Dienstag, 27. Mai 2025




Technological fix - Das Paradox der technologischen Entwicklung

Erfindungen prägen unser Leben tief, vom Radio über das Auto bis zum Computer. Und nach einer vorherrschenden Ansicht über Technik macht Not erfinderisch: Notwendigkeit ist die Mutter der Erfindung. Da ist ein Problem und durch eine Erfindung lösen wir es, sprich: verschwindet es. Die Ansicht kursiert heute unter der Bezeichnung des technological fix, oder - spezifischer im digitalen Kontext – des Solutionismus: Verwandle ein Problem in ein ingenieurales und löse es durch die Erfindung oder Verbesserung einer entsprechenden Technik. 

Die Ansicht erweist sich bei näherem Betrachten als fatal einseitig. Technik ist ambivalent. Oft erweist sie sich als das Problem, für dessen Lösung sie sich hält. Der amerikanische Technikhistoriker Melvin Kranzberg hat deshalb vor vierzig Jahren den obigen Spruch umgekehrt und als «Kranzberg-Gesetz» formuliert: Erfindung ist die Mutter der Notwendigkeit. Er schlug damit – nicht ohne Ironie - ein anderes Narrativ vor: Innovationen schaffen neue Nöte, machen in der Regel weitere Zusatzerfindungen notwendig, um wirklich effizient zu werden.  Das heisst, Erfindungen setzen einen innovativen Zyklus in Bewegung, der gewissermassen eine «kranzberg’sche» Eigengesetzlichkeit entwickelt. 

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Denken wir an die Automobilindustrie. Die Erfindung des Fliessbandes hat eine gewaltige Kaskade von technischen Problemen und Innovationen losgetreten, von Fords T-Modell bis zu Musks Tesla. Und hier tritt ein paradoxer Aspekt der Technologieentwicklung zutage: Wir sind heute in avancierten Gesellschaften auf Technik mehr denn je angewiesen, und dennoch können wir immer weniger auf Lösungen im Sinne des technological fix zählen.  

Die Umweltwissenschaftler Braden Allenby und David Sarewitz orten darin das Problem zunehmender Komplexität. In ihrem Buch «The Techno-Human-Condition» (2013) skizzieren sie drei Stufen der Komplexität: die lokale, regionale und globale. Man könnte auch von zahmer, vernetzter und tückischer Technologie sprechen. Auf der lokalen Stufe der Werkstatt ist das Auto eine zahme, eine isolierte Technologie. Die Probleme an ihm lassen sich eindeutig formulieren und als Ursache-Wirkungs-Kette konzipieren: Bessere Bremsen, Motoren mit höherem Wirkungsgrad, leichteres Chassis-Material. Das ist die Ebene der Designer und Ingenieure. Auf der regionalen Stufe entpuppt sich das Auto als vernetzte soziokulturelle Technologie. Hier stellen sich Probleme, die nicht mehr so leicht überschaubar und zu bewältigen sind wie in der Werkstatt: Strassenbau, Verkehrsdynamik, Treibstoffversorgung. Das ist die Stufe der Planer und Operations Researcher. 

Zunehmend aber erweist sich das Auto als eine Technologie der globalen Stufe. Hier stellen sich Fragen seiner weltweiten Verbreitung, der supranationalen industriell-politischen Verflechtungen, der globalen Ressourcenpolitik. Auf dieser Stufe kann man die Probleme oft nicht nur nicht klar definieren, vielmehr ändern sie sich ständig und schwer kontrollierbar in Abhängigkeit von sozialen, politischen, ökonomischen Kontingenzen. Das Auto wird zur tückischen Technologie. Das heisst, die Notwendigkeiten, die es schafft, sind nicht mehr «rein» technisch definiert und mit einer patenten Erfindung zu lösen. 

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Ich bestreite nicht ingenieurale Lösungsansätze. Mir geht es hier um etwas anderes, um die Steigerungslogik im Ganzen. Wenn Erfindungen stets weitere Erfindungen nötig machen, führt das, zu Ende gedacht, nicht in einen Circulus vitiosus? Innovative Zyklen bewahren ihr Gleichgewicht durch ständiges Verbessern und Steigern von Geräteleistung. Das kennzeichnet die innere Dynamik der technisierten Gesellschaft. 

