Die japanische Kultur kennt eine Reparaturmethode mit Namen Kintsugi. Das wohl bekannteste Beispiel dafür sind kaputte Tassen. Man flickt sie, indem man nicht einfach die Scherben zusammenleimt, sondern die Bruchlinien durch Goldfarbe hervorhebt (kintsugi: «Goldverbindung»). Man macht also den Defekt sichtbar, verleiht der Tasse einen neuen ehrwürdigen Status als geflicktes Ding. Eine Auffassung, die in der alten japanischen Tradition des Wabi-Sabi wurzelt. Ihr gemäss machen gerade die Abnutzung und der Verschleiss ein Ding einzigartig. Die Kunst des Kintsugi besteht darin, diese Einzigartigkeit – als Signatur der Zeit - zum Vorschein zu bringen. Die Dinge beginnen dadurch dem Menschen zu ähneln.
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Wozu nach Japan schauen? Eine ähnliche Affinität zum Kaputten ist im Westen nicht unbekannt. In einem Essay vor hundert Jahren charakterisierte der marxistische Ökonom und Sozialphilosoph Alfred Sohn-Rethel Technik als «Funktionieren des Kaputten». Er be-schrieb damit eine besondere, unter Neapolitanern gängige Einstellung zu Geräten. Das Intakte sei dem Neapolitaner eigentlich suspekt und unheimlich: «Gerade weil es von selber geht, kann man letztlich nie wissen, wie und wohin es gehen wird». In dieser Einstellung beginnt Technik also erst da, «wo der Mensch sein Veto gegen den feindlichen und verschlossenen Automatismus des Maschinenwesens einlegt und selber in ihre Welt einspringt».
Ein anderes Beispiel stammt aus Sowjetzeiten. Ein fehlgeleitetes – sagen wir rundweg: kaputtes – Wirtschaftssystem produzierte oft defekte Waren oder verursachte Güterknappheit, und deshalb sahen sich viele Russinnen und Russen zur Selbsthilfe genötigt. Diese Not führte zu einer Haltung gegenüber dem Kaputten, die man als kreative Nachhaltigkeit be-zeichnen könnte. Es gab zum Beispiel die populäre Zeitschrift «Die Wissenschaft und das Leben», mit der Rubrik «Das zweite Leben der Dinge». In ihr konnten Leserinnen und Leser ihre Tipps zur Wieder- und Weiterverwendung von Alltagsdingen publizieren. So liest man etwa: «Ein kaputter Regenschirm kann noch nützlich sein. Aus seinem Stoff kann eine schöne und dauerhafte Einholtasche werden. Der Stoff muss nur vom Regenschirm entfernt, dann abgetrennt und in rechteckige Stoffstücke genäht werden. Der Schnitt der Tasche aus diesem genähten Regenschirmstoff kann beliebig sein.»
Kintsugi, das Funktionieren des Kaputten, das zweite Leben der Dinge. Darin äussert sich so etwas wie eine Subversion der Nutzer- oder Konsumentenhaltung, somit einer technisch-ökonomischen Ordnung, die auf diese Haltung baut. Unsere «entwickelte» Lebensform kennt die Reparatur immer weniger. Man repariert ein technisches Ding – ein Gerät - nicht, man ersetzt es durch ein neues. Besessen vom nächsten neuen Ding hetzt die digitale Technologie in ihrem Innovationsrausch vorwärts: immer neuere Versionen von Gadgets. Die geplante Obsoleszenz gehört zu einer gängigen Verkaufsstrategie, die die technischen Dinge im Sinne des Wabi-Sabi «entwürdigt». Sie haben gar keine Zeit, alt zu werden.
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Es geht nicht einfach um das Flicken von Gegenständen, sondern um eine allgemeine Einstellung zu den Dingen, genauer: um den Unterschied zweier Einstellungen. Und mit ihm geraten wir in den Denkkreis der wohl fundamentalsten Technikkritik des 20. Jahrhunderts. Sie stammt von Martin Heidegger. In seinem berüchtigt-eigenwilligen Jargon spricht er von «Zuhandenheit» und «Vorhandenheit» eines Geräts. Funktioniert das Gerät, ist es zuhanden, das heisst, geht es in seinem Gebrauch auf. Wenn ich mit meinem Smartphone twittere, dann «verschwindet» es in seiner Zuhandenheit. Wenn es aber nicht wie gewohnt funktioniert, dann spielt sich sozusagen ein Switch der Einstellung ab. Das Smartphone ist jetzt «vorhanden», es liegt vor mir und verlangt spezifische Aufmerksamkeit von mir, womöglich die Anstrengung eines reparierenden Eingriffs.
