Freitag, 12. Oktober 2018

Das Fermi-Paradoxon







NZZ.5.10.2018



Über den Chauvinismus der menschlichen Intelligenz


1950 war in den USA ein besonderes UFO-Jahr. In den Medien häuften sich die Nachrichten über unbekannte Flugobjekte, und auf dem Höhepunkt der Hysterie berichteten New Yorker Zeitungen über das rätselhafte Verschwinden städtischer Abfallkübel. Eine Karikatur im „New Yorker“ zeigte, wie diebische Aliens zuhause aus ihrem Raumschiff steigen, jeder mit einem oder zwei Mülleimern. Verwendungszweck unbekannt.

Das Spekulationsfieber erfasste auch Wissenschaftler wie den berühmten Physiker Enrico Fermi. Die folgende Anekdote wird erzählt. Fermi sass mit einigen andern Physikern beim Mittagessen in Los Alamos. Thema waren die UFOs. Man machte sich lustig über die allgemeine Aufgeregtheit, als Fermi die Gesprächsrunde mit der berühmt gewordenen Frage überraschte: Aber wo sind sie denn alle? Sie ist als Fermi-Paradoxon in die rezente Wissenschaftsgeschichte eingegangen.

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Fermi besass die legendäre Begabung, aus dem Handgelenk schnelle Berechnungen und Abschätzungen anzustellen. Sein Argument lässt sich in sechs Schritten wiedergeben:
1.     Unsere Galaxie enthält Milliarden von sonnenähnlichen Sternen.
2.     Es ist höchst wahrscheinlich, dass in solchen Sternsystemen erdähnliche Planeten vorkommen.
3.     Wenn wir annehmen, dass die Erde keine kosmische Sonderstellung hat, dann sollte auf anderen Planeten Leben, sogar intelligentes Leben entstehen können.
4.     Einige dieser intelligenten Lebensformen könnten avancierte Raumfahrttechnologien entwickeln, die sogar interstellare Reisen ermöglichen.
5.     Interstellarer Verkehr benötigt viel Zeit. Aber da es viele sonnenartige Sterne gibt, die um Milliarden Jahre älter sind als unsere Sonne, steht für derartigen Verkehr eine Menge Zeit zur Verfügung.
6.     Unter diesen Voraussetzungen könnten durchaus einmal sternenfahrende ausserirdische Spezies unseren Planeten besucht haben. Aber wo sind sie denn alle?


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Wir sollten solche Gedankenspiele nicht als puren Zahlenkalkül unterschätzen. Sie enthalten oft wichtige Ideenkeime. Tatsächlich wurde Fermis Frage 2001 empirisch angereichert, als der australische Astrophysiker Charles Lineweaver eine genauere Abschätzung der Altersverteilung erdähnlicher Planeten in unserer Galaxie durchführte. Seinen Berechnungen zufolge sind solche Planeten im Mittel ca. 6.4 Milliarden Jahre alt, also deutlich älter als die Erde (4.6 Milliarden). Gesetzt also die Annahme, dass andere Intelligenzen sich auf anderen Planeten in einer anderen Biosphäre zu einer anderen Art von technischer Zivilisation entwickelt haben, könnten solche Zivilisationen wesentlich älter sein als die irdische. Und sie könnten andere Zonen der Galaxie kolonisiert haben.

Das Fermi-Paradoxon verschärft sich zudem im Lichte neuer Evidenz auf der Erde. Geochemische und paläobiologische Befunde lassen vermuten, dass die ältesten irdischen Lebensspuren mindestens 3.8 Milliarden, vielleicht sogar über 4 Milliarden alt sind. Die Erde ist, wie gesagt, etwa 4.6 Milliarden alt. Die Entstehung des Lebens via Abiogenese – durch Bildung organischer Moleküle aus anorganischen – verlief also relativ kurz nach der Bildung des Planeten. Womöglich entwickelten sich auf anderen erdähnlichen Planeten mit längerer Entwicklungszeit gleich komplexe, wenn nicht komplexere biologische Strukturen in einer weitaus „verschrobeneren“ Evolution als auf dem Nachzüglerplanet Erde. Intelligente Lebensformen in der Galaxie kommen vielleicht in ungeahnter Fülle vor, und Fermis Paradoxon sieht dadurch nur noch paradoxer aus: Wo sind sie denn alle?