Die Computertechnologie macht sie exemplarisch sichtbar. Etwa in der Mitte des letzten Jahrhunderts sahen sich industrielle Produktion, Verkehr, Planung, ja, Politik mit einer Informationsflut konfrontiert, deren Management die menschliche Kapazität überstieg. Das war die Notwendigkeit, die den Computer auf den Plan rief. Und er präsentierte sich zunächst als wunderbarer technological fix. Dem mulmigen Gefühl, eine maschinelle Intelligenz könnte der Kontrolle der menschlichen Intelligenz entgleiten, begegneten die Informatiker schon damals mit der Beschwichtigung, das Problem liesse sich durch weitere technische Entwicklung bewältigen. Und die Beschwichtigung hält bis heute an, im Mantra: Wartet nur, bis wir den richtigen Algorithmus gefunden haben! 

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Kranzbergs Gesetz hat - vor allem im Zeitalter der KI-Technologie und ihrer monopolistischen Firmen - einen anderen, einen psychologischen Aspekt. Lesen wir «Notwendigkeit» als «Bedürfnis», dann lässt sich das Gesetz so formulieren: Die Erfindung ist die Mutter des Bedürfnisses. Sie schafft Bedürfnisse, die vorher nicht existierten. Die Technikgeschichte zeigt ein wiederkehrendes Phänomen: Erfindungen haben es oft schwer. Sozial und kulturell verwurzelte Interessen widersetzen sich Innovationen. Zu Gutenbergs Zeiten ertönten nicht Jubelschreie «Endlich gedruckte Texte!», vielmehr beeilten sich die Kopisten, die Presseprodukte mit einem lokalen Bann zu belegen. Der erste Verbrennungsmotor, um 1860 von Nicolaus Otto gebaut, führte nicht zur Produktion entsprechender Vehikel, weil die Leute mit Pferden und Eisen-bahnen zufrieden waren. Der Transistor wurde in den USA erfunden, aber die Elektroindustrie ignorierte ihn, um die Produkte mit Vakuumröhren zu schützen. Es blieb Sony im Nachkriegsjapan überlassen, den Transistor zum elektronischen Konsumgut zu entwickeln. 

KI-Technologie ist primär eine Bedürfnisproduktion. Sie braucht den Kunden als Be-dürftigen. Ein Ex-Geschäftsstratege bei Google beschreibt die Industrie als die «umfassendste, normierteste und zentralisierteste Form der Verhaltenskontrolle in der Geschichte der Menschheit (..) Ich realisierte: Da ist buchstäblich eine Million Menschen, die wir sozusagen anstubsen und überreden, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würden». 

«There’s an App for That» lautete der Werbespruch von Apple 2009. Besessen vom nächsten neuen Ding hetzt heute die Entwicklung in einer Endlosschleife der Innovationen manisch vorwärts: immer neuere Versionen von Apps. Sie verkauft mit all den Apps und ihren laufenden Updates Verhaltensweisen, und sie dressiert uns immer neue Bedürfnisse an. Auch vor Google existierte die Neugier. Aber Google hat sie in ein technikkonformes Suchbedürfnis verwandelt. 

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Gibt es einen Ausstieg? Die Technikhistorikerin Martina Hessler bemüht in ihrem neuen Buch «Sisyphos im Maschinenraum» eine mythische Figur. Der moderne Sisyphos ist der vom technological fix beherrschte Mensch. Er schiebt den Stein der technischen Lösungen immer höher, aber er erreicht dadurch nur, dass der ersehnte Gipfel sich weiter entfernt. Er hat seine Strafe selber gewählt, getrieben vom Wunsch, die Welt allein mit Technik zu verbessern, ja, zu vervollkommnen. Technological fix sagt alles: Befestigung einer bestimmten Vorgehensweise. Das Sisyphoshafte ist dieser Art von Entwicklung inhärent. Wie Martina Hessler bemerkt, verbleiben «technologische Lösungen in der Regel in einer Logik, die das Bisherige fortsetzt (..) Die vermeintlich disruptiven Technologien erweisen sich aus dieser Perspektive gar nicht als disruptiv, sondern lösen das Problem in der Logik des Problems, anstatt es kreativ völlig neu zu denken». 