Heidegger spricht auch vom «Zeug». Die moderne Technik versieht uns mit Geräten zu jedem Zweck. Geräte sind «Zeug zu..»: Zeug zum Schreiben, Zeug zum Fahren, Zeug zum Kommunizieren, Zeug zum Unterhalten... Man könnte von der Zeug-Haltung sprechen. Die Zeug-Haltung ist nicht nur auf technische Objekte im engeren Sinne anwendbar, sondern potenziell auf alles. Betrachte ich etwas als Zeug, dann interessiert mich nicht, was es ist, sondern wozu es dienen kann. Der Stein wird zum Zeug, wenn ich mit ihm Nüsse knacken will. Der Apfelbaum wird zum Zeug, wenn ich mit ihm Obst ernten will. Die Kuh wird zum Zeug, wenn sie Milch und Fleisch liefern soll. So gesehen, schreibt sich die Geschichte der Technik letztlich als fortschreitende Geschichte der «Verzeugung».
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Die Kunst des 20. Jahrhunderts erweist dem verbrauchten, in seiner Alltagsfunktion übersehenen, kaputten Ding ihre Wertschätzung. Moderne Kunst fungiert ja ohnehin als eine Art von Sensorium für die Weltrissigkeit. Augenfällig genug verwandeln die Readymades von Marcel Duchamp «Zeug» in würdige Kunstobjekte: Urinal, Kleiderhaken, Kamm, Parfumflasche, Fahrrad-Rad, Flaschengestell. Viele Künstlerinnen und Künstler haben diese Tradition weitergeführt und führen sie weiter: Joseph Beuys, Damien Hirst, Tracy Emin, Jeff Koons, Felix Gonzalez-Torres, Michelangelo Pistoletto. Näher am japanischen Handwerk «flickt» heute die koreanische Künstlerin Yee Sookyung Scherben zu oft übergrossen Keramikskulpturen zusammen, zu «Translated Vases». Oder die Amerikanerin Rachel Sussman «flickt» Risse im Pflaster von New Yorks Strassen, indem sie sie mit Metallstaub kenntlich macht: «Sidewalk Kintsukuroi». Land Art auf dem Pflaster der Stadt.
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Es gibt politische Anzeichen einer Umwertung des kaputten Dings. Kalifornien kennt ein «Recht auf Reparatur». In der Europäischen Union sind seit 2024 ähnliche Richtlinien in Kraft. Die Debatte über die Notwendigkeit eines solchen Rechts ist wichtig und sie wird meist hitzig geführt. Selbstverständlich geraten Grundinteressen aneinander: Marktfreiheit versus Klimaschutz. Unbestreitbar aber ist, dass smarte Dinge zunehmend hermetischer werden. Sie verwöhnen uns, indem sie uns an den oberflächlichen Komfort des Knopf- oder Tastendrucks gewöhnen. Zu diesem Komfort gehört zumal, dass sie nicht reparaturbedürftig sind. Und deshalb hört man auch wiederholt die Frage, ob wir eine Reparatur überhaupt wollen.
Dieses «überhaupt» stellt eine Rückfrage an uns. Sie echot Theodor Adornos berühmten Satz «Es gibt kein richtiges Leben im falschen» - nota bene aus einem Buch, das den Untertitel trägt «Reflexionen aus dem beschädigten Leben». Das falsche Leben als jenes des Nutzens und Entsorgens. Gerade seine Alternativlosigkeit sollte uns warnen. Die Würde des kaputten Dings zu betonen bedeutet, dass man den scheinbaren «Zwang» der technischen Dinge als falsch entlarven kann. Das kaputte Ding richtet sich an mich als ein Memento: Ich verdiene einen zweiten Blick, bevor du mich wegwirfst! Weisst du überhaupt, was du in den Händen hältst?
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Wie gesagt, die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Reparatur – sub specie reparabilitatis – zu betrachten, könnte sich als eine heimliche Subversion der Konsumwelt erweisen. Der Gesichtspunkt lässt darüber hinaus blicken, von der Beziehung Mensch-Ding zur Beziehung Mensch-Mensch. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer weist auf die Parallele hin: «Was nicht so funktioniert, wie ich es mir vorstelle, was gar kaputt auf mich wirkt, das werfe ich weg. Nur dass es in diesem Fall leider kein Regal gibt, aus dem ich mir die gute Neuware holen kann, wenn ich den defekten Partner entsorgt habe. Den primitiven Impuls, sich vom Unvollkommenen zu trennen, sollte im reifen Erleben die Einsicht hemmen, dass wir den Verlust oft nicht ersetzen können.»
Ein letzter Aspekt verdient Beachtung. Das technische Zeug verspricht Komfort. Komfort bedeutet vom Wortstamm her Trost, Stärkung. Die Frage ist, ob sich das heutige «intelligente» Zeug dazu eigne - ob Trost und Stärkung nicht viel eher im Kaputten liegen. Denn gerade es appelliert an menschliche Intelligenz. Stellen wir uns deshalb die Frage immer öfter.
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