Donnerstag, 2. November 2023

 


NZZ, 30.10.23


Terrorismus - das Perpetuum mobile der Gewalt

Finden sich im Terrorismus Merkmale, die ihn «systemisch» charakterisieren, ungeachtet der besonderen Ideologien, konkreten politischen Beweggründe, Taktiken; ungeachtet seiner Territorialität, im Mittleren Osten, in Ruanda, Tschetschenien? Umberto Eco sprach in einem Essay gleichen Titels vom «ewigen Faschismus». Er bezog sich darin zwar vorwiegend auf italienische Verhältnisse, aber sein Kernanliegen war, im Faschismus nicht bloss ein kontingentes histori-sches Phänomen zu sehen, sondern ein Denkdispositiv, das unter «günstigen» Bedingungen immer wieder Nährboden in der Gesellschaft findet. In diesem Sinn liesse sich auch vom ewigen Terrorismus sprechen. 

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Die wirkungsvollste Waffe im Arsenal des Terrorismus ist die Angst. Er weiss, dass daraus Handlungsunentschiedenheit und -lähmung resultieren. Er bringt den demokratischen Rechtsstaat aus der (Ver-) Fassung. Und er geniesst dadurch das offene oder verdeckte Wohlwollen der Autokratenclique weltweit. Jede blutige Tat verhöhnt den Staat: Schau, du bist nicht im Stande, deine Bürger zu schützen! Man erzeugt dadurch eine Atmosphäre des Stresses, des permanenten Ausnahmezustands, vergiftet durch gegenseitige Verdächte und Beschuldigungen: «Du Hamasversteher!», «Du Zionist!». Eigentlich sind für Aktionen gegen den Terrorismus Polizei, Geheimdienste, Militär zuständig. Aber bleiben deren Erfolge aus, wächst das Bedürfnis nach «radikalen» Schutz- und Überwachungsmassnahmen. Ein Treibhausklima für Populisten und Schlimmeres. 

Die terroristische Taktik bedient sich der «Aleatorik» des Schreckens. Sie trifft wahllos einmal die Besucherinnen und Besucher eines Pariser Clubs, einmal Passantinnen und Passanten auf einer Rambla in Barcelona, einmal Reisende am Brüsseler Flufhafen. Der Terrorismus kennt keine Trennung zwischen Kombatanten und Zivilisten, also auch keinen «Kollateralschaden». Denn in den Endkampf zieht er alle hinein. Er geht aufs Ganze, die Apokalypse ist vorgesehen. 

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Der Terrorismus denkt binär: Gut oder böse, Freund oder Feind, Gläubiger oder Ungläubiger, Sozialismus oder Barbarei. Das heisst erstens: Es gibt ein einziges höchstes Gut, ein einziges letztes Ziel, nur die eine absolute Wahrheit, meist in «heiligen» Worten oder Doktrinen geäussert. Und zweitens: Es gibt eine einzige Grundursache für das Übel in der Welt. Dieses Denken ist beherrscht von einem messianistischen Säuberungswillen. Der Terrorist möchte die Welt so rein haben, wie er sie sich vorstellt: als neues Jerusalem, als islamischer Gottestaat, als rassisch-völkisches Millenium, als klassenlose Gesellschaft. Hier entsteht der «neue» Mensch. Gegenüber dem «Anderen» kennt das totalitäre Gleichmachen kein Erbarmen. «Es gibt kein Leben ausserhalb der Revolution», war das Motto Che Guevaras, des «Freiheitshelden». 

Das Heldentum des Terrorismus feiert den eigenen Tod als erlösende Klimax. Der Täter stirbt für «das» Höchste, der Nazi für den Führer, der Hamas-Terrorist für Gott, das Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) für die Befreiung vom Imperialismus. «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod», soll das Motto der islamistischen Attentäter von Madrid 2004 gelautet haben. Das ist nicht einfach eine Nachäffung des falangistischen Kampfrufs, sondern die Logik des Märtyrers - des «Blutzeugen». Todesliebe und Todesrausch liegen nah beieinander.  

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Terroristen empfinden Empathie nur für ihre «Mitbrüder». Sie bilden sektiererische Gruppen oder Gangs, die ihre Weltfremdheit durch Rituale und Exerzitien kultivieren. Das Bewusstsein ihrer Unterlegenheit kehren sie um in Dünkel und Grössenwahn. Zum Beispiel delirierte das Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) Volker Speitel einen «neuen Menschen» herbei: «Der Eintritt in die Gruppe, das Aufsaugen ihrer Norm und die Knarre am Gürtel entwickeln ihn dann schon, den ‘neuen’ Menschen. Er ist Herr über Leben und Tod geworden, bestimmt was gut und böse ist, nimmt sich, was er braucht und von wem er es will; er ist Richter, Diktator und Gott in einer Person».

Terroristen leben in einem paranoiden Weltinnenraum, akzeptieren das Aussen der politischen Regeln nicht. Ihr Partikularinteresse gilt ihnen als Unversalinteresse. Und das Verbrechen schweisst sie zusammen. Horst Mahler von der RAF soll vorgeschlagen haben, ein abtrünniges Mitglied kollektiv zu erschiessen, weil dann die Schuld an allen haftet und niemand mehr aussteigen kann. 