Das ist der springende Punkt. Menschliche Kreativität und Ingeniosität sind wundervolle Fähigkeiten. Sie müssen sich nicht auf technische Erfindungen beschränken. Was, wenn sie sich weniger von der «Logik des Problems» leiten liessen und vermehrt für alternative Lebensformen interessierten? Wir haben sehr viel Intelligenz in Geräte gesteckt. Nun brauchen wir noch mehr Intelligenz, um unsere eigenen Fähigkeiten (auch dank Technik) wieder zu entdecken. Denn die Koevolution von Mensch und Maschine könnte ihren Ausgang nicht bloss in superschlauen Maschinen finden, sondern auch in subschlauen Menschen. Und die Wahrscheinlichkeit für die zweite Entwicklung nimmt zu.  

Donnerstag, 22. Mai 2025


NZZ, 21.5.25


Der rückschrittliche Futurismus von Silicon Valley 

Elon Musk gefällt sich in der Rolle des unbändigen – manche sagen: puerilen - Futuristen. Er investiert in alles, was mit Zukunft konnotiert ist: Roboter, KI-Systeme, Elektroautos, Schnellbahnen, Raketen, Satelliten, Neuroimplantate, Genetik, soziale Netzwerke, wahrscheinlich bald auch Quantencomputer. Aber so «visionär» wie er sich geriert, ist Elon Musk gar nicht. Sein Futurismus erweist sich genauer betrachtet nicht als zukunftsorientiert, sondern als Rückfall in die Vergangenheit, vor mehr als hundert Jahren. 

Und aus dieser Vergangenheit taucht jetzt sein Grossvater Joshua Haldeman auf, ein Chiropraktiker, Amateurflieger und Verschwörungstheoretiker aus Kanada. Zu einiger Bekanntheit gelangte er als Führungsmitglied einer politische Bewegung namens Technocracy Incorporated, die den Ersatz der Demokratie durch eine Autokratie von Ingenieuren und Wissenschaftlern anstrebte. Unter deren Herrschaft würde Nordamerika zu einem «Technat». Zeitweise trug man sich mit der Idee, Kanada und Mexiko zu annektieren. 

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Der Reiz einer solchen Vision wird einigermassen verständlich vor dem Hintergrund der Grossen Depression in den 1920er Jahren. In den Augen der Technokraten war die liberale Demokratie gescheitert. In der neuen Welt des Technats würden nur Fachleute die nötige Intelligenz aufweisen, um all die imminenten technischen und industriellen Probleme zu lösen. Eine technokratische Truppe würde die Staatsdienste eliminieren. Das weckt heute Assoziationen an das ominöse «Department of Government Efficiency» (DOGE), die Abteilung zum Abholzen der Bürokratie (Kettensäge-Symbolik), bestehend vor allem aus einer Gang von Musk-hörigen jungen Musketieren aus der Technobranche. 

Die technokratische Bewegung fiel so schnell in sich zusammen wie sie sich verbreitet hatte. Sie zerfaserte in zahlreiche rivalisierende Faktionen. Die Technokraten hielten nicht viel von politischen Parteien und Prozeduren. Der Hauptgrund für ihr Scheitern aber war – der Erfolg der Demokratie. Franklin D. Roosevelts New Deal führte zu einem politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbruch, der die technokratische Bewegung bald einmal marginalisierte. 

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Aber so leicht verschwindet die Idee der technokratischen Erneuerung der Gesellschaft nicht aus den Köpfen. 2023 verfasste der Netscape-Entwickler und schwerreiche Musk-Spezi Marc Andreessen ein «techno-optimistisches Manifest», in dem er das Aufkommen von Techno-Supermännern beschwört. Man liest darin zum Beispiel: «Wir können zu einer weitaus höheren Lebens- und Daseinsweise fortschreiten. Wir haben die Werkzeuge, die Systeme, den Willen. Wir glauben, dass unsere Nachkommen in den Sternen leben werden. Wir glauben an die Grösse. Wir glauben an den Ehrgeiz, an die Agression, die Hartnäckigkeit, die Unbarmherzigkeit, die Stärke.»

