NZZ.5.10.2018
Über den Chauvinismus der
menschlichen Intelligenz
1950 war in den USA ein besonderes UFO-Jahr. In den Medien
häuften sich die Nachrichten über unbekannte Flugobjekte, und auf dem Höhepunkt
der Hysterie berichteten New Yorker Zeitungen über das rätselhafte Verschwinden
städtischer Abfallkübel. Eine Karikatur im „New Yorker“ zeigte, wie diebische
Aliens zuhause aus ihrem Raumschiff steigen, jeder mit einem oder zwei Mülleimern.
Verwendungszweck unbekannt.
Das Spekulationsfieber erfasste auch Wissenschaftler wie den
berühmten Physiker Enrico Fermi. Die folgende Anekdote wird erzählt. Fermi sass
mit einigen andern Physikern beim Mittagessen in Los Alamos. Thema waren die
UFOs. Man machte sich lustig über die allgemeine Aufgeregtheit, als Fermi die
Gesprächsrunde mit der berühmt gewordenen Frage überraschte: Aber wo sind sie
denn alle? Sie ist als Fermi-Paradoxon in die rezente Wissenschaftsgeschichte
eingegangen.
***
Fermi besass die legendäre Begabung, aus dem Handgelenk
schnelle Berechnungen und Abschätzungen anzustellen. Sein Argument lässt sich
in sechs Schritten wiedergeben:
1. Unsere
Galaxie enthält Milliarden von sonnenähnlichen Sternen.
2. Es ist
höchst wahrscheinlich, dass in solchen Sternsystemen erdähnliche Planeten vorkommen.
3. Wenn
wir annehmen, dass die Erde keine kosmische Sonderstellung hat, dann sollte auf
anderen Planeten Leben, sogar intelligentes Leben entstehen können.
4. Einige
dieser intelligenten Lebensformen könnten avancierte Raumfahrttechnologien entwickeln,
die sogar interstellare Reisen ermöglichen.
5. Interstellarer
Verkehr benötigt viel Zeit. Aber da es viele sonnenartige Sterne gibt, die um
Milliarden Jahre älter sind als unsere Sonne, steht für derartigen Verkehr eine
Menge Zeit zur Verfügung.
6. Unter
diesen Voraussetzungen könnten durchaus einmal sternenfahrende ausserirdische
Spezies unseren Planeten besucht haben. Aber wo sind sie denn alle?
***
Wir sollten solche Gedankenspiele nicht als puren
Zahlenkalkül unterschätzen. Sie enthalten oft wichtige Ideenkeime. Tatsächlich
wurde Fermis Frage 2001 empirisch angereichert, als der australische Astrophysiker
Charles Lineweaver eine genauere Abschätzung der Altersverteilung erdähnlicher
Planeten in unserer Galaxie durchführte. Seinen Berechnungen zufolge sind solche
Planeten im Mittel ca. 6.4 Milliarden Jahre alt, also deutlich älter als die
Erde (4.6 Milliarden). Gesetzt also die Annahme, dass andere Intelligenzen sich
auf anderen Planeten in einer anderen Biosphäre zu einer anderen Art von technischer
Zivilisation entwickelt haben, könnten solche Zivilisationen wesentlich älter
sein als die irdische. Und sie könnten andere Zonen der Galaxie kolonisiert
haben.
Das Fermi-Paradoxon verschärft sich zudem im Lichte neuer Evidenz
auf der Erde. Geochemische und paläobiologische Befunde lassen vermuten, dass
die ältesten irdischen Lebensspuren mindestens 3.8 Milliarden, vielleicht sogar
über 4 Milliarden alt sind. Die Erde ist, wie gesagt, etwa 4.6 Milliarden alt.
Die Entstehung des Lebens via Abiogenese – durch Bildung organischer Moleküle
aus anorganischen – verlief also relativ kurz nach der Bildung des Planeten.
Womöglich entwickelten sich auf anderen erdähnlichen Planeten mit längerer
Entwicklungszeit gleich komplexe, wenn nicht komplexere biologische Strukturen
in einer weitaus „verschrobeneren“ Evolution als auf dem Nachzüglerplanet Erde.
Intelligente Lebensformen in der Galaxie kommen vielleicht in ungeahnter Fülle
vor, und Fermis Paradoxon sieht dadurch nur noch paradoxer aus: Wo sind sie
denn alle?