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Die Heimtücke des Terrorismus liegt darin, dass er in offenen Gesellschaften das Selbstverständnis torpediert, gewalttätigen Zeiten entronnen zu sein. Wir haben uns derart an die gewaltfreie Auseinandersetzung gewöhnt, dass uns der Preis dafür nicht mehr bewusst ist: ihre Verwundbarkeit. Natürlich kennen auch moderne Gesellschaften Gewalt, häusliche an Frauen und Kindern, Krawall auf der Strasse, Hooliganismus im Fussballstadion. Aber diese «normalen» Gewaltformen akzeptieren implizite immer noch die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols, während der Terror diese Legitimität explizite und fundamental attackiert, und so das Nervenzentrum offener Gesellschaften trifft. Er verhöhnt die Idee der Gewaltlosigkeit. 

Damit wirft er uns zurück in vormoderne Zeiten. Wie der niederländische Schriftsteller Leon de Winter vor einiger Zeit schrieb, sind mit dem Aufkommen des islamistischen Terrors alle Bürger der westlichen Welt zu «Juden geworden», also zu bekämpfende Partei: «Der Islamist zwingt mich, ihn als meinen Feind anzusehen und erneut in Begriffen zu denken, die ich, als moderner Europäer, hatte vergessen wollen oder zumindest: nach denen ich nie mehr hatte handeln wollen.» 

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Neben der Debatte über die religiöse und politische Motivation von Gewalt wäre heute noch ein anderer Beweggrund näher zu bedenken, nämlich jener des medialen Resonanzraums – etwa der Social Media -, in dem das Massaker, die Bluttat, das Undenkbare ihren wohl noch nie dagewesenen Widerhall finden. Die - fast ausschliesslich – jungen islamistischen Gewalttäter, die oft ohne Aussicht auf eine «zivile» Zukunft leben, scheinen im Medium des Terrors eine willkommene Gelegenheit zu erblicken, die Aufmerksamkeit zumindest für die berühmten Warholschen 15 Minuten auf sich zu ziehen. 

Das ist Nihilismus, zur Märtyrershow aufgeplustert. Und er wird so weltbühnentauglich. Auf abartige Weise attraktiv. Die Medien reissen sich um ihn. Er bedient die heute überall verbreitete Wollust, zu schauen und beschaut zu werden. Terroristen überbieten sich mit Abscheulichkeiten, genauer: mit der Inszenierung von Abscheulichkeiten. Weil sie keine Schlachten gewinnen können, greifen sie zu einem anderen Mittel: zum Spektakel. Es ist todernst und blutig. Und Terroristen sind Selbstdarsteller. Sie brauchen die Medien und die entgeisterte Weltöffentlichkeit, um sie fortlaufend mit Stoff zum Entsetzen zu füttern. Uns allen ist das Medienereignis der einstürzenden Twin Towers eingeätzt. Bin Laden war seinerzeit ein Medienstar. Che Guevara prangt bis heute auf T-Shirts. Terroristen wollen Hauptakteure im Weltgruselkabinett sein. Das Handy darf beim Gemetzel nicht fehlen.  

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Hinzu kommt ein Weiteres. Der Terrorismus weiss sich immer wieder mit dem hehren Ziel des Widerstands gegen Unterdrückung, Kolonialisierung, Demütigung, Ungerechtigkeit zu legitimieren. Seinen Hass und seine Rache leitet er aus seinem Status als Opfer her. Ich bin ein Opfer, also mache ich auch andere zum Opfer. Tatsächlich parasitiert er das Opfertum einer benachteiligten oder drangsalierten Menschengruppe, indem er sich perfide zu deren «Befreier» emporstilisiert. Ein typisch Orwell’sches Paradox: Befreiung durch Unterdrückung. Am Ende dankt das Opfer dem Täter dafür. 

Dem diskreten Charme des Terrorismus erliegt besonders der Whataboutismus einer Claque von Relativierern. Israelische Truppen und Siedler hätten seit 2008 in der West Bank und in Gaza fast 3800 Zivilisten getötet, schreibt zum Beispiel die Philosophin Judith Butler kürzlich. Man könne eine Tat wie jene des Massakers im Kibbuz Beeri nicht als «klaren, punktuellen Akt» verurteilen, sondern nur im historischen Vergleich mit den Untaten, die an Palästinensern in der West Bank und in Gaza verübt worden seien. Zwei, für eine «professionelle» Philosophin erstaunliche, Denkschlampigkeiten. Erstens: Was ist denn «punktueller» als ein Mord? Und zweitens: Geschichte lehrt eine Tat zu verstehen, nicht zu entschuldigen. 

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Der Terrorist stirbt vielleicht, sein Denken überlebt ihn. Seine Tat ist Modell für eine weitere: ein Perpetuum mobile der Gewalt. Um ihm zu begegnen, braucht es ein denkerisches Abwehrdispositiv, das seine Systemelemente beleuchtet. Es gibt mehr als die hier kurz erwähnten. Aufs Ganze gesehen gilt es das alte stoische Prinzip der «Praemeditatio malorum» zu beherzigen: Erwäge das Schlimme, Schlimmstmögliche. Ich will jetzt nicht die grosse Gelassenheit als Retterin heraufbeschwören. Aber sagen wir nie: Der Terrorismus ist bei uns nicht möglich. Denn dann geschieht er. 

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