NZZ, 10.12.2018
Aufklärung, jetzt richtig verstanden
Bekanntlich
entstieg der „Geist von 68“ primär sozial- und geisteswissenschaftlichen
Gründen. Im Zentrum stand dabei der Begriff aus einem der einflussreichsten
Bücher – schon fast einer Devotionalie – der Zeit: Dialektik der Aufklärung,
geschrieben 1947 von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, den Nestoren der
Frankfurter Schule. Sie visierten eine kritische Theorie der Gesellschaft an, das
ambitiöse Projekt einer zweiten Aufklärung.
Der erste
Aufklärer Kant nahm Mass an einem Unternehmen der Vernunft, das zu seiner Zeit
als das erfolgreichste galt: an der Physik Newtons. Nicht so die Kritik der
Frankfurter Schule. Während für Kant die Naturwissenschaften uns vom Gängelband
der Religion befreiten, sahen nun Horkheimer und Adorno im naturwissenschaftlichen
Denken eine neue selbstverschuldete Unmündigkeit sich anbahnen. Technik und Wissenschaft
– so die Kernthese -, verdinglichen den Menschen, sie richten ihn ab zur berechenbaren
Variablen in Labor, Fabrik, Krieg, Sportarena, Supermarkt: „Aufklärung ist totalitär.“
***
Dieses Urteil ist –
bei aller partiellen Triftigkeit – kolossal pauschal. Es unterschlägt eine viel
wichtigere Kritik aus dem Innern der Naturwissenschaften. Ich nenne sie die
68er-Brise, welche, generell gesagt, eine Auflösung oder Aufweichung von
Grenzen herbeiführte und das naturwissenschaftliche Selbstverständnis
umkrempelte. Es lohnt sich, nach fünfzig Jahren einen Blick auf einige dieser
Grenzauflösungen zu werfen.
Zuerst die
Grenze zwischen Altem und Neuem. Die Naturwissenschaften pflegen traditionell
eine ahistorische Siegergeschichtsschreibung. Das heisst, Erkenntnisse sind
Siege des Neuen über das Alte, der Gang der Erkenntnis wird zelebriert als
Überwindung von Unwissenheit und geistiger Umnachtung, als Annäherung an ein
„letztes“ objektives Weltverständnis. Ein Buch revolutionierte diese Sicht,
geschrieben vom Physiker und Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn. Es trägt bezeichnenderweise
den Titel „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (1962). Der daraus
stammende Begriff des Paradigmenwechsels ist im öffentlichen Gebrauch zu warmer
Luft dissipiert. In seinem Kerngehalt besagt der Begriff, dass auch die
Naturwissenschaften nicht einfach einen neutralen Blick von nirgendwo auf die
Welt werfen, sondern diesen Blick von einer dominanten Theorie bestimmen
lassen, die eine Zeitlang das ganze Denken und Problemlösen eines
Forscherkollektivs „voreinnimmt“. So kann man nicht sagen, dass die
mittelalterliche Astronomie falsch und die neuzeitliche richtig sei, sondern dass
das Paradigma einer neuen Forschergemeinschaft an die Stelle des alten getreten
sei. Ein Paradigmenwechsel ist ein fundamentaler Blickwechsel auf die Welt.
***
Wirklich brisant an einer solchen Sicht war (und ist), dass sie die
Erkenntnistheorie „politisch“ auflud. „Wie bei politischen Revolutionen gibt es
auch bei der Wahl eines Paradigmas keine höhere Norm als die Billigung durch
die jeweilige Gemeinschaft,“ schreibt Kuhn. Damit leugnet er eine universelle
Bürginstanz – eine „höhere Norm“ - der Wahrheit selbst in den Naturwissenschaften.
1979 erschienen zwei Bücher von Philosophen, welche die Gedanken Kuhns aus den Naturwissenschaften
zu einer allgemeinen Erkenntniskritik ausweiteten: Richard Rortys „Der Spiegel
der Natur“ und Jean-François Lyotards „Postmodernes Wissen“. Rorty brach mit
dem Mythos, dass man naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf einen absoluten
Felsengrund von rohen Fakten gründen könne. Lyotard brach mit dem Mythos, dass
der Fortschritt der Naturwissenschaften die einzige „Grosserzählung“ der
Neuzeit sei. Beide Bücher wirkten als Epizentrum eines philosophischen Erdbebens.
Und damit war eine andere Grenzaufweichung schon vorbereitet,
nämlich zwischen Faktum und Interpretation. Entgegen
einer heute vorherrschenden Vulgärauffassung bedeutet diese Grenzaufweichung nicht,
dass uns die Naturwissenschaften „bloss“ Interpretationen liefern, sondern dass
hier eine Vielfalt mehr oder weniger robuster Formen der Faktengenerierung
existiert. Ohnehin viel wichtiger ist die Auflösung der Grenze zwischen Natur-
und Kulturwissenschaften. Die heutigen Lebensformen lassen sich weniger denn je
einfach „von der Natur her“ oder „von der Gesellschaft her“ betrachten.