***
Zugegeben, das sind ein bisschen viele „Vielleicht“ und
„Könnte sein“. Natürlich wollte Fermi aus dem fehlenden Kontakt mit Aliens nicht
auf deren Nichtexistenz schliessen. Auch benötigt man für den Nachweis
ausserirdischer Intelligenz beträchtlich mehr als ein paar probabilistische
Kopfrechnungen. Dennoch erweist sich das Fermi-Paradoxon als ein Problembrocken,
der den Astrophysikern und -biologen bis heute keine Ruhe lässt. Ich möchte
hier aber noch eine ganz andere Interpretation vorschlagen. Das Fermi-Paradoxon
ist quasi ein Indiz für unsere Eingebildetheit. Denn dass wir derart auf den
Kontakt mit Intelligenzen insistieren, die wir
Menschen verstehen können, ist offensichtlicher Ausdruck der hochfahrenden anthropozentrischen
Voreingenommenheit, einer ganz speziellen Spezies im Kosmos anzugehören. Nennen
wir sie den Chauvinismus der menschlichen Intelligenz.
Aber warum eigentlich in die Ferne schweifen? „Sind wir
intelligent genug, um zu verstehen, wie intelligent Tiere sind?“, betitelte der
bekannte Ethologe Frans de Waal sein neuestes Buch (2016). Die Frage klingt wie
ein Weckruf in unserer Ära, die ob der künstlichen Intelligenz den Verstand zu
verlieren und dabei die natürliche Intelligenz zu vergessen droht. Nicht nur im
Tierreich, sondern auch im Pflanzenreich fällt den Forschern allmählich wie
Schuppen von den Augen, welch einen atemberaubenden Reichtum an Lebensformen
unser Planet aufweist, Lebensformen, die alle mit spezifischer Intelligenz
ausgerüstet sind: kognitive Exoten, ja, Aliens. Und es mutet allmählich wie ein
abgenutzter Treppenwitz an, wenn der Mensch stets wieder einen „unique selling
point“ des Humanen zu finden sucht, und jedes Mal entdeckt, dass irgend eine
andere Spezies ebenfalls dieses Merkmal oder zumindest Anlagen dazu mit sich
bringt: Emotion, Intelligenz, Selbstbewusstsein, Werkzeuggebrauch, Imagination,
Sozialität, Verhaltenserziehung (Kultur), Humor, Altruismus, Todesahnung ...
eine fortgesetzte „Enttäuschung“ humaner Einzigartigkeit, dieser hartnäckigen
Obsession. Natürlich kann und soll man über das spezifisch Humane an solchen
Merkmalen debattieren – speziell darüber, was menschliche Kultur dazu beiträgt
- , aber ob wir daraus je ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal gewinnen
können, bleibt fraglich. Und was soll’s überhaupt?
***
Es wäre im Übrigen durchwegs reizvoll, die neuere Geschichte
der Menschheit als eine Geschichte der verschwindenden Einzigartigkeit des
Menschen zu schreiben. Sie beginnt in der frühen Neuzeit mit einer bemerkenswerten
Koinzidenz im Jahre 1543. Damals wurden zwei Bücher publiziert, welche das
Denken über den Menschen nachhaltig beeinflussen – „revolutionieren“ - sollten:
„De humani corporis fabrica“ („Der Aufbau des menschlichen Körpers“) des Arztes
Andreas Vesalius, und „De revolutionibus orbium coelestium („Die Drehung der Himmelskreise“)
des Astronomen Nikolaus Kopernikus. Beide Bücher trugen die Kernbotschaft an
den Menschen: Schau doch nur um dich, du bist nicht einzigartig! Das eine Buch verglich
den menschlichen Körper mit dem Körper anderer Tiere; das andere stiess die
Erde aus ihrer privilegierten kosmischen Position – mit Nietzsche gesprochen: „Seit
Copernicus rollt der Mensch aus dem Centrum ins x“.
Und er rollt und rollt. In die kosmische Bedeutungslosigkeit? Im
Gegenteil. Das Fermi-Paradoxon lehrt uns einfach, erkenntnistheoretisch tief
durchzuatmen. Immerhin brauchte es eine Menge Zufälligkeiten und
Sonderbedingungungen, dass ein Leben wie unseres entstanden ist. Das
anthropische Prinzip nährt unseren Eigendünkel: Wir sind einzigartig. Das
kosmologische Prinzip schafft Distanz dazu: Wir sind „nichtsartig“. In diesen existenziellen
Grundwiderspruch bleiben wir eingespannt, und er allein schon dürfte die
menschliche Besonderheit herausstreichen. Unsere Sicht des Kosmos ist eine
Sicht „von irgendwo“, aus der Perspektive einer speziellen Spezies auf einem
speziellen bleichblauen Fleck im Universum. Das versieht uns unvermeidlich mit
Scheuklappen, diese Scheuklappen sind sozusagen mit uns verwachsen, wir können
sie nicht ablegen, bestenfalls können wir gelegentlich die Blickrichtung wechseln.
Das Gespräch am Mittagstisch in Los Alamos soll übrigens laut
einem andern Teilnehmer, dem Physiker Edward Teller, mit der Bemerkung geendet
haben: „Was unsere Galaxie betrifft, so leben wir in der Pampa.“ Da kann man
nur anfügen: Was unsere Kenntnisse über die terrestrischen Formen von
Intelligenz betrifft, ebenfalls.
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