NZZ, 4.3.2019
Eine Handvoll Symptome
Im Poker existiert der Ausdruck „Fake Think“. Der Spieler
zeigt durch Mimik und Gestik an, mit einer schwierigen Entscheidung zu ringen,
obwohl er sie schon getroffen hat. Es handelt sich um einen von vielen Tricks,
mit denen man sich einen Vorteil durch Vortäuschung von Denken zu verschaffen
sucht. Fake Think gibt es auch im – Denken. Denn im Gedankenwettbewerb gilt es
oft, Positionen zu gewinnen und zu bewahren, den Gegner zu übertölpeln oder zu beeindrucken,
Schwächen zu überspielen oder auf den andern abzuwälzen, kurz: auch im Denken
pokern wir.
Fake Think ist nicht identisch mit falschem Denken. Auch
entspringt es nicht unbedingt der Intention der Irreführung. Eher betrachtet
man es als einen Stil, der intellektuellen Distinktionsgewinn durch die Geste und
weniger durch die Substanz des Denkens sucht. Er erfreut sich einer
disproportionalen medialen Hochschätzung. Eine kritische Diagnose erscheint angezeigt.
Hier eine Auswahl von fünf Symptomen.
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Ein altbekanntes
und recht verlässliches Symptom lässt sich am Umgang mit Gegnern oder Gegenpositionen
erkennen. Statt des Gegners baut man einen leicht zu bekämpfenden Popanz auf. Man
spricht vom Strohmann-Argument. Am Aufbau der Popanz assistiert meist auch ein
anderes Symptom des Fake Think, das hier nur kursorisch erwähnt sei:
Rosinenpicken, die einseitige Auswahl von Bauteilen des Strohmanns.
In seinem Buch
„Aufklärung jetzt“ liefert der Psychologe Steven Pinker schönes Anschauungsmaterial.
Die Umweltbewegung despektiert er als „Grünismus“, und zu ihm rechnet er so
unterschiedliche Figuren wie Al Gore, Papst Franziskus und – den „Unabomber“
Ted Kaczynski. Autsch, wer möchte als Grüner schon in die Ecke des
Ökoterroristen gestellt werden? Den Erzbösewicht der Gegenaufklärung entdeckt Pinker
in Friedrich Nietzsche. Nicht nur sei er ein „herzloser, egoistischer,
grössenwahnsinniger Soziopath“ gewesen, sondern er habe auch zum „romantischen
Militarismus“ des Ersten Weltkriegs wesentlich beigetragen. Ohnehin sei er der
philosophische Kopf all der Sünden des 20. Jahrhunderts: des Faschismus, Nationalismus,
Populismus, Autoritarismus, Irrationalismus. Im Strohmann-Argument äussert sich
häufig auch die Inkompetenz, zu erkennen, dass man einen Strohmann aufgebaut
hat. So zeigt sich Pinker erstaunt, dass Nietzsche unter Intellektuellen bis
heute populär ist, wo doch das 20. Jahrhundert seine Gedanken definitiv in
Misskredit gebracht habe. Der einfache Grund dafür fällt ihm nicht ein: Im
Gegensatz zu ihm haben diese Intellektuellen Nietzsche seriös gelesen.
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Ein weiteres Symptom
ist der Analogienmissbrauch: Ein Erklärungsmodell wird von einem Gebiet, in dem
es erfolgreich ist, unkritisch auf andere Gebiete übertragen. Gegenwärtig
bietet sich der Algorithmus als Universal-Analogie an. Das Problem dabei ist,
dass sich die Bedeutung der Begriffe beim Analogie-Transfer oft substanziell
verändert. So zum Beispiel die Information. Ein biologisches System wie das
Gehirn verarbeitet Information anders als ein künstliches System wie der
Computer. Zwar kann man, so hat Alan Turing gezeigt, auf einer hochabstrakten
Ebene sehr viele Vorgänge analog zu den Operationen eines idealen Computers
beschreiben. Aber damit hat man noch kaum etwas auf konkreter Ebene erklärt.
Fake Think erweckt jedoch den Eindruck, im Besitz des Universalschlüssels zu
allen Phänomenen zu sein. Damit produziert man spektakuläre prognostische
Luftnummern. Den Vogel in dieser Trapezkunst schiesst der Grosshistoriker Yuval
Noah Harari in seinem Buch „Homo Deus“ ab: „Vielleicht lehnen Sie die
Vorstellung ab, dass Organismen Algorithmen sind und Giraffen, Tomaten und
Menschen nur unterschiedliche Methoden der Datenverarbeitung. Aber Sie sollten
wissen, dass das die gängige wissenschaftliche Lehre ist.“ Wie schreibt man
einen Bestseller? Bedien den Hariri-Algorithmus.