Die Tonalität weckt ungute Erinnerungen. Zu den Inspiratoren seines Elaborats zählt Andreessen den italienischen Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti, der 1909 sein de-lirantes «futuristisches Manifest» schrieb. Er hämmerte Sätze wie: «Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag (..) Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, (..) Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt -, den Militarismus, den Patriotismus,  die Vernichtungstat der Anarchisten (..) und die Verachtung des Weibes.» Zehn Jahre später gründete ein politisches Wildtier namens Mussolini eine Bewegung, die von einem solchen Testosteronrausch getragen war. 

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Historische Parallelen sind immer heikel. Wenn jetzt aber Musk Donald Trumps Wahl grosssprecherisch als eine «Gabelung auf dem Weg der menschlichen Zivilisation» verkündet, dann muss man auch jene Gabelung erwähnen, die sich in den frühen 1930er Jahren zwischen der demokratischen und der technokratischen Konstellation das Gleiche passiert. Wie die Historikerin Jill Lepore jüngst in einem instruktiven Essay in der New York Times schreibt , zeuge Musks Futurismus «von einem tiefen Mangel an politischer Imagination, von der Beharrlichkeit der Technokratie, und der Hybris von Silicon Valley.»

Technischem Fortschritt eignet die Tendenz zur Antidemokratie. Musk und Konsorten investieren in eine Zivilisation der «überlegenen» Menschen, sprich: der überlebenstüchtigen und stinkreichen Techies. Sie bereiten unverhohlen den plutokratischen Takeover vor. Die Chancen stehen gut, dass politische und unternehmerische Rücksichtslosigkeit, gestützt durch Mega-Technologie, dem alten Projekt von Musks Grossvater und seinesgleichen zum brachialen Durchbruch verhelfen könnte. Es gibt heute keinen New Deal. 


Freitag, 16. Mai 2025


Die Aura des kaputten Dings

Die japanische Kultur kennt eine Reparaturmethode mit Namen Kintsugi. Das wohl bekannteste Beispiel dafür sind kaputte Tassen. Man flickt sie, indem man nicht einfach die Scherben zusammenleimt, sondern die Bruchlinien durch Goldfarbe hervorhebt (kintsugi: «Goldverbindung»). Man macht also den Defekt sichtbar, verleiht der Tasse einen neuen ehrwürdigen Status als geflicktes Ding. Eine Auffassung, die in der alten japanischen Tradition des Wabi-Sabi wurzelt. Ihr gemäss machen gerade die Abnutzung und der Verschleiss ein Ding einzigartig. Die Kunst des Kintsugi besteht darin, diese Einzigartigkeit – als Signatur der Zeit -  zum Vorschein zu bringen. Die Dinge beginnen dadurch dem Menschen zu ähneln. 

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Wozu nach Japan schauen? Eine ähnliche Affinität zum Kaputten ist im Westen nicht unbekannt. In einem Essay vor hundert Jahren charakterisierte der marxistische Ökonom und Sozialphilosoph Alfred Sohn-Rethel Technik als «Funktionieren des Kaputten». Er be-schrieb damit eine besondere, unter Neapolitanern gängige Einstellung zu Geräten. Das Intakte sei dem Neapolitaner eigentlich suspekt und unheimlich: «Gerade weil es von selber geht, kann man letztlich nie wissen, wie und wohin es gehen wird». In dieser Einstellung beginnt Technik also erst da, «wo der Mensch sein Veto gegen den feindlichen und verschlossenen Automatismus des Maschinenwesens einlegt und selber in ihre Welt einspringt». 

Ein anderes Beispiel stammt aus Sowjetzeiten. Ein fehlgeleitetes – sagen wir rundweg: kaputtes – Wirtschaftssystem produzierte oft defekte Waren oder verursachte Güterknappheit, und  deshalb sahen sich viele Russinnen und Russen zur Selbsthilfe genötigt. Diese Not führte zu einer Haltung gegenüber dem Kaputten, die man als kreative Nachhaltigkeit be-zeichnen könnte. Es gab zum Beispiel die populäre Zeitschrift «Die Wissenschaft und das Leben», mit der Rubrik «Das zweite Leben der Dinge». In ihr konnten Leserinnen und Leser ihre Tipps zur Wieder- und Weiterverwendung von Alltagsdingen publizieren. So liest man etwa: «Ein kaputter Regenschirm kann noch nützlich sein. Aus seinem Stoff kann eine schöne und dauerhafte Einholtasche werden. Der Stoff muss nur vom Regenschirm entfernt, dann abgetrennt und in rechteckige Stoffstücke genäht werden. Der Schnitt der Tasche aus diesem genähten Regenschirmstoff kann beliebig sein.» 

