Technological fix - Das Paradox der technologischen Entwicklung
Erfindungen prägen unser Leben tief, vom Radio über das Auto bis zum Computer. Und nach einer vorherrschenden Ansicht über Technik macht Not erfinderisch: Notwendigkeit ist die Mutter der Erfindung. Da ist ein Problem und durch eine Erfindung lösen wir es, sprich: verschwindet es. Die Ansicht kursiert heute unter der Bezeichnung des technological fix, oder - spezifischer im digitalen Kontext – des Solutionismus: Verwandle ein Problem in ein ingenieurales und löse es durch die Erfindung oder Verbesserung einer entsprechenden Technik.
Die Ansicht erweist sich bei näherem Betrachten als fatal einseitig. Technik ist ambivalent. Oft erweist sie sich als das Problem, für dessen Lösung sie sich hält. Der amerikanische Technikhistoriker Melvin Kranzberg hat deshalb vor vierzig Jahren den obigen Spruch umgekehrt und als «Kranzberg-Gesetz» formuliert: Erfindung ist die Mutter der Notwendigkeit. Er schlug damit – nicht ohne Ironie - ein anderes Narrativ vor: Innovationen schaffen neue Nöte, machen in der Regel weitere Zusatzerfindungen notwendig, um wirklich effizient zu werden. Das heisst, Erfindungen setzen einen innovativen Zyklus in Bewegung, der gewissermassen eine «kranzberg’sche» Eigengesetzlichkeit entwickelt.
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Denken wir an die Automobilindustrie. Die Erfindung des Fliessbandes hat eine gewaltige Kaskade von technischen Problemen und Innovationen losgetreten, von Fords T-Modell bis zu Musks Tesla. Und hier tritt ein paradoxer Aspekt der Technologieentwicklung zutage: Wir sind heute in avancierten Gesellschaften auf Technik mehr denn je angewiesen, und dennoch können wir immer weniger auf Lösungen im Sinne des technological fix zählen.
Die Umweltwissenschaftler Braden Allenby und David Sarewitz orten darin das Problem zunehmender Komplexität. In ihrem Buch «The Techno-Human-Condition» (2013) skizzieren sie drei Stufen der Komplexität: die lokale, regionale und globale. Man könnte auch von zahmer, vernetzter und tückischer Technologie sprechen. Auf der lokalen Stufe der Werkstatt ist das Auto eine zahme, eine isolierte Technologie. Die Probleme an ihm lassen sich eindeutig formulieren und als Ursache-Wirkungs-Kette konzipieren: Bessere Bremsen, Motoren mit höherem Wirkungsgrad, leichteres Chassis-Material. Das ist die Ebene der Designer und Ingenieure. Auf der regionalen Stufe entpuppt sich das Auto als vernetzte soziokulturelle Technologie. Hier stellen sich Probleme, die nicht mehr so leicht überschaubar und zu bewältigen sind wie in der Werkstatt: Strassenbau, Verkehrsdynamik, Treibstoffversorgung. Das ist die Stufe der Planer und Operations Researcher.
Zunehmend aber erweist sich das Auto als eine Technologie der globalen Stufe. Hier stellen sich Fragen seiner weltweiten Verbreitung, der supranationalen industriell-politischen Verflechtungen, der globalen Ressourcenpolitik. Auf dieser Stufe kann man die Probleme oft nicht nur nicht klar definieren, vielmehr ändern sie sich ständig und schwer kontrollierbar in Abhängigkeit von sozialen, politischen, ökonomischen Kontingenzen. Das Auto wird zur tückischen Technologie. Das heisst, die Notwendigkeiten, die es schafft, sind nicht mehr «rein» technisch definiert und mit einer patenten Erfindung zu lösen.
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Ich bestreite nicht ingenieurale Lösungsansätze. Mir geht es hier um etwas anderes, um die Steigerungslogik im Ganzen. Wenn Erfindungen stets weitere Erfindungen nötig machen, führt das, zu Ende gedacht, nicht in einen Circulus vitiosus? Innovative Zyklen bewahren ihr Gleichgewicht durch ständiges Verbessern und Steigern von Geräteleistung. Das kennzeichnet die innere Dynamik der technisierten Gesellschaft.
