Samstag, 16. Juni 2018

Wiederentdeckung des Handwerks

Gekürzte Fassung in NZZ 13.6.2018







Alte Stiche von Bern zeigen eine urbane Umgebung, die nur so wimmelt von Handwerksstätten. Ich selbst mag mich noch an ein Bern erinnern, dessen Altstadt ein halbes Dutzend Metzgereien aufwies. Längst sind sie Boutiquenfilialen gewichen. Dafür fällt mir seit einiger Zeit die wachsende Zahl an Coiffeursalons in der Stadt auf. Sind wir derart haarig fixiert, fragte ich mich erst einmal, dass so viele Institute der kapillaren Verschönerung aus dem Boden schiessen (bei all den testosterongedüngten Rübezahlbärten unserer maskulinen jungen Generation ja durchaus plausibel) bis mir in den Sinn kam, dass das mit etwas anderem zu tun haben könnte. Haareschneiden ist ein Handwerk, das nicht durch Technisierung gefährdet ist. Ich kann mir die Steuererklärung durch einen indischen Buchhalter übers Internet ausfüllen, ich kann meine Haare nicht von einem indischen Coiffeur schneiden lassen. Womöglich sind diese lokalen Coiffeursalons Indiz einer Wiederentdeckung des Handwerks, des Manuellen.

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Das widerspricht zunächst einmal dem Mainstream. Junge Menschen bilden sich vorzugsweise in höherwertiger „Wissensarbeit“ aus. Statt mit Dingen lernen sie mit der Information über Dinge zu operieren; statt mit konkreten Gütern mit abstrakten Daten und Derivaten zu wirtschaften. Selber Hand anlegen ist für viele geradezu exotisch geworden. Postindustrielle Arbeit braucht die Hände für das Drücken von Knöpfen und Tasten, das Hantieren mit Handys und Touchpads. Es ist, als würde sie einem dadurch zwischen den Fingern zerrinnen. Sie erhält einen Stich ins Unwirkliche, um nicht zu sagen: Surreale. Und so fragen sich immer mehr „Werktätige“ heute: Abgesehen von der Lohnüberweisung, welche vorzeigbare, sichtbare, berührbare Wirkung resultiert aus meinem Werk? Was genau habe ich eigentlich am Ende eines Tages vollbracht – ich meine: selber gemacht? Vielleicht verspürt das arme Schwein von Finanzanalyst, der den lieben langen Tag auf abstrakte Datenströme auf dem Monitor gestarrt hat, am Abend den Griff um das kühle Bierglas als einzig verbleibenden tröstlichen Realitätshalt.

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Die Fragen zielen genau auf den anthropologischen Kern, den Karl Marx an der menschlicher Arbeit ausmachte: Man will etwas hervorbringen und sich selber im Produkt oder in der Dienstleistung wiedererkennen. Einen Pullover stricken bedeutet nicht einfach, ein Textil, ein Objekt produzieren, es bedeutet, ein Stück seiner selbst in den Stoff investieren. Ein handgemachter Pullover hat Personalität. Handgemachte Objekte sind menschzugewandte Objekte. Der Maurer baut ein Haus; der Elektriker flickt die Leitung; der Pfleger betreut den Betagten. Sie alle erfahren sich als Agierende. Und das Haus, die Leitung, der Betagte machen den Maurer, den Elek­triker, den Pfleger buchstäblich wirklich, weil sie die Wirkung ihres Agierens manifestieren. Das Haus ist bewohnbar, vielleicht sogar schön. Die Stromversorgung funktioniert. Der Betagte ist dankbar. „Das habe ich selber gemacht, selber getan“ - wieviel Selbstfindendes steckt in der Eigenhändigkeit! Nicht wenige hüten wohl auch deshalb liebevoll dieses oder jenes kleine Stück aus dem Werkunterricht als Souvenir an einen manuellen – glücklichen? - Lebensabschnitt.

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Hüten wir uns hier vor Romantisierung. Die Beschwörung des Handwerks hat seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts – seit dem „Arts and Crafts Movement“ – einen antimodernen, reaktionären Einschlag. Dennoch mehren sich seit einiger Zeit die Anzeichen einer Revalidierung des Manuellen. Sie begann mit dem Buch „Handwerk“ (2008) des Soziologen Richard Sennett. Sie setzte sich fort mit dem Bestseller „Shopclass als Soulcraft“ (übersetzt etwa mit „Werkunterricht als Seelenbildung“, deutsch allerdings unter dem bekloppten Titel „Ich schraube, also bin ich“, 2009) des Philosophen Matthew B. Crawford; der Untertitel lautet: Eine Untersuchung über den Wert der Arbeit. Nun erscheinen zehn Jahre später neue Revalidierungen: Alexander Langlands „Craeft: An Inquiry into the Origins und True Meaning of Traditional Craft“ (2018) und Richard E. Ocejos „Masters of Craft. Old Jobs in the New Urban Economy“ (2017).