Vielmehr konstatieren wir eine wachsende Verflechtung von natürlichen und
soziokulturellen Faktoren. Nahezu alles erweist sich als ein „Hybrid“ aus Natur
und Gesellschaft, mit dem Begriff des französischen Wissenschaftsforschers
Bruno Latour gesprochen.
In
diesem Geist wurde in Starnberg 1970 das Max-Planck-Institut zur Erforschung
der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt gegründet. Die
grenzüberwindende Intention zeigte sich allein schon an der Institutsleitung:
eine Eminenz der Naturwissenschaften - Carl Friedrich von Weizsäcker – und eine
Eminenz der Sozialwissenschaften - Jürgen Habermas. Das Institut überdauerte
zwar nur etwas mehr als ein Jahrzehnt, aber wir verdanken ihm eine Reihe von
wertvollen Studien und Denkanstössen über die historische und soziokulturelle
Bedingtheit naturwissenschaftlicher Forschung. Als besonderer „Starnberger“ sei
hier der Physiker und Philosoph Gernot Böhme erwähnt. Er verfolgt das Projekt
einer kritischen Theorie der Natur, das heisst einer Ökologie, welche das
Naturverhältnis immer schon vom historisch-kontingenten Gefüge
Mensch-Technik-Umwelt her begreift.
***
Denn sagt man heute
Kultur oder Gesellschaft, meint man immer auch Technik. Sie imprägniert unseren
Alltag. Und dies impliziert die wohl virulenteste Grenzauflösung, jene zwischen
Mittel und Zweck. Mit dem Zweck verknüpfen wir die menschliche Vernunft, mit
dem Mittel die Technik. Wenn die Technik nun selber in künstlich intelligenten
Systemen „vernünftig“ zu werden scheint, dann wird die Unterscheidung
tendenziell obsolet. Das deutet Horkheimers kritischer Begriff der
instrumentellen Vernunft an. Die menschliche Vernunft adaptiert sich heute an
die algorithmisch getakteten Prozeduren der Geräte, sie ordnet sich ein in die
übergreifende Gattung „intelligente automatische Systeme“. In diesem Sinn ist
Informatik die klarste Ausprägung instrumenteller Vernunft. In seinem Buch „Die
Macht des Computers und die Ohnmacht der Vernunft“ (1976) weitete Joseph
Weizenbaum Horkheimers These auf die Computertechnologie aus: Wer oder was ist
in der Mensch-Technik-Symbiose Zweck, wer oder was ist Mittel? Die Zweck-Mittel-Vermischung
wirkt unbemerkt als Entmündigung im vernunftlosen Technikgebrauch. Unmündig ist
ein Zustand, sagt Kant, in dem ein
Seelsorger den Ort unseres Gewissens einnimmt oder ein Arzt
für uns entscheidet, was unsere Diät zu sein hat. Genau dies
ist der Zustand vieler Techniknutzer, die ihre Entscheidungen an das „Urteil“ einer App delegieren.
***
Der positivistische
Geist – den die 68er-Brise wegwehte – scheint zurzeit Wiederauferstehung zu
feiern, nunmehr in einer datenversessenen Version, wie sie Steven Pinker im
neuen Buch „Aufklärung jetzt“ predigt. Sein Getting-Better-Pauschalismus bildet
sozusagen den Gegenpol zum sinistren Fresko der „Dialektik der Aufklärung“. Beide
sind entbehrlich. Ziehen wir stattdessen die wichtigste Lektion aus der 68er-Brise:
„Die“ Aufklärung gibt es nicht. Es gibt viele Aufklärungen. Es gibt, anders
gesagt, viele Formen der Entmündigung. Die europäische Aufklärung war bestenfalls
eine Schrittmacherin; weitere und eigene Schritte müssen nun andere tun, zeitadaptiert,
in den USA, in Russland, in der Türkei, in Afrika, in China, in Südamerika. Ob diese
Schritte konvergieren, wissen wir nicht. Aber sie sind notwendig, wollen wir
den aufrechten Gang ohne Gängelbänder weiter pflegen. „Allez en avant, et la foi vous
viendra“, forderte der grosse Mathematiker des 18. Jahrhunderts Jean d’Alembert
die Skeptiker seiner Infinitesimalrechnung auf: Geht vorwärts, und die
Überzeugung folgt nach. Das gilt generell für das aufklärerische Gedankengut. Und
so gesehen, hat 1968
noch gar nicht begonnen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen