NZZ, 11.1.2019
Worüber spricht die Quantentheorie
eigentlich?
Die moderne Quantenphysik ist ein einziges verstörendes
Paradox: Die bisher erfolgreichste Theorie der Materie, aber zugleich die
unverständlichste. Sie erklärt eine atemberaubende Phänomenbreite - von den
Prozessen zwischen Quarks bis zu Prozessen in weissen Zwergen und schwarzen
Löchern –, aber es gibt „Interpretationen“ der Quantentheorie, als ob es sich
um Lyrik handelte.
1926 war eine Art Annus mirabilis in der Geschichte der
Quanten. Erwin Schrödinger legte eine neue Formulierung vor, die er
„Wellenmechanik“ nannte. Darin führte er eine für das damalige Verständnis eher
obskure „Wellenfunktion“ ein, die als theoretisches Beschreibungsmittel für das
seltsame Zwitterverhalten von Materie und Licht auf atomarer Stufe dienen sollte:
Teilchen verhalten sich unter Umständen wellenförmig, und Lichtwellen unter
Umständen teilchenförmig. Schrödinger begriff seine Funktion durchaus in einem
realistischen Sinn: sie beschreibt ein reales Substrat - „Materiewellen“.
Zur gleichen Zeit entwickelten Werner Heisenberg, Max Born
und Pascual Jordan eine andere Version der Quantentheorie, die Matrizen als
mathematische Beschreibungsmittel benutzt. Heisenberg und vor allem Niels Bohr interpretierten
diese Version nicht-realistisch. Man spricht von der „Kopenhagener
Interpretation“. Nach ihr beschreibt die Physik, gemäss einem berühmten Diktum
von Bohr, nicht die Natur, sondern „nur“ das, was wir über die Natur sagen
können. Beide Versionen erwiesen sich als gleichwertige Beschreibungsmittel
quantenphysikalischer Prozesse. Aber über ihrer Interpretation entbrannte eine
metaphysische Debatte, die bis heute andauert.
***
Sie dreht sich um die Frage: Was beschreibt
die Physik eigentlich? Die landläufige Antwort ist einfach: Prozesse „der“
Natur. Aber was ist „die“ Natur? Sich auf die Tautologie „Das, was die Physik
beschreibt“ zurückzuziehen, mutet etwas billig an. Und selbstverständlich
können wir sagen: Die Natur, das sind „im Grunde“ die Elementarteilchen und
ihre Wechselwirkungen. Damit schieben wir aber „im Grunde“ das Problem nur vor
uns hin. Was sind Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen? Nun,
Manifestationen von Quantenfeldern. Was sind Quantenfelder? Nun, Fluktuationen
eines Ur-Vakuums. Was ist dieses Ur-Vakuum? Nun, ... Es sieht so aus, als suchten wir uns à la Münchhausen am Zopf
der Physik aus dem Fragensumpf zu ziehen, aber eigentlich bräuchten wir einen
metaphysischen Haken, der uns nach dem Aktions-Reaktions-Prinzip Halt böte.
Einstein erkannte das hellsichtig: „Die
wirkliche Schwierigkeit liegt in der Tatsache, dass Physik eine Art Metaphysik
ist; Physik beschreibt ‚Wirklichkeit’. Aber wir wissen nicht, was die
‚Wirklichkeit’ ist. Wir kennen sie nur durch die physikalische Beschreibung.“
Das klingt, als billigte Einstein die nicht-realistische Interpretation von
Bohr. Aber seine Bemerkung ist kritisch gemeint. Er legt damit den Finger exakt
auf die neuralgische Stelle: Die moderne Quantentheorie beschreibt etwas, aber
sie weiss nicht, was sie beschreibt. Einsteins Abneigung gegen die Bohrsche
Interpretation war metaphysisch: Ein Gott, der ein gesetzmässig geordnetes Universum
geschaffen hat, kann nicht zulassen, dass letztlich Ungewissheit und Zufall
regieren.
***
Das Kernstück der heutigen Quantentheorie ist Schrödingers
Wellen- oder Zustandsfunktion. Nach einem breiten Konsens unter
Physikern enthält sie die vollständige Information über das betreffende
Quantensystem. Sie beschreibt das Spektrum der möglichen Messwerte – etwa Position,
Energie, Spin eines Teilchens. Aber im Gegensatz zur klassischen Situation existiert
dieses Teilchen erst in einem eindeutigen realen Zustand, wenn wir es gemessen
haben.