Kintsugi, das Funktionieren des Kaputten, das zweite Leben der Dinge. Darin äussert sich so etwas wie eine Subversion der Nutzer- oder Konsumentenhaltung, somit einer technisch-ökonomischen Ordnung, die auf diese Haltung baut. Unsere «entwickelte» Lebensform kennt die Reparatur immer weniger. Man repariert ein technisches Ding – ein Gerät - nicht, man ersetzt es durch ein neues. Besessen vom nächsten neuen Ding hetzt die digitale Technologie in ihrem Innovationsrausch vorwärts:  immer neuere Versionen von Gadgets. Die geplante Obsoleszenz gehört zu einer gängigen Verkaufsstrategie, die die technischen Dinge im Sinne des Wabi-Sabi «entwürdigt». Sie haben gar keine Zeit, alt zu werden. 

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Es geht nicht einfach um das Flicken von Gegenständen, sondern um eine allgemeine Einstellung zu den Dingen, genauer: um den Unterschied zweier Einstellungen. Und mit ihm geraten wir in den Denkkreis der wohl fundamentalsten Technikkritik des 20. Jahrhunderts. Sie stammt von Martin Heidegger. In seinem berüchtigt-eigenwilligen Jargon spricht er von «Zuhandenheit» und «Vorhandenheit» eines Geräts. Funktioniert das Gerät, ist es zuhanden, das heisst, geht es in seinem Gebrauch auf. Wenn ich mit meinem Smartphone twittere, dann «verschwindet» es in seiner Zuhandenheit. Wenn es aber nicht wie gewohnt funktioniert, dann spielt sich sozusagen ein Switch der Einstellung ab. Das Smartphone ist jetzt «vorhanden», es liegt vor mir und verlangt spezifische Aufmerksamkeit von mir, womöglich die Anstrengung eines reparierenden Eingriffs. 

Heidegger spricht auch vom «Zeug». Die moderne Technik versieht uns mit Geräten zu jedem Zweck. Geräte sind «Zeug zu..»: Zeug zum Schreiben, Zeug zum Fahren, Zeug zum Kommunizieren, Zeug zum Unterhalten... Man könnte von der Zeug-Haltung sprechen. Die Zeug-Haltung ist nicht nur auf technische Objekte im engeren Sinne anwendbar, sondern potenziell auf alles. Betrachte ich etwas als Zeug, dann interessiert mich nicht, was es ist, sondern wozu es dienen kann. Der Stein wird zum Zeug, wenn ich mit ihm Nüsse knacken will. Der Apfelbaum wird zum Zeug, wenn ich mit ihm Obst ernten will. Die Kuh wird zum Zeug, wenn sie Milch und Fleisch liefern soll. So gesehen, schreibt sich die Geschichte der Technik letztlich als fortschreitende Geschichte der «Verzeugung». 

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Die Kunst des 20. Jahrhunderts erweist dem verbrauchten, in seiner Alltagsfunktion übersehenen, kaputten Ding ihre Wertschätzung. Moderne Kunst fungiert ja ohnehin als eine Art von Sensorium für die Weltrissigkeit. Augenfällig genug verwandeln die Readymades von Marcel Duchamp «Zeug» in würdige Kunstobjekte: Urinal, Kleiderhaken, Kamm, Parfumflasche, Fahrrad-Rad, Flaschengestell. Viele Künstlerinnen und Künstler haben diese Tradition weitergeführt und führen sie weiter: Joseph Beuys, Damien Hirst, Tracy Emin, Jeff Koons, Felix Gonzalez-Torres, Michelangelo Pistoletto. Näher am japanischen Handwerk «flickt» heute die koreanische Künstlerin Yee Sookyung Scherben zu oft übergrossen Keramikskulpturen zusammen, zu «Translated Vases». Oder die Amerikanerin Rachel Sussman «flickt» Risse im Pflaster von New Yorks Strassen, indem sie sie mit Metallstaub kenntlich macht: «Sidewalk Kintsukuroi». Land Art auf dem Pflaster der Stadt. 

