Donnerstag, 13. Dezember 2018

Die 68er-Brise in Technik und Naturwissenschaften








NZZ, 10.12.2018

Aufklärung, jetzt richtig verstanden

Bekanntlich entstieg der „Geist von 68“ primär sozial- und geisteswissenschaftlichen Gründen. Im Zentrum stand dabei der Begriff aus einem der einflussreichsten Bücher – schon fast einer Devotionalie – der Zeit: Dialektik der Aufklärung, geschrieben 1947 von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, den Nestoren der Frankfurter Schule. Sie visierten eine kritische Theorie der Gesellschaft an, das ambitiöse Projekt einer zweiten Aufklärung.

Der erste Aufklärer Kant nahm Mass an einem Unternehmen der Vernunft, das zu seiner Zeit als das erfolgreichste galt: an der Physik Newtons. Nicht so die Kritik der Frankfurter Schule. Während für Kant die Naturwissenschaften uns vom Gängelband der Religion befreiten, sahen nun Horkheimer und Adorno im naturwissenschaftlichen Denken eine neue selbstverschuldete Unmündigkeit sich anbahnen. Technik und Wissenschaft – so die Kernthese -, verdinglichen den Menschen, sie richten ihn ab zur berechenbaren Variablen in Labor, Fabrik, Krieg, Sportarena, Supermarkt: „Aufklärung ist totalitär.“

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Dieses Urteil ist – bei aller partiellen Triftigkeit – kolossal pauschal. Es unterschlägt eine viel wichtigere Kritik aus dem Innern der Naturwissenschaften. Ich nenne sie die 68er-Brise, welche, generell gesagt, eine Auflösung oder Aufweichung von Grenzen herbeiführte und das naturwissenschaftliche Selbstverständnis umkrempelte. Es lohnt sich, nach fünfzig Jahren einen Blick auf einige dieser Grenzauflösungen zu werfen.

Zuerst die Grenze zwischen Altem und Neuem. Die Naturwissenschaften pflegen traditionell eine ahistorische Siegergeschichtsschreibung. Das heisst, Erkenntnisse sind Siege des Neuen über das Alte, der Gang der Erkenntnis wird zelebriert als Überwindung von Unwissenheit und geistiger Umnachtung, als Annäherung an ein „letztes“ objektives Weltverständnis. Ein Buch revolutionierte diese Sicht, geschrieben vom Physiker und Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn. Es trägt bezeichnenderweise den Titel „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (1962). Der daraus stammende Begriff des Paradigmenwechsels ist im öffentlichen Gebrauch zu warmer Luft dissipiert. In seinem Kerngehalt besagt der Begriff, dass auch die Naturwissenschaften nicht einfach einen neutralen Blick von nirgendwo auf die Welt werfen, sondern diesen Blick von einer dominanten Theorie bestimmen lassen, die eine Zeitlang das ganze Denken und Problemlösen eines Forscherkollektivs „voreinnimmt“. So kann man nicht sagen, dass die mittelalterliche Astronomie falsch und die neuzeitliche richtig sei, sondern dass das Paradigma einer neuen Forschergemeinschaft an die Stelle des alten getreten sei. Ein Paradigmenwechsel ist ein fundamentaler Blickwechsel auf die Welt.

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Wirklich brisant an einer solchen Sicht war (und ist), dass sie die Erkenntnistheorie „politisch“ auflud. „Wie bei politischen Revolutionen gibt es auch bei der Wahl eines Paradigmas keine höhere Norm als die Billigung durch die jeweilige Gemeinschaft,“ schreibt Kuhn. Damit leugnet er eine universelle Bürginstanz – eine „höhere Norm“ - der Wahrheit selbst in den Naturwissenschaften. 1979 erschienen zwei Bücher von Philosophen, welche die Gedanken Kuhns aus den Naturwissenschaften zu einer allgemeinen Erkenntniskritik ausweiteten: Richard Rortys „Der Spiegel der Natur“ und Jean-François Lyotards „Postmodernes Wissen“. Rorty brach mit dem Mythos, dass man naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf einen absoluten Felsengrund von rohen Fakten gründen könne. Lyotard brach mit dem Mythos, dass der Fortschritt der Naturwissenschaften die einzige „Grosserzählung“ der Neuzeit sei. Beide Bücher wirkten als Epizentrum eines philosophischen Erdbebens.

