NZZ am Sonntag, 10.2.2019
Nichts ist hartnäckiger als der Mythos der Aufklärung, der
uns einredet, Wissenschaft und Technik hätten uns aus dem Entwicklungsstadium
des „Primitiven“ gehoben. Max Weber prägte vor hundert Jahren den Begriff, der
die Folgezeit charakterisieren sollte: Entzauberung der Welt. Dabei zeigt schon
ein kursorischer Blick: Die Welt ist verzaubert wie nie zuvor – durch Technik.
Wir schaffen andauernd technische Wunderwerke. Verwunderlich dabei ist
allerdings, wie wenig wir uns wundern. Wir lassen uns von den neuesten Apps und
Gadgets durchaus verzaubern, aber diese Verzauberung verläuft in
kommerzialisierbaren Bahnen. Sie führt meist kaum weiter als zum reibungslosen
Gebrauch und zu einer fiebrigen Erwartung neuer Versionen und Updates; nur
nicht zur Frage, wie das Ding funktioniert. Magie und technischer Analphabetismus
bedingen einander wechselseitig. Von einem Klassiker der Science-Fiction,
Arthur C. Clarke, stammt der vielzitierte Satz: „Jede hinreichend
fortgeschrittene Technologie ist von Magie ununterscheidbar.“
Das iPad wurde als „magisch“ lanciert. Laut dem Chefdesigner
von Apple, Jonathan Ive, sei die Aufgabe der Firma, harte, schwierige Probleme
zu lösen, ohne die Komplexität der Probleme erscheinen zu lassen.
Interface-Design ist „Magifizierung“. Man betrachte das Smartphone: ein glatter,
handlicher, undurchsichtiger Kleinmonolith. Mit einer leichten Berührung lässt
sich alles herbeizaubern. Aber Hand aufs Herz: Wem ist bewusst, welchen Ausbund
an technischer Raffinesse man mit ihm in den Händen hält? Die vertrackte
Mikro-Architektur winziger Schaltelemente; die ausgetüftelte physikalisch-chemische
Konstruktion des Touchscreens; die verborgenen, schnell getakteten
Befehlsketten, die eine leichte Berührung auslöst - Wunder über Wunder. Aber
eben auch: Tücke über Tücke.
***
Eine besondere Tücke liegt in einer magischen Vorstellung
von Technik, welche die Psychologen Frank Keil und Leonid Rozenblit „Illusion
der erklärenden Tiefe“ nennen: Man hält das Verwendenkönnen des Geräts für
dessen Verständnis. Jede „eingebürgerte“ Technologie tendiert zur Gewohnheit,
und damit zu einer solchen Illusion. Sie wiegt uns im falschen Glauben, das
Gerät zu kennen. Dabei haben wir uns einfach an es adaptiert. Leicht kann eine
solche Adaptation dazu führen, dass nicht wir das Gerät benutzen, sondern es
uns. Viele Technikkonsumenten bringen weder den Willen, die Zeit noch das
Vermögen für ein tieferes Verständnis der Geräte auf. Noch vor zwanzig Jahren sprach
man von der Transparenz des Computers in dem Sinne, dass man ihn bis zu seiner
Hardware auseinandernehmen konnte. Bald einmal aber bekam diese Transparenz
einen neuen, „oberflächlichen“ Sinn. Die amerikanische Psychologin Sherry Turkle
bemerkt zu diesem Bedeutungswandel: „Als die Benutzer des MacIntosh über dessen
Transparenz sprachen, (..) meinten (sie) eine Fähigkeit, die Geräte arbeiten zu
lassen, ohne die Notwendigkeit, unter die Oberfläche des Bildschirms zu gehen.
Heute hat das Wort ‚Transparenz‘ seine Macintosh-Bedeutung im Computer talk wie in der Umgangssprache
erhalten. ‚Etwas ist transparent‘ heisst in einer Simulationskultur ‚man sieht,
wie man es laufen lassen kann und nicht, wie es läuft‘“.
***
Die Illusion der erklärenden Tiefe kann sich schädlich
auswirken, indem sie die Vorstellung nährt, durch eine geeignete Technologie
löse sich ein bestimmtes Problem „von selbst“. Magie heisst nach der Definition
des Ethnologen Marcel Mauss: Kurzschluss zwischen Wunsch und Erfüllung; und
Techno-Magie heisst: Zwischen Wunsch und Erfüllung operiert der Tastendruck.