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Sowohl Richard Sennett als auch Matthew Crawford lassen sich von der gleichen Grunddiagnose leiten: Die Entfernung des Menschen von den Dingen, welche sich im Verschwinden der Handarbeit manifestiert, entfernt, entfremdet auch den Menschen von sich selbst. Indem er immer mehr Tätigkeiten an die Maschine delegiert, „entseelt“ er nicht nur die Arbeit, sondern sich selbst: wird er selbst zu einem Modul der Maschine. Crawford stellte dies in seinem Buch am Beispiel der eigenen Biographie dar. Es handelt sich um eine heute nicht untypische Geschichte: Hohe wissenschaftliche  Qualifikation - niedrig qualifizierte Arbeit. Crawford verfasste als Doktor in politischer Philosophie wissenschaftliche Abstracts für einen Think Tank, die niemand las. Eine öde „mechanische“ Routinearbeit. Bis er sich sagte: Wenn schon mechanisch, dann richtig mechanisch. Er eröffnete eine Reparaturwerkstatt für Motorräder, begann Hand an Vergaser und Ventile zu legen. Nicht nur kommt er damit gut über die Runden, die Arbeit am konkreten Ding (nebst Bücher schreiben) erfüllt ihn erst noch zutiefst – intellektuell und emotional. Handwerk als Bindemittel moralischer und epi­stemischer Kompetenz. Die Ironie ist unverkennbar: Die Arbeit wird in dem Moment seelenvoll, in dem sie echt mechanisch wird. 

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Das verführt leicht zu einer Retro-Haltung. Zum Beispiel bei Alexander Langlands. Seine Geschichte ist eine Verlustgeschichte, eine Geschichte des Schwunds an Wert und Bedeutung handwerklicher Arbeit. Die Distanz zwischen Hand und Ding, werde zu einem tiefen Problem. Langlands ist Historiker und Archäologe, und so wird sein liebevoller, etwa sentimentaler Blick auf alte Techniken sofort nachvollziehbar und sympathisch: Mit der Sense mähen, einen Bienenkorb flechten, Stöcke zu verschiedenen Zwecken schnitzen. Aber die Rückkehr zu vorindustriellen Techniken ist bestenfalls therapeutisch, dient vielleicht der „Veredelung“ des Selbst, lässt alles beim Bestehenden. Individuell gesehen ist es kein Problem, wenn jemand selber Holz spaltet, sein Geschirr selber brennt, eigene Gurken zieht – entsprechend kann man ja eine blühende Kultur des Heimwerkertums, Schrebergärtnerns und Do-it-Yourself beobachten. Es gibt auch – dank Internet nota bene – Interessengruppenbildungen und Bewegungen, die durchaus so etwas wie ein kollektives Phänomen – ein „Reskilling“, ein Wiedererlangen alter Fertigkeiten - entdecken lassen. Inwieweit sich hier wirklich Renitenz gegen das gegenwärtige exzessive Konsumverhalten formiert, bleibt abzuwarten. Das Bukolische, das Langlands evoziert, ist eine Enklave im grossen Basar des Konsums, und es als „ideale“ Bedingung anzupreisen, erscheint geradezu als Hohn angesichts des rüden Arbeitsmarktes, wo die Frage nach den Glück an und in der Arbeit eher sekundär ist.

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Das urbane Ambiente bietet ein anderes Feld, wo sich das Handwerk wiederentdecken und –revalidieren lässt. Städte scheinen sich geradezu als Biotop für ein kleinteiliges Arbeits- und Beschäftigungsnetz anzubieten. In allen grösseren Städten etablieren sich nicht nur Coiffeursalons, sondern Werkstätten aller Art, Bars, Garküchen, Aufführungslokale, Schmuckläden, Kleingärtnereien, Bierbrauereien. Ricardo E. Ocejo ist Soziologe, und er beschreibt die New Yorker Szene, in der es in der gebildeten, gutbezahlten Oberschicht Mode geworden ist, das von Hand Gemachte „cool“ zu finden. Wir kennen das natürlich lange schon vom Snob her, der nach Mailand oder Rom für handkonfektionierte Schuhe fährt. Ocejo sieht die neue Bedeutung des Handwerks im Fahrwasser der Gentrifizierung. Die Bewohner und Klientel solcher Stadtviertel, legen Wert auf den „Geschmack“ an Sachen, und zu dieser Geschmacksnote trage nun ebenfalls das Manuelle bei, das sozusagen der Ware zu neuer sozialer Distinktion verhelfe. Der neue Adel verpflichtet zur Wertschätzung des Handgemachten. Das wäre zumindest eine äusserst interessante urbanistische These: Gentrifizierung als Boden handwerklicher Berufe. Oder eine noch pikantere soziologische These: Der Reiche leistet sich Handwerk.