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Eine
beliebte Denkfigur des Fake Think lautet: Alles hängt (irgendwie) mit allem
zusammen. Das führt zum Symptom der Themenschwemme. Als Beispiel dafür stehen
die Bücher des Kulturphilosophen Byung-Chul Han im Regal. Von Pinker- und
Haririwälzern heben sie sich durch anmutige Schlankheit ab. Thematisch bersten
sie jedoch. Schlagen wir das Büchlein „Müdigkeitsgesellschaft“ (2010) auf. Es handelt
vorab nicht von Müdigkeit, sondern von Immunologie, Globalisierung, Fremdheit,
Disziplinierung, Depression, Langeweile, von der Potenz zum Tun und der Potenz
zum Nichtstun, von autistischer Leistungsmaschine und Arbeitsrenitenz, schliesslich
von Erschöpfung und – ja, von der Müdigkeit, die wir alle mehr oder weniger im
hyperaktiven Hamsterrad der Arbeitswelt spüren. Ein reizvolles Thema durchaus,
„irgendwie“ auch zum Denken anregend, nur fehlen diesem Denken quasi die Halt-
und Griffmöglichkeiten – wie wenn man kletterte, und sich ständig die Frage
stellen muss: Gibt es da überhaupt eine Wand? Fake Think geriert sich als
soziokulturelle Grossanalyse, aber die Themenschwemme verrät im Grunde nur
eins: analytische Dürre.
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Mit
der Themenschwemme korrespondiert das Schwelgen in Begriffskopulationen und
volatilen Assoziationen. Unerreichter Meister darin ist Peter Sloterdijk. In
seiner Sphären-Trilogie „Blasen“, „Globen“, „Schäume“ bietet er eine
Anthropologie des erlebbaren Raumes als „sphärologische“ Gesamtschau an, von
der Vertreibung aus der „Blase“ des Paradieses bis zum „Schaum“ des Internets.
Hören wir kurz hinein: „Das morphologische Leitbild der polysphärischen Welt,
die wir bewohnen, ist nicht länger die Kugel, sondern der Schaum (..) Die
aktuelle erdumspannende Vernetzung (..) bedeutet daher strukturell nicht so
sehr eine Globalisierung, sondern eine Verschäumung. In Schaum-Welten werden
die einzelnen Blasen nicht, wie im metaphysischen Weltgedanken, in eine
einzige, integrierende Hyper-Kugel hineingenommen, sondern zu unregelmässigen
Bergen zusammengezogen (..) In den Schaumwelten ist aber keine Blase zur
absolut zentrierten, allumfassenden, amphiskopischen Kugel erweiterbar; kein
Mittellicht durchdringt den Schaum insgesamt in seiner dynamischen Trübheit.“
Das
ist keine Parodie. Die Crux eines solchen philosophischen Schaumbads liegt
darin, dass es das Unklare und Ungestalte zum „amorphologischen“ Leitbild und
das „Verschäumen“ zum Stilprinzip erklärt. Aus der Physik kennen wir die
Dissipation, die Umwandlung von nutzbarer Energie in unnutzbare Wärme. Eine
Analogie drängt sich hier für Fake Think auf: denkerische Dissipation, das
Verpuffen von nutzbaren Begriffen in warme Luft.
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Verwandt damit ist
ein Verdünnungsprozess von Theoriefragmenten aus der Wissenschaft. Gern bedient
man sich bei der Quantentheorie, die vielerorts als Universaltheorie für alles Unverständliche
herhalten muss. Als Klassiker dieses Genres dürfte der
verstorbene Jean Baudrillard gelten. Unter Berufung auf Physik und Chaostheorie
versuchte er etwa zu zeigen, dass die Geschichte nicht nur kein Ende hat,
sondern auch quasi apokalyptisch endlos in sich dreht. Das tönt dann so:
„Selbst wenn es sich um das Jüngste Gericht handelt, werden wir unsere Bestimmung
nicht erreichen. Wir sind heute von unserer Bestimmung durch einen Hyperraum
mit variabler Brechung abgeschnitten. Man könnte die Rückwendung durchaus als
eine Turbulenz dieser Art interpretieren, die sich aus einer Beschleunigung von
Ereignissen ergibt, welche ihren Lauf umkehrt und ihre Bahn auslöscht. Das ist
eine Version der Chaostheorie, die Version der exponentiellen Instabilität.“ Für solchen theoretischen Dünnfluss ist
bereits ein Fachterminus im Umlauf: „Theorrhö“.
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Es geht hier nicht
um Personen, sondern um einen Denkstil. Wir alle erliegen ihm mal hier, mal
dort. Die Auswahl gepriesener Autoren als Beispiele für Fake Think ist
natürlich kein Zufall. Im gegenwärtigen Intellektuellen-Suk grassiert der Modus
des Sich-zur-Schau-stellens. Deshalb nimmt man am besten jene Celebrities ins
Visier, die ihr „Denken“ in grossem Bombast zelebrieren. – Gefragt ist
auf jeden Fall ein geschärftes Auge für des Kaisers neue Kleider.
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