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Es gibt politische Anzeichen einer Umwertung des kaputten Dings. Kalifornien kennt ein «Recht auf Reparatur». In der Europäischen Union sind seit 2024 ähnliche Richtlinien in Kraft. Die Debatte über die Notwendigkeit eines solchen Rechts ist wichtig und sie wird meist hitzig geführt. Selbstverständlich geraten Grundinteressen aneinander: Marktfreiheit versus Klimaschutz. Unbestreitbar aber ist, dass smarte Dinge zunehmend hermetischer werden. Sie verwöhnen uns, indem sie uns an den oberflächlichen Komfort des Knopf- oder Tastendrucks gewöhnen. Zu diesem Komfort gehört zumal, dass sie nicht reparaturbedürftig sind. Und deshalb hört man auch wiederholt die Frage, ob wir eine Reparatur überhaupt wollen. 

Dieses «überhaupt» stellt eine Rückfrage an uns. Sie echot Theodor Adornos berühmten Satz «Es gibt kein richtiges Leben im falschen» - nota bene aus einem Buch, das den Untertitel trägt «Reflexionen aus dem beschädigten Leben». Das falsche Leben als jenes des Nutzens und Entsorgens. Gerade seine Alternativlosigkeit sollte uns warnen. Die Würde des kaputten Dings zu betonen bedeutet, dass man den scheinbaren «Zwang» der technischen Dinge als falsch entlarven kann. Das kaputte Ding richtet sich an mich als ein Memento: Ich verdiene einen zweiten Blick, bevor du mich wegwirfst! Weisst du überhaupt, was du in den Händen hältst? 

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Wie gesagt, die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Reparatur – sub specie reparabilitatis – zu betrachten, könnte sich als eine heimliche Subversion der Konsumwelt erweisen. Der Gesichtspunkt lässt darüber hinaus blicken, von der Beziehung Mensch-Ding zur Beziehung Mensch-Mensch. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer weist auf die Parallele hin: «Was nicht so funktioniert, wie ich es mir vorstelle, was gar kaputt auf mich wirkt, das werfe ich weg. Nur dass es in diesem Fall leider kein Regal gibt, aus dem ich mir die gute Neuware holen kann, wenn ich den defekten Partner entsorgt habe. Den primitiven Impuls, sich vom Unvollkommenen zu trennen, sollte im reifen Erleben die Einsicht hemmen, dass wir den Verlust oft nicht ersetzen können.»

Ein letzter Aspekt verdient Beachtung. Das technische Zeug verspricht Komfort. Komfort bedeutet vom Wortstamm her Trost, Stärkung. Die Frage ist, ob sich das heutige «intelligente» Zeug dazu eigne - ob Trost und Stärkung nicht viel eher im Kaputten liegen. Denn gerade es appelliert an menschliche Intelligenz.  Stellen wir uns deshalb die Frage immer öfter. 


Montag, 12. Mai 2025



Zwischen Teller und Müll

Plädoyer für eine nichtbinäre Esskultur

In Analogie zur Definition des Drecks als Materie am falschen Ort liesse sich Essensabfall als Nahrungsmaterie am falschen Ort charakterisieren. Das führt sogleich zur Schlüsselfrage: Was ist eigentlich der «falsche» Ort? Eine eminent kulturelle Frage. Gewiss, das Verrotten von Nahrungsmitteln ist ein biochemischer Prozess, aber ebenso ein kultureller, sprich definitorischer. Wir setzen Wert und Unwert der Nahrungsmaterie fest. Entweder ist etwas zum Essen oder es ist nicht zum Essen, ergo Abfall. Ein Drittes gibt es nicht.