Das stellt nun den Realismus des klassischen physikalischen Weltbilds
von den Füssen auf den Kopf. In diesem Weltbild existieren die physikalischen
Systeme unabhängig von den Messinstrumenten, und die Instrumente sind einfach
Informationslieferanten. John Archibald Wheeler, einer der phantasievollsten
Physiker des 20. Jahrhunderts, hat darin eine der grossen Fragen der modernen
Physik geortet. Ein reales physikalisches System bezeichnet er als „It“; die
Information in der Zustandsfunktion als „Bit“. Klassisch sagen wir: Da ist ein
Teilchen in einem bestimmten Zustand – ein It -, und wir messen an ihm
bestimmte Grössen: Bit from It. Quantentheoretisch sagen wir: Wir messen
bestimmte Grössen und schliessen daraus, dass sich da ein Teilchen in einem
bestimmten Zustand befindet: It from Bit. Ein Lichtpunkt auf dem Bildschirm,
ein elektrischer Puls, ein Klick im Detektor: das sind die Antworten des
Apparats, die informationellen Atome der Realität.
***
„It from Bit“ hat das Zeug zu einer konzeptuellen
Revolution. Die Formel dreht die Welt nicht mehr um die materiellen, sondern um
ihre informationellen Elemente. Warum ist die Welt quantisiert? „It from Bit“
gibt uns eine trivial-geniale Antwort: Weil unsere Fragen und Antworten
letztlich quantisiert sind, sich auf abzählbar viele binäre Entscheide
zurückführen lassen: Fliesst ein Strom oder nicht? Handelt es sich um die Spur
eines Antiprotons? Unter das Ja-oder-Nein-Niveau kommen wir nicht. Anton
Zeilinger, der Quanteninformatiker aus Wien, der heute Wheelers Idee im Labor
weiterführt, schreibt, dass „wir bewusst nicht mehr fragen, was ein elementares
System eigentlich ist. Sondern wir sprechen letztlich nur über Information. Ein
elementares System (..) ist nichts anderes als der Repräsentant dieser
Information, ein Konzept, das wir aufgrund der uns zur Verfügung stehenden
Information bilden.“ Zeilinger stellt sogar das radikale Postulat auf:
„Wirklichkeit und Information sind dasselbe.“ Man könnte vom Postulat des
informationellen Realismus sprechen. Am Anfang war das Bit. Und das Bit war bei
Gott?
***
Hier wird einem leicht blümerant zumute. Wie schafft man denn
eine Welt aus Information? Es stimmt ja durchaus, dass Experimentatoren nicht
Elektronen oder Photonen „beobachten“, sondern an Apparaten bestimmte Daten
ablesen. Und zweifellos lassen sich solche Daten – zum Beispiel Punkte auf
einem Bildschirm - in Bits übersetzen. Freilich,
was wären Bits ohne Its – ohne irgendwelche materiellen Träger? Es gibt
doch immer Bits-plus-Its. Wenn wir die Punkte auf dem Bildschirm als die
„letzten“ immateriellen Informationsatome interpretieren, machen wir die
Rechnung buchstäblich ohne die ganze materielle Welt des experimentellen Arrangements,
das an der Entstehung der Punkte beteiligt ist. „It from Bit“ in einem
radikalen Sinn verstanden, würde eine Rückbesinnung auf die Grundprinzipien der
Quantentheorie bedeuten: Als was wollen wir sie verstehen, als eine Theorie der
Materie oder eine Theorie der Information?
Schauen wir ein Zuckerstück an. Statt zu sagen, es bestehe
aus einer Riesenzahl von Kohlenstoff-, Sauerstoff- und Wasserstoffatomen,
könnten wir gemäss Wheeler auch sagen, diese Atome und ihre Zustände seien
durch Ja-oder-Nein-Fragen bestimmt. Gewiss, die Zahl derartiger binärer Fragen erreicht
astronomische Höhen, aber bei „It from Bit“ geht es um die konzeptuelle
Möglichkeit der Übersetzung eines Aggregats von materiellen Atomen in ein
Aggregat von immateriellen Atomen. Die Welt der klassischen Physik ist die Welt
der Körper, wie wir sie auch im Alltag erfahren: Ein Zuckerstück ist ein
Zuckerstück ist ein Zuckerstück. Die Quantenphysik hat dieses Stück so sehr von
seiner Materialität „gereinigt“, dass sie in ihm nur noch eine ungeheuer lange
Kette von Bits sieht. Hat sie sich hier womöglich verrannt? Woraus besteht die
Welt, aus Quanten, Feldern, Energie, Information, einem mysteriösen letzten kosmischen
Substrat? Vielleicht fragen wir falsch. Vielleicht gibt es keine Endantwort –
oder sagen wir genauer: keine physikalische Endantwort. Kurz vor seinem Tod
1954 schrieb Einstein in einem Brief an David Bohm: „Falls Gott die Welt
erschaffen hat, dann war sein erstes Anliegen sicher nicht, ihr Verständnis
leicht für uns zu machen.“
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