Donnerstag, 25. Oktober 2018

Geistiger Ekel






 NZZ, 8.10.2018

Ekeln tun wir uns alle, und zwar vor vielem. Vor Auswurf, Blut, Würmern, Käfern, altem Camembert, fauligem Fisch, langen Bärten, ungewaschenen Unterhosen; es gibt Menschen, die sich vor den eigenen Füssen ekeln, vor Holzstielen, Knöpfen, Löchern oder vor der Schreibmaschine (Max Frisch). Die Psychologen Paul Rozin und Jonathan Haidt weisen in ihren kulturvergleichenden Studien über den Ekel auf die vorsprachlich erworbenen Muster, auf die „verkörperten Schemata“ (embodied schemata) hin, mit denen wir uns gegen moralisch Verwerfliches wenden. Das Ekelgefühl beginnt in der Regel bei Physischem – Essen oder Tieren -  und weitet sich aus auf das Soziale und Moralische – auf Haltungen und Verhalten. Obwohl sie stark kulturell überformt sind, weist das universelle Vorkommen solcher Reaktionen auf eine gemeinsame menschliche Wurzel hin.

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Gibt es geistigen Ekel? Können Gedanken widerlich sein? Kein Geringerer als Immanuel Kant lässt sich hier zurate ziehen. Ihm zufolge kann man nicht nur Materielles, sondern auch Immaterielles, also Gedanken, geniessen. Wenn es aber Gedankengenuss gibt, dann auch Gedankenekel. Kant schreibt, „dass es auch einen Geistesgenuss giebt, der in der Mitteilung der Gedanken besteht, das Gemüth aber diesen, wenn er uns aufgedrungen wird und doch als Geistes-Nahrung für uns nicht gedeihlich ist, widerlich findet (...), so wird der Instinct der Natur, seiner los zu werden, der Analogie wegen gleichfalls Ekel genannt, obgleich er zum inneren Sinn gehört.“

Das charakterisiert geistigen Ekel recht treffend, und erweist sich als höchst aktuell obendrein. Man halte sich nur für einen Moment vor Augen, mit welch einem Unflat an Informationen uns die traditionellen und neuen Medien täglich zudecken. Ohnehin herrscht in manchen Feuchtbiotopen der Social Media eine Latrinensprache vor. Da wird „angekotzt“, „angerotzt“, „angeschissen“, „angepisst“. Muss man hier nicht eine innere Abwehr mobilisieren, die dem Ekel ähnelt?

Philosophie- und Literaturgeschichte kennen den geistigen Ekel durchaus, etwa Nietzsches Ekel vor dem lebensverneinenden Christentum, Heideggers Abscheu vor dem uneigentlichen Leben im „Man“, Sartres Ekel vor der Absurdität der blossen Existenz, Kafkas Ekel vor sich selbst, neuerdings Houellebecqs kokett-versifften oder Strauss’ elegisch-preziösen Postmodernitätsekel. Immer noch am erhellendsten ist aber eine Arbeit des fast völlig in Vergessenheit geratenen Philosophen Aurel Kolnai, mit dem Titel „Ekel, Hochmut, Hass“ (1927). Sie stellt eine Typologie des Ekels auf, aus der ich kurz drei Beispiele nennen möchte.

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Erstens der Überdrussekel. Das „Unlustgefühl, das durch eine lästige Gleichförmigkeit erweckt wird, (kann) ekelähnliche Färbung annehmen (..) Der Überdruss im engeren Sinne tritt nur ein, wenn jenes immerwährende Erlebnis ursprünglich (..) lustbetont war. Nicht so sehr der Gegenstand als die Lust an ihm selbst wird ekelhaft.“ Zum Beispiel der übermässige Genuss von Schokolade. Wie Kolnai konstatiert: „Gastronomisch ekelhaft können vor allem (..) Süssigkeiten (..) werden, da gerade Süss den Grundton eines sozusagen widerspruchslosen, ungebrochenen, grenzen- und gestaltlosen, ‚faden’ Wohlgeschmacks bilden.“

Kennen wir diesen „faden Wohlgeschmack“ nicht zur Genüge vom klebrigen Schoko-Guss her, mit dem Politiker und andere öffentliche Figuren oft ihre Statements vor Mikrophon und Kamera überziehen? Die adäquateste Reaktion darauf wäre oft: Bäh! - Oder denken wir an die Verheissungen technisch hergestellter Paradiese. Mark Zuckerberg zum Beispiel wird in seinen puerilen Prophetien nicht müde, die „Global Community“ von Facebook in den brechreizendsten Tönen zu beschwören. Dabei mischt sich in diese aufdringliche Übersüssung ein unangenehmer, ein ekliger Nebengeschmack, wenn man sich die tribalisierenden Tendenzen von gleichgesinnten Followers vor Augen hält, die im Gedankensud ihrer eigenen Weltanschauung köcheln und ihren übelriechenden Filterblasen kaum noch entfliehen.