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Im Hintergrund zeigt sich eine globale Schieflage. Von den etwa 700 Millionen Menschen, die als unterernährt gelten, leben gut 90 Prozent in Afrika und Asien. Gleichzeitig herrscht in industrialisierten Gesellschaften ein Verschwendungsexzess sondergleichen. In der Schweiz sollen über 20 Prozent der Lebensmittel auf dem Weg vom Feld zum Teller verloren gehen. Derartige Zahlen sind immer strittig, weil aus mehreren Perspektiven deutbar. Zu denken gibt aber ein eindeutigerer Bescheid: Eine grosse «Schuld» an der Verschwendung tragen nicht Lebensmittelindustrie und –handel, sondern wir Endverbraucher in den Haushalten. Pro Person und Jahr werden in der Schweiz über 300 Kilogramm Esswaren weggeworfen.  

Das heisst im Grunde: Abfall entsteht im Kopf des Konsumenten. Und dieser Kopf wird von der Werbung ständig und gründlich eingeseift mit Bilden «schöner», «sauberer», «gesunder» Lebensmittel. Die Nahrungsmittelindustrie ist eine Gelüsteindustrie. Früher gab es, was es gab. Heute gibt es nichts, was es nicht gibt. Wer nichtsaisonales Gemüse oder Obst will, kann es haben. Der Retailer muss in seinen Regalen anbieten, was den mehrheitlich künstlich geweckten Kundengelüsten entspricht – und dann nur zu oft im Container landet. Die Fliessbänder der Nahrungsmittelindustrie laufen und laufen, und halten unseren Lebensstandard in Gang. Wir können und wollen nicht mehr zu vorindustriellen Ernährungsverhältnissen zurückkehren. 

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Das ist auch nicht die Alternative.  Sondern ein gewandeltes globales Ernährungsszenario. Ich nenne es Knappheitsszenario: Was wäre, wenn alles knapper würde? Das könnte uns aus einer allzu gedankenlosen schlaraffischen Mentalität aufwecken. Sie ist systembedingt. Wir lernen sie von klein auf. Noch in unserer Grosselterngeneration war es ja Usus, das volle Potenzial von Nahrungsmitteln auszunutzen. Der Keller voller Eingemachtem ist geradezu ein Emblem dafür. Das hatte System – nicht zuletzt kriegsbedingt.

Wir Heutigen dagegen haben den Keller durch den Kühlschrank ersetzt. Und der Glaube, Verschwendung gehöre zu unserem Ess-System, steckt fest in unseren Köpfen. Ein Irrglaube. Die unbequeme Wahrheit ist, dass unserem System die nötige Infrastruktur fehlt, die zu einem klügeren täglichen Essverhalten verhelfen könnte. Zwar steigt oft ein leises Schuldgefühl beim Entsorgen unschöner Salatblätter oder fleckiger Äpfel auf, aber wir unterdrücken es in der Regel. Ein Umweltübel, über das wir nur zu leicht hinwegsehen. Dabei hätten wir jederzeit Gelegenheit, genauer hinzusehen. 

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Ich sagte, Abfall entstünde im Kopf. Um der Verschwendung Einhalt zu gebieten, müssten wir deshalb als Erstes das binäre Raster «Hier Essen, dort Abfall» aufgeben, und eine neue Kategorie der Nahrungsmaterie einführen. «Foodwaste» breitet sich bereits im deutsch-sprachigen Raum aus.  Eigentlich ein widersprüchlicher Begriff, nach herkömmlichem Raster. Aber er bezeichnet genau den Bereich, der zwischen Essbarem und Müll liegt. Es gibt Nonprofit-Organisationen wie «Tischlein deck dich» oder Schweizer Tafel, die den Begriff auf ihr Panier schreiben. Es gibt die «Container-Taucher», Leute, die in den Abfallbehältern der Lebensmittelläden nach Foodwaste, also nach durchaus konsumierbarer Ware fischen.  Es gibt branchenübegreifende Pläne, die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren.  Zu den Zielen gehört die Halbierung der Lebensmittelverluste bis 2030. 

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Das Knappheitsszenario wirft ein Licht auf die Verkaufsregulationen. Ein bizarres Müsterchen lieferte  unlängst eine Obstplantage im Bernischen Konolfingen. Der Umfang der Zwetschgen war um 4 Millimeter zu klein für den Handel geraten, deshalb drohte ihnen die Kategorisierung «Foodwaste». Das motivierte den Obstbauern zu einem kleinen verkaufstechnischen Husarenstück. Er öffnete seine Plantage für alle. Die Ernte von 30 Tonnen war innerhalb eines Tages verkauft.  

