über dessen Transparenz sprachen, (..) meinten (sie) eine Fähigkeit, die Geräte arbeiten zu lassen, ohne die Notwendigkeit, unter die Oberfläche des Bildschirms zu gehen. Heute hat das Wort ‚Transparenz‘ seine Macintosh-Bedeutung im Computer talk wie in der Umgangssprache erhalten. ‚Etwas ist transparent‘ heisst in einer Simulationskultur ‚man sieht, wie man es laufen lassen kann und nicht, wie es läuft‘“.

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Die Illusion der erklärenden Tiefe kann sich schädlich auswirken, indem sie die Vorstellung nährt, durch eine geeignete Technologie löse sich ein bestimmtes Problem „von selbst“. Magie heisst nach der Definition des Ethnologen Marcel Mauss: Kurzschluss zwischen Wunsch und Erfüllung; und Techno-Magie heisst: Zwischen Wunsch und Erfüllung operiert der Tastendruck. Man denke an gesellschaftlich hochrelevante Felder wie Finanzen, Energie, Transport, Gesundheit, Bildung, Altersvorsorge – allesamt technisch stark durchsetzte Systeme. Wer versteht sie eigentlich noch? „In einer durch das Internet verbundenen Welt,“ so der Physiker und Computerwissenschafter Daniel Hillis, „ist es fast unmöglich zu verfolgen, wie bestimmte Systeme tatsächlich funktionieren (..) Ihre Flugroute kann von einem Computer oder einem Menschen oder (was am wahrscheinlichsten ist) durch eine Kombination von beiden ausgewählt werden. Machen Sie sich kein Mühe, diese Frage zu stellen, weil jede Antwort (..) wahrscheinlich falsch ist.“ Das liegt nicht allein an unserer Unfähigkeit, gewisse komplexe Phänomene zu erklären; vielmehr muss man die Unerklärbarkeit quasi als „emergente“ Eigenschaft von Systemen betrachten, die einen hinreichend komplexen Grad erreicht haben.

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In der Illusion der erklärenden Tiefe erliegen wir einem generellen Mythos: Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt machen die Welt transparenter und kontrollierbarer. Das Gegenteil ist der Fall. Die meisten von uns sind zu einem Umgang mit technischen Objekten ohne gründliches Verständnis gezwungen. Magie liesse sich, so gesehen, geradezu neu definieren als Ignoranzmanagement in hochtechnisierten Lebenswelten. Und man kann sich deshalb fragen: Muss der Durchschnittsbürger wissen, wie und warum die ganze Technologie um ihn herum funktioniert? Genügt es nicht, wenn er gegebenenfalls Urteil und Rat des Experten einholt?

Genau das ist der Kernpunkt. Je geringer die Kenntnis eines Gerätes, umso dringlicher die Notwendigkeit einer Meta-Kenntnis, nämlich im heutigen Expertenbasar zu wissen, welchem Wissen wir vertrauen sollen und welchem nicht, handle es sich nun um jenes des Finanzberaters, Arztes, Autohändlers, Softwaredesigners, Lehrers oder Politikers. Diese Meta-Kompetenz ist nicht so sehr eine spezifisch technische, als vielmehr eine soziale, und das heisst auch: Selbsterkenntnis. Erinnern wir uns daran, dass die Kernfrage Kants lautete „Wer bin ich?“ Aufklärung im hochtechnisierten Rahmen betrifft nicht so sehr die Frage „Wie funktioniert das Gerät?“, sondern vielmehr „Wie funktioniere ich mit dem Gerät?“ Unterlassen wir diese Frage, koppeln wir uns wieder an jenes Gängelband, von dem Kant uns gerade befreien wollte.

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Heute wird bekanntlich viel über den „neuen“ posthumanen Menschen schwadroniert, der sich dank Technik auf ein nie dagewesenes Entwicklungsniveau hangelt. Nüchtern betrachtet, nähern wir uns aber eher animistischen früheren Kulturen, die wir doch überwunden zu haben glaubten. Dabei sind wir magiegläubiger denn je. Statt unserem eigenen Verstand vertrauen wir mehr dem „Verstand“ der Maschinen-Software, und in dieser Hinsicht gleichen wir dem „Primitiven“, der seine Baum- und Wassergeister beschwört. Wahrscheinlich ist dieser „Primitive“ uns darin sogar voraus, dass er seine Lebensbedingungen ziemlich gut kennt und im Griff hat. Max Weber fragte seine Zuhörerschaft, ob sie eine grössere Kenntnis ihrer Lebensbedingungen habe, „als ein Indianer oder ein Hottentotte (..) Wie der Wilde es macht, um zu seiner täglichen Nahrung zu kommen, und welche Institutionen ihm dabei dienen, das weiss er.“ Wogegen die zunehmende Technisierung unserer Lebenswelten „nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen (bedeutet), (..) sondern (..) etwas anderes: (..) den Glauben daran: dass man alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne.“ Der Glaube an das „im Prinzip“ wohlgemerkt – er macht uns zu Neo-Primitiven auf technisch avanciertestem Niveau.

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„Die Götter müssen verrückt sein“ – so war ein Film aus dem Jahre 1980 betitelt. Darin fällt eine aus dem Flugzeug über der Kalahari-Wüste geworfene leere Cola-Fla­sche dem perplexen Stammeshäuptling Xi direkt vor die Füsse. Sie stiftet einige Aufregung unter den Indigenen, die sich zu fragen beginnen, woher dieses Objekt stammt, wie es funktioniert, wozu es gut ist. Die Eingeborenen hielten die Cola-Flasche für ein Geschenk der Götter, das sie nicht verstanden und nicht zu gebrauchen wussten. Deshalb beschlossen sie, die Flasche den Göttern zurückzuerstatten. Wir Indigene technisierter Lebenswelten geben die Geschenke nicht mehr an die Apple- oder Google-„Götter“ zurück, wir benützen sie besinnungslos. Unterbelichtet. Unaufgeklärt.

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