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Zweitens der Ekel vor Schwulst. Schon die Etymologie des Wortes suggeriert das Schwellen, Quellen, Blähen, Ballen, also: die geistige Flatulenz, die nicht selten streng riecht. Kolnai nennt sie „Geistigkeit am falschen Orte“. Das erinnert natürlich sofort an den Schmutz: Materie am falschen Ort. Und die Parallele von Schwulst und Schmutz lässt auch das Ekeln plausibel erscheinen, die Reaktion gegen einen „ungerichteten ‚Gedankenreichtum’, den man besser die Geilheit des Geistes nennen würde (..) Oder nennen wir es so: Geistigkeit, Geistreichheit ohne Härte und Rückgrat (..) Mit einem Wort: wo das Flackern und Qualmen des Geistes die intentionale Beziehung, das schlichte Sagenwollen verdunkelt und erstickt.“ Wem kämen hier nicht spontan gewisse Meisterdenker unserer Zeit in den Sinn? „Das Streben nach Erleuchtung bringt naturgemäss die völlige Verdunkelung,“ verkündet uns der Philosoph Sloterdijk. Er muss es wissen.

Von hier aus ist es drittens nicht mehr weit zum Ekel vor Verlogenheit. „Verlogenheit ist weder ein blosses ‚Vorkommen’ von Lügen bei einem Menschen; noch weniger ein Hang zur Selbsttäuschung oder pathologisches Lügenreden, sondern eine innere Gleichgültigkeit gegen Wahr und Unwahr, kraft welcher man wohl auch sich selber belügt, mit sich selber nicht ins Reine zu kommen müht, aber auch, bei Vorhandensein irgendeines inhaltlichen Motivs, ohne jede innere Erschütterung bewusst Falsches aussagt. Was der Lüge die Note des Ekelhaften einträgt, ist zunächst ihre gleichsam wurm- oder schlangenartige, versteckte Agressivität.“ Gibt es eine trefflichere Beschreibung von Fake News, vor nahezu einem Jahrhundert?

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Helfen saubere Gedanken gegen eklige? Das hiesse, den Teufel mit Beelezebub austreiben. Reinheit ist ähnlich schwer belastet wie Ekel. Reinheit, so schrieb die britische Anthropologin Mary Douglas, ist primär keine Kategorie der Hygiene, sondern des kulturellen Schutzes. Mit Unreinheit und Schmutz verbindet schon der Primitive das, was eine Ordnung gefährdet oder was nicht eindeutig ist. Schmutz ist relativ. Sauce an den Spaghettis ist in Ordnung, auf meinem Hemd fehl am Platz.

Reinheit bedeutet eine Ausgrenzung dessen, was in meinem Weltbild keinen Platz hat - und es deshalb besudelt. Dieses Besudelnde kann ein Mensch sein: Jude, Türke, Migrant, Schwuler, Arbeitsloser, Frau. Und wie wir wissen, kann die oder der Ausgegrenzte in extremis nicht nur fehl am Platz, sondern nichts wert sein. Hier wird die Lage ernst. Wir sind von einem Reinheits- und korrelativ dazu von einem Putzgedanken besessen. Je „reiner“, sprich: radikaler oder fundamentalistischer ein Gedankengut, desto eher wird es Abweichungen mit Ekel begegnen.

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Mit geistigem Ekel bekämpft man „widerliche“ Ideen nicht, man stärkt sie. Ernstzunehmen ist der Ekel allerdings als das Zivilität zersetzende Gefühl schlechthin. Man höre sich um: Die Sprache des Abscheus greift Platz. Ein Wortführer der Neuen Rechten, Götz Kubitschek, spricht von der „denkfaulen und phrasigen Lässigkeit“ der etablierten Politik: „Es gibt einen durchaus verbreiteten intellektuellen Ekel vor dem allzu unbemühten Denken.“ „Disgusting“ ist ein favorisiertes Schimpfwort des amtierenden US-Präsidenten. Zur Verteufelung des Andersdenkenden gesellt sich der Ekel. Der Andere könnte einen ja anstecken. „Mysophobie“ nennen die Psychologen diese Zwangsstörung. Mysophobe Menschen „haben ein ausgeprägtes Moralverständnis, sind sensibel und leicht kränkbar und neigen dazu, sich schnell zu ekeln“, schreibt die klinische Psychologin Claudia Carraresi.

Richtig agressiv wird geistiger Ekel in Allianz mit der Verachtung. Verachtung des Individuums und seiner Rechte, des rationalen Gesprächs, der Minderheit, der verbindlichen Normen und Gesetze. Das Übelste aber ist die entmenschlichende Tendenz. Wir kennen sie vom „Ungeziefer“-Vokabular der Nazis her. Beglückwünschen wir uns nur ja nicht, dieses gruselige Unmenschentum überwunden zu haben. Wir stehen auf der rutschigen Schwelle zu einem neuen Stadium.


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