Selbstverständlich sollen uns Verkaufsregulationen vor kontaminierter Ware schützen. Oft eignen sie sich jedoch wenig, um Essbares und Abfall zu trennen. Ablaufdaten beziehen sich auf die Qualität, und nicht auf die Robustheit von Lebensmitteln. Das Mindesthaltbarkeitsdatum zum Beispiel gibt an, bis wann das Produkt qualitativ einwandfrei bleibt, wenn es richtig gelagert wird. Es bleibt auch über das Datum hinaus essbar. Und eigentlich hat die Natur uns – wie alle Tiere -  mit einem recht verlässlichen Prüfapparat für Nahrung ausgestattet: mit den Sinnen. Der Konsumentenschutz empfiehlt ausdrücklich, Lebensmittel nicht unbesehen wegzuwerfen, sondern mit Nase und Augen zu prüfen. 

Allerdings lässt die Abhängigkeit von künstlichen Garantien - Mindesthaltbarkeitsdaten, Tiefkühlprodukten, Konservierungsmitteln - unser Sensorium für den Lebensmitteltest verkümmern. Warum riechen, schmecken, betasten, wenn alles auf der Verpackung geschrieben steht? Gewiss, Gammelfleisch stinkt. Aber alle die Ingredienzen in den hyperverarbeiteten Hochglanznahrungsmitteln vermögen wir nicht mit unseren Sinnen wahrzunehmen. Dabei sind matschige Tomaten, leicht angefaulte Äpfel, welkes Gemüse oder schimmeliger Käse wahrscheinlich harmloser. 

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Mit den modernen Lebensmitteln geht ein Fundus alten Wissens über Verwertung, Konservierung, Fermentation verloren. Das Knappheitsszenario würde also diesen Fundus wiederbeleben, bestenfalls zu mehr Kreativität im Essen motivieren. Das Wegwerfsystem «des Westens» ist eigentlich eine erstaunliche historische Anomalie. In allen Kulturen und zu allen Zeiten ging der Mensch mit den Nahrungsmitteln erfindungsreich und nachhaltig um. Es gibt eine wahre Grossindustrie an Nahrungsmittelverarbeitern, die wir leicht vergessen: die Natur. Hefe, Schimmel, Bakterien wachsen auf Essensresten. Ohne sie gäbe es weder Bier, noch Brot, noch Käse. Einige der verbreitetsten und beliebtesten Speisen – Saucen, Suppen, Aufläufe, Eintöpfe – sind «Deponien» von Essensabfällen.  

Kaum überraschend, dass jetzt Spitzenköche eine «Revolution» in der Küche dank Zero Waste verkünden. René Redzepi in Dänemark schwört auf Fermentation und er hat ein Handbuch dazu publiziert. Andreas Caminada in der Schweiz will restenlos kochen: «Bei mir gilt für alle: Nichts kommt weg, bevor wir nicht überlegt haben, ob etwas noch anders verwertbar ist (..) Ein welkes Kraut, Hühnerkarkassen oder Gemüseabschnitte kann ich natürlich nicht auf den Teller geben, aber sie machen einen guten Saucenansatz». 

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Die ganze Diskussion verdient durchaus auch eine philosophische Note. Die Kategorie der Nahrungsmaterie zwischen Tisch und Müll lehrte uns ein kritischeres Essverhalten, sie erzöge uns dazu, selber zu urteilen, unseren Sinnen zu trauen, Phantasie zu entwickeln, und täglich die Frage zu stellen: Ist das nun wirklich Abfall? Man könnte von einem nichtbinären Esskultur sprechen. Und man müsste das alte Motto der Aufklärung – «wage zu wissen» - für die Ernährung gastrosophisch reaktivieren: Wage beim Kochen und Essen zu denken. Das wäre ein Anfang. Also intelligenten guten Appetit! 


Das Rudozän - Zeitalter des Mülls Dass sich die Erde zunehmend in eine Müllhalde verwandelt, gehört zu den Trivia, die wir mehr oder weniger...