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Zugegeben, das sind ein bisschen viele „Vielleicht“ und „Könnte sein“. Natürlich wollte Fermi aus dem fehlenden Kontakt mit Aliens nicht auf deren Nichtexistenz schliessen. Auch benötigt man für den Nachweis ausserirdischer Intelligenz beträchtlich mehr als ein paar probabilistische Kopfrechnungen. Dennoch erweist sich das Fermi-Paradoxon als ein Problembrocken, der den Astrophysikern und -biologen bis heute keine Ruhe lässt. Ich möchte hier aber noch eine ganz andere Interpretation vorschlagen. Das Fermi-Paradoxon ist quasi ein Indiz für unsere Eingebildetheit. Denn dass wir derart auf den Kontakt mit Intelligenzen insistieren, die wir Menschen verstehen können, ist offensichtlicher Ausdruck der hochfahrenden anthropozentrischen Voreingenommenheit, einer ganz speziellen Spezies im Kosmos anzugehören. Nennen wir sie den Chauvinismus der menschlichen Intelligenz.

Aber warum eigentlich in die Ferne schweifen? „Sind wir intelligent genug, um zu verstehen, wie intelligent Tiere sind?“, betitelte der bekannte Ethologe Frans de Waal sein neuestes Buch (2016). Die Frage klingt wie ein Weckruf in unserer Ära, die ob der künstlichen Intelligenz den Verstand zu verlieren und dabei die natürliche Intelligenz zu vergessen droht. Nicht nur im Tierreich, sondern auch im Pflanzenreich fällt den Forschern allmählich wie Schuppen von den Augen, welch einen atemberaubenden Reichtum an Lebensformen unser Planet aufweist, Lebensformen, die alle mit spezifischer Intelligenz ausgerüstet sind: kognitive Exoten, ja, Aliens. Und es mutet allmählich wie ein abgenutzter Treppenwitz an, wenn der Mensch stets wieder einen „unique selling point“ des Humanen zu finden sucht, und jedes Mal entdeckt, dass irgend eine andere Spezies ebenfalls dieses Merkmal oder zumindest Anlagen dazu mit sich bringt: Emotion, Intelligenz, Selbstbewusstsein, Werkzeuggebrauch, Imagination, Sozialität, Verhaltenserziehung (Kultur), Humor, Altruismus, Todesahnung ... eine fortgesetzte „Enttäuschung“ humaner Einzigartigkeit, dieser hartnäckigen Obsession. Natürlich kann und soll man über das spezifisch Humane an solchen Merkmalen debattieren – speziell darüber, was menschliche Kultur dazu beiträgt - , aber ob wir daraus je ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal gewinnen können, bleibt fraglich. Und was soll’s überhaupt?

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Es wäre im Übrigen durchwegs reizvoll, die neuere Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der verschwindenden Einzigartigkeit des Menschen zu schreiben. Sie beginnt in der frühen Neuzeit mit einer bemerkenswerten Koinzidenz im Jahre 1543. Damals wurden zwei Bücher publiziert, welche das Denken über den Menschen nachhaltig beeinflussen – „revolutionieren“ - sollten: „De humani corporis fabrica“ („Der Aufbau des menschlichen Körpers“) des Arztes Andreas Vesalius, und „De revolutionibus orbium coelestium („Die Drehung der Himmelskreise“) des Astronomen Nikolaus Kopernikus. Beide Bücher trugen die Kernbotschaft an den Menschen: Schau doch nur um dich, du bist nicht einzigartig! Das eine Buch verglich den menschlichen Körper mit dem Körper anderer Tiere; das andere stiess die Erde aus ihrer privilegierten kosmischen Position – mit Nietzsche gesprochen: „Seit Copernicus rollt der Mensch aus dem Centrum ins x“.

Und er rollt und rollt. In die kosmische Bedeutungslosigkeit? Im Gegenteil. Das Fermi-Paradoxon lehrt uns einfach, erkenntnistheoretisch tief durchzuatmen. Immerhin brauchte es eine Menge Zufälligkeiten und Sonderbedingungungen, dass ein Leben wie unseres entstanden ist. Das anthropische Prinzip nährt unseren Eigendünkel: Wir sind einzigartig. Das kosmologische Prinzip schafft Distanz dazu: Wir sind „nichtsartig“. In diesen existenziellen Grundwiderspruch bleiben wir eingespannt, und er allein schon dürfte die menschliche Besonderheit herausstreichen. Unsere Sicht des Kosmos ist eine Sicht „von irgendwo“, aus der Perspektive einer speziellen Spezies auf einem speziellen bleichblauen Fleck im Universum. Das versieht uns unvermeidlich mit Scheuklappen, diese Scheuklappen sind sozusagen mit uns verwachsen, wir können sie nicht ablegen, bestenfalls können wir gelegentlich die Blickrichtung wechseln.

Das Gespräch am Mittagstisch in Los Alamos soll übrigens laut einem andern Teilnehmer, dem Physiker Edward Teller, mit der Bemerkung geendet haben: „Was unsere Galaxie betrifft, so leben wir in der Pampa.“ Da kann man nur anfügen: Was unsere Kenntnisse über die terrestrischen Formen von Intelligenz betrifft, ebenfalls.



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