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Damit sind wir unversehens im Politischen gelandet. Und man kann die Erörterungen um die moderne Stellung des Handwerks nicht abschliessen ohne einen grossen Vorbehalt. Handwerk hat stets eine Komponente „verborgener Geschichte“. In dieser verborgenen Geschichte kommen immer auch diskriminierte Gesellschaftsschichten vor, in den USA vor allem die Schwarzen, die Ureinwohner und Einwanderer. Das Studium der Handwerkstraditionen dieser Gruppen, so die junge Doktorandin in Literaturwissenschaft Lauren Michele Jackson, sei durch und durch „weisslastig“, vernachlässige die farbigen Traditionen bis zur Amnesie, wo doch gerade sie einen Reichtum an alten und tradierten Praktiken bergen.

Frau Jackson spricht unumwunden von den „weissen Lügen der Handwerkskultur“. So gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, eine verborgene „schwarze“ Geschichte des Whiskeybrennens. Eine der grossen Traditionsmarken – Jack Daniel’s -  wurde von einem schwarzen Sklaven – Nathan „Nearest“ Green – in Lynchburg (!), Tennessee - entwickelt. Der namensgebende Jack Daniel war ein gelehriger Lehrling dieses Sklaven, der offensichtlich ein Meister in der Kunst des Destillierens war. Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1856 wurde Green ein freier Bürger und er und Daniel arbeiteten zusammen in Partnerschaft. Bis heute aber fehlt Greens Name auf der Etikette.

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Handwerk ist keine ökonomische Alternative, sondern eine anthropologische. Handwerk ermöglicht uns – uns Mitgliedern technisch avancierter Gesellschaften, um genau zu sein - eine andere Existenzform, nicht die eines an Bildschirm und Tastatur geklebten Menschen, sondern die eines in sein Tun „hineinwachsenden“ Menschen - eines quasi zu sich selbst zurückgekehrten Menschen. Man sollte die Idee eines solchen „zurückgekehrten“ Menschseins sehr ernst nehmen. Denn wie aus dem Hinterhalt stellt sich auf einmal die Frage: Was ist uns eigentlich wichtiger, die Ökonomie oder die Anthropologie? Ökonomen werden schnell mit nüchternem Kommentar zur Stelle sein: Diese Hochhebung der Handarbeit ist ja gut und schön - aber der Wirtschaftslage angemessen? Mache ich mir einen Begriff von den Ersatzkosten, wenn ich etwas eigenhändig herstelle, statt es zu kaufen? Und ist es nicht nachgerade unverantwortlich, junge Leute auf Berufe vorzubereiten zu wollen, die der Vergangenheit angehören?

Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der heute solche Einwände vorgetragen werden, sollte stutzig machen. Sie verrät viel über die Vormachtstellung der Öko­nomie in unserem Denken und Handeln. Und deshalb lockt sie mich, den Spiess umzudrehen und Fragen zu stellen wie: Ist es denn wirklich so ausgemacht, dass Handarbeit auf verlorenem Posten steht? Könnte man, statt immer zu fragen, ob etwas der wirtschaftlichen Lage angemessen sei, auch einmal fragen, ob die Wirtschaft der menschlichen Bedürfnislage angemessen sei? Und zeugt es nicht von einer epochalen Einfalt und Einseitigkeit, die menschlichen Bedürfnisse allein am Kauf- und Konsumverhalten zu messen?


Handwerk ist nicht nur eine Produktionsweise, sondern eine Seinsweise. In dieser Vorstellung steckt die Brisanz einer realistischen Utopie. Sie artikuliert eine sprachlose Renitenz gegen die Entsubstanzialisierung unseres Lebens. Es ist deshalb an der Zeit, sich auf diesen anthropologischen Kern der Arbeit zu besinnen – mit der Hand erstatten wir der Arbeit ihre Seele zurück. Also auch uns selbst.

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