Die Computertechnologie macht sie exemplarisch sichtbar. Etwa in der Mitte des letzten Jahrhunderts sahen sich industrielle Produktion, Verkehr, Planung, ja, Politik mit einer Informationsflut konfrontiert, deren Management die menschliche Kapazität überstieg. Das war die Notwendigkeit, die den Computer auf den Plan rief. Und er präsentierte sich zunächst als wunderbarer technological fix. Dem mulmigen Gefühl, eine maschinelle Intelligenz könnte der Kontrolle der menschlichen Intelligenz entgleiten, begegneten die Informatiker schon damals mit der Beschwichtigung, das Problem liesse sich durch weitere technische Entwicklung bewältigen. Und die Beschwichtigung hält bis heute an, im Mantra: Wartet nur, bis wir den richtigen Algorithmus gefunden haben!
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Kranzbergs Gesetz hat - vor allem im Zeitalter der KI-Technologie und ihrer monopolistischen Firmen - einen anderen, einen psychologischen Aspekt. Lesen wir «Notwendigkeit» als «Bedürfnis», dann lässt sich das Gesetz so formulieren: Die Erfindung ist die Mutter des Bedürfnisses. Sie schafft Bedürfnisse, die vorher nicht existierten. Die Technikgeschichte zeigt ein wiederkehrendes Phänomen: Erfindungen haben es oft schwer. Sozial und kulturell verwurzelte Interessen widersetzen sich Innovationen. Zu Gutenbergs Zeiten ertönten nicht Jubelschreie «Endlich gedruckte Texte!», vielmehr beeilten sich die Kopisten, die Presseprodukte mit einem lokalen Bann zu belegen. Der erste Verbrennungsmotor, um 1860 von Nicolaus Otto gebaut, führte nicht zur Produktion entsprechender Vehikel, weil die Leute mit Pferden und Eisen-bahnen zufrieden waren. Der Transistor wurde in den USA erfunden, aber die Elektroindustrie ignorierte ihn, um die Produkte mit Vakuumröhren zu schützen. Es blieb Sony im Nachkriegsjapan überlassen, den Transistor zum elektronischen Konsumgut zu entwickeln.
KI-Technologie ist primär eine Bedürfnisproduktion. Sie braucht den Kunden als Be-dürftigen. Ein Ex-Geschäftsstratege bei Google beschreibt die Industrie als die «umfassendste, normierteste und zentralisierteste Form der Verhaltenskontrolle in der Geschichte der Menschheit (..) Ich realisierte: Da ist buchstäblich eine Million Menschen, die wir sozusagen anstubsen und überreden, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würden».
«There’s an App for That» lautete der Werbespruch von Apple 2009. Besessen vom nächsten neuen Ding hetzt heute die Entwicklung in einer Endlosschleife der Innovationen manisch vorwärts: immer neuere Versionen von Apps. Sie verkauft mit all den Apps und ihren laufenden Updates Verhaltensweisen, und sie dressiert uns immer neue Bedürfnisse an. Auch vor Google existierte die Neugier. Aber Google hat sie in ein technikkonformes Suchbedürfnis verwandelt.
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Gibt es einen Ausstieg? Die Technikhistorikerin Martina Hessler bemüht in ihrem neuen Buch «Sisyphos im Maschinenraum» eine mythische Figur. Der moderne Sisyphos ist der vom technological fix beherrschte Mensch. Er schiebt den Stein der technischen Lösungen immer höher, aber er erreicht dadurch nur, dass der ersehnte Gipfel sich weiter entfernt. Er hat seine Strafe selber gewählt, getrieben vom Wunsch, die Welt allein mit Technik zu verbessern, ja, zu vervollkommnen. Technological fix sagt alles: Befestigung einer bestimmten Vorgehensweise. Das Sisyphoshafte ist dieser Art von Entwicklung inhärent. Wie Martina Hessler bemerkt, verbleiben «technologische Lösungen in der Regel in einer Logik, die das Bisherige fortsetzt (..) Die vermeintlich disruptiven Technologien erweisen sich aus dieser Perspektive gar nicht als disruptiv, sondern lösen das Problem in der Logik des Problems, anstatt es kreativ völlig neu zu denken».
Das ist der springende Punkt. Menschliche Kreativität und Ingeniosität sind wundervolle Fähigkeiten. Sie müssen sich nicht auf technische Erfindungen beschränken. Was, wenn sie sich weniger von der «Logik des Problems» leiten liessen und vermehrt für alternative Lebensformen interessierten? Wir haben sehr viel Intelligenz in Geräte gesteckt. Nun brauchen wir noch mehr Intelligenz, um unsere eigenen Fähigkeiten (auch dank Technik) wieder zu entdecken. Denn die Koevolution von Mensch und Maschine könnte ihren Ausgang nicht bloss in superschlauen Maschinen finden, sondern auch in subschlauen Menschen. Und die Wahrscheinlichkeit für die zweite Entwicklung nimmt zu.
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