Und damit war eine andere Grenzaufweichung schon vorbereitet, nämlich zwischen Faktum und Interpretation. Entgegen einer heute vorherrschenden Vulgärauffassung bedeutet diese Grenzaufweichung nicht, dass uns die Naturwissenschaften „bloss“ Interpretationen liefern, sondern dass hier eine Vielfalt mehr oder weniger robuster Formen der Faktengenerierung existiert. Ohnehin viel wichtiger ist die Auflösung der Grenze zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. Die heutigen Lebensformen lassen sich weniger denn je einfach „von der Natur her“ oder „von der Gesellschaft her“ betrachten. Vielmehr konstatieren wir eine wachsende Verflechtung von natürlichen und soziokulturellen Faktoren. Nahezu alles erweist sich als ein „Hybrid“ aus Natur und Gesellschaft, mit dem Begriff des französischen Wissenschaftsforschers Bruno Latour gesprochen.

In diesem Geist wurde in Starnberg 1970 das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt gegründet. Die grenzüberwindende Intention zeigte sich allein schon an der Institutsleitung: eine Eminenz der Naturwissenschaften - Carl Friedrich von Weizsäcker – und eine Eminenz der Sozialwissenschaften - Jürgen Habermas. Das Institut überdauerte zwar nur etwas mehr als ein Jahrzehnt, aber wir verdanken ihm eine Reihe von wertvollen Studien und Denkanstössen über die historische und sozio­kulturelle Bedingtheit naturwissenschaftlicher Forschung. Als besonderer „Starnberger“ sei hier der Physiker und Philosoph Gernot Böhme erwähnt. Er verfolgt das Projekt einer kritischen Theorie der Natur, das heisst einer Ökologie, welche das Naturverhältnis immer schon vom historisch-kontingenten Gefüge Mensch-Technik-Umwelt her begreift.

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Denn sagt man heute Kultur oder Gesellschaft, meint man immer auch Technik. Sie imprägniert unseren Alltag. Und dies impliziert die wohl virulenteste Grenzauflösung, jene zwischen Mittel und Zweck. Mit dem Zweck verknüpfen wir die menschliche Vernunft, mit dem Mittel die Technik. Wenn die Technik nun selber in künstlich intelligenten Systemen „vernünftig“ zu werden scheint, dann wird die Unterscheidung tendenziell obsolet. Das deutet Horkheimers kritischer Begriff der instrumentellen Vernunft an. Die menschliche Vernunft adaptiert sich heute an die algorithmisch getakteten Prozeduren der Geräte, sie ordnet sich ein in die übergreifende Gattung „intelligente automatische Systeme“. In diesem Sinn ist Informatik die klarste Ausprägung instrumenteller Vernunft. In seinem Buch „Die Macht des Computers und die Ohnmacht der Vernunft“ (1976) weitete Joseph Weizenbaum Horkheimers These auf die Computertechnologie aus: Wer oder was ist in der Mensch-Technik-Symbiose Zweck, wer oder was ist Mittel? Die Zweck-Mittel-Vermischung wirkt unbemerkt als Entmündigung im vernunftlosen Technikgebrauch. Unmündig ist ein Zustand, sagt Kant, in dem ein Seelsorger den Ort unseres Gewissens einnimmt oder ein Arzt für uns entscheidet, was unsere Diät zu sein hat. Genau dies ist der Zustand vieler Techniknutzer, die ihre Entscheidungen an das „Urteil“ einer App delegieren.

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Der positivistische Geist – den die 68er-Brise wegwehte – scheint zurzeit Wiederauferstehung zu feiern, nunmehr in einer datenversessenen Version, wie sie Steven Pinker im neuen Buch „Aufklärung jetzt“ predigt. Sein Getting-Better-Pauschalismus bildet sozusagen den Gegenpol zum sinistren Fresko der „Dialektik der Aufklärung“. Beide sind entbehrlich. Ziehen wir stattdessen die wichtigste Lektion aus der 68er-Brise: „Die“ Aufklärung gibt es nicht. Es gibt viele Aufklärungen. Es gibt, anders gesagt, viele Formen der Entmündigung. Die europäische Aufklärung war bestenfalls eine Schrittmacherin; weitere und eigene Schritte müssen nun andere tun, zeitadaptiert, in den USA, in Russland, in der Türkei, in Afrika, in China, in Südamerika. Ob diese Schritte konvergieren, wissen wir nicht. Aber sie sind notwendig, wollen wir den aufrechten Gang ohne Gängelbänder weiter pflegen. „Allez en avant, et la foi vous viendra“, forderte der grosse Mathematiker des 18. Jahrhunderts Jean d’Alembert die Skeptiker seiner Infinitesimalrechnung auf: Geht vorwärts, und die Überzeugung folgt nach. Das gilt generell für das aufklärerische Gedankengut. Und so gesehen, hat 1968 noch gar nicht begonnen.

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