Man denke an gesellschaftlich hochrelevante Felder wie Finanzen, Energie,
Transport, Gesundheit, Bildung, Altersvorsorge – allesamt technisch stark
durchsetzte Systeme. Wer versteht sie eigentlich noch? „In einer durch das
Internet verbundenen Welt,“ so der Physiker und Computerwissenschafter Daniel
Hillis, „ist es fast unmöglich zu verfolgen, wie bestimmte Systeme tatsächlich
funktionieren (..) Ihre Flugroute kann von einem Computer oder einem Menschen
oder (was am wahrscheinlichsten ist) durch eine Kombination von beiden
ausgewählt werden. Machen Sie sich kein Mühe, diese Frage zu stellen, weil jede
Antwort (..) wahrscheinlich falsch ist.“ Das liegt nicht allein an unserer
Unfähigkeit, gewisse komplexe Phänomene zu erklären; vielmehr muss man die Unerklärbarkeit
quasi als „emergente“ Eigenschaft von Systemen betrachten, die einen
hinreichend komplexen Grad erreicht haben.
***
In der Illusion der erklärenden Tiefe erliegen wir einem
generellen Mythos: Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt machen die
Welt transparenter und kontrollierbarer. Das Gegenteil ist der Fall. Die
meisten von uns sind zu einem Umgang mit technischen Objekten ohne gründliches
Verständnis gezwungen. Magie liesse sich, so gesehen, geradezu neu definieren
als Ignoranzmanagement in hochtechnisierten Lebenswelten. Und man kann sich
deshalb fragen: Muss der Durchschnittsbürger wissen, wie und warum die ganze
Technologie um ihn herum funktioniert? Genügt es nicht, wenn er gegebenenfalls
Urteil und Rat des Experten einholt?
Genau das ist der Kernpunkt. Je geringer die Kenntnis eines
Gerätes, umso dringlicher die Notwendigkeit einer Meta-Kenntnis, nämlich im
heutigen Expertenbasar zu wissen, welchem Wissen wir vertrauen sollen und
welchem nicht, handle es sich nun um jenes des Finanzberaters, Arztes,
Autohändlers, Softwaredesigners, Lehrers oder Politikers. Diese Meta-Kompetenz
ist nicht so sehr eine spezifisch technische, als vielmehr eine soziale, und
das heisst auch: Selbsterkenntnis. Erinnern wir uns daran, dass die Kernfrage
Kants lautete „Wer bin ich?“ Aufklärung im hochtechnisierten Rahmen betrifft
nicht so sehr die Frage „Wie funktioniert das Gerät?“, sondern vielmehr „Wie
funktioniere ich mit dem Gerät?“ Unterlassen
wir diese Frage, koppeln wir uns wieder an jenes Gängelband, von dem Kant uns gerade
befreien wollte.
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Heute wird bekanntlich viel über den „neuen“ posthumanen
Menschen schwadroniert, der sich dank Technik auf ein nie dagewesenes
Entwicklungsniveau hangelt. Nüchtern betrachtet, nähern wir uns aber eher animistischen
früheren Kulturen, die wir doch überwunden zu haben glaubten. Dabei sind wir
magiegläubiger denn je. Statt unserem eigenen Verstand vertrauen wir mehr dem
„Verstand“ der Maschinen-Software, und in dieser Hinsicht gleichen wir dem
„Primitiven“, der seine Baum- und Wassergeister beschwört. Wahrscheinlich ist
dieser „Primitive“ uns darin sogar voraus, dass er seine Lebensbedingungen
ziemlich gut kennt und im Griff hat. Max Weber fragte seine Zuhörerschaft, ob
sie eine grössere Kenntnis ihrer Lebensbedingungen habe, „als ein Indianer oder
ein Hottentotte (..) Wie der Wilde es macht, um zu seiner täglichen Nahrung zu
kommen, und welche Institutionen ihm dabei dienen, das weiss er.“ Wogegen die
zunehmende Technisierung unserer Lebenswelten „nicht eine zunehmende allgemeine
Kenntnis der Lebensbedingungen (bedeutet), (..) sondern (..) etwas anderes:
(..) den Glauben daran: dass man alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen
beherrschen könne.“ Der Glaube an das „im Prinzip“ wohlgemerkt – er macht uns
zu Neo-Primitiven auf technisch avanciertestem Niveau.
***
„Die Götter müssen verrückt sein“ – so war ein Film aus dem
Jahre 1980 betitelt. Darin fällt eine aus dem Flugzeug über der Kalahari-Wüste
geworfene leere Cola-Flasche dem perplexen Stammeshäuptling Xi direkt vor die
Füsse. Sie stiftet einige Aufregung unter den Indigenen, die sich zu fragen
beginnen, woher dieses Objekt stammt, wie es funktioniert, wozu es gut ist. Die
Eingeborenen hielten die Cola-Flasche für ein Geschenk der Götter, das sie
nicht verstanden und nicht zu gebrauchen wussten. Deshalb beschlossen sie, die
Flasche den Göttern zurückzuerstatten. Wir Indigene technisierter Lebenswelten geben
die Geschenke nicht mehr an die Apple- oder Google-„Götter“ zurück, wir
benützen sie besinnungslos. Unterbelichtet. Unaufgeklärt.
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