Montag, 13. November 2023




Die Rettung der Menschenrechte durch 

metaphysisches Prophetentum


Zu Omri Boehms Buch «Radikaler Universalismus»

Am Begriff der Identität entzünden sich heute bekanntlich die heftigsten und giftigsten Debatten. Sowohl die Neue Rechte wie die postkoloniale Linke verwenden ihn, um von völlig diametralen Seiten auf den Universalismus einzuprügeln. Für die Rechten zählt primär der Mensch in seiner «Nativität», also im «natürlichen» Geborensein in eine bestimmte Gemeinschaft. Für die Linken zählt primär das Schicksal des Diskrimiertseins als Farbiger, als LGBTQ-Vertreterin, als Angehöriger von Minderheiten, als Person mit Behinderung.

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Gegen diese Identitätsfutterale plädiert der Philosoph Omri Boehm für einen «radikalen Universalismus», um gewissermassen das Menschliche an den universellen Menschenrechten zu retten.  «Während wir in eine Epoche eintreten, in der wir die westliche liberale Demokratie in Europa zu stärken und den Aufstieg rechtsextremer Politik und eines ethnischen Nationalismus zu bekämpfen haben, zudem mit globalen Katastrophen und Migrationswellen konfrontiert sind, macht es einen Unterschied, ob wir an der Idee des universellen Humanismus als einem Kompass, sogar als einer Waffe, festhalten oder ob wir eine Gesellschaft hervorbringen, in der diese Idee verspottet und verachtet wird». 

Man stimmt spontan zu. Aber Boehm klopft dem Zustimmenden sofort auf die Finger: Liberale Demokraten seien oft allzu selbstgerecht; sie hätten sich angewöhnt, nur von Menschenrechten, nicht von Menschenpflichten zu sprechen. Und dem Universellen müsse man «absolut» verpflichtet sein. Boehm hat eine Legimität vor Augen, die über allen menschlichen Übereinkünften steht: «Nur ein Gesetz oder eine Wahrheit, die unabhängig von menschlichen Konventionen ist, ist universell in seinem oder ihrem Geltungsbereich und nicht relativ zu den Interessen, Wünschen oder ‘guten Ideen’ derjenigen, die über die Macht gebieten, in der menschlichen Gesellschaft Gesetze zu erlassen». 

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Und was wäre das für ein Gesetz oder eine Wahrheit? Boehm bemüht ein biblisches Szenario (Genesis 18, 23-25). Es erinnert überraschend  an die aktuelle Situation in Gaza. Die israelische Armee will die Hamas strafen und vernichten, aber in Gaza befinden sich auch viele unschuldige Zivilisten. Gott will Sodom strafen und vernichten, aber es befinden sich nicht nur Ruchlose, sondern auch Gerechte in der Stadt. Abraham versucht Gott durch ein Dilemma umzustimmen. Er könne doch nicht die ganze Stadt vernichten, wenn es dort noch Gerechte gebe: «Willst du auch sie wegraffen, und nicht doch dem Ort vergeben, wegen der fünfzig Gerechten dort? Das kannst du doch nicht tun. Die Gerechten zusammen mit den Ruchlosen umbringen (..) Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten?» 

Aber an welches Recht sollte sich Gott halten? Hören wir etwas weiter zu. Gott lenkt ein: «Wenn ich in Sodom (..) fünfzig Gerechte finde, werde ich ihretwegen dem ganzen Ort vergeben». Nun packt ihn Abraham beim logischen Schlafittchen: «Vielleicht fehlen an den fünfzig Gerechten fünf. Wirst du wegen der fünf die ganze Stadt vernichten?» Gott verspricht, sie nicht zu vernichten, wenn er dort fünfundvierzig findet. Aber wenn er schon dieses Zugeständnis macht, warum auch nicht bei vierzig Gerechten, bei fünfunddreissig, bei…. Von wievielen Gerechten an ist eine göttliche Strafe gerechtfertigt? Kann Gott Sodom überhaupt bestrafen, selbst wenn sich nur Gott-lose darin befänden?  

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Boehm deutet das Gespräch zwischen Gott und Abraham als Hinweis auf eine Autorität, die über beiden steht: «Die wichtigste Errungenschaft des biblischen Monotheismus ist das Bekenntnis zu einer exklusiv einzigen, wahren Gottheit – um diese anschliessend einer noch höheren, über ihr stehenden Gerechtigkeit zu unterwerfen.» 

Gerechtigkeit braucht keinen Gott. Das ist die Boehmsche Lesart. Man könnte dagegen halten, dass sich das Gespräch weniger um eine absolute Gerechtigkeit dreht, der sogar Gott untersteht, als eher um die Forderung nach logischer Konsistenz – eine menschliche Forderung. Abraham mahnt Gott einfach an: Wenn du dich an deine Prämissen hältst, wenn du dich nicht in einen Widerspruch verwickeln willst, dann bedenke auch die Konsequenzen deiner Absicht logisch. Die Geschichte lässt sich völlig metaphysikfrei, ohne Postulierung einer absoluten Gerechtigkeit, lesen. 

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Nun gibt sich freilich Boehm mit nichts weniger zufrieden als einer metaphysischen Begründung der Gerechtigkeit. Sein «Radikalismus» zielt ab auf die Frage: Existiert eine «absolute» Verpflichtung gegenüber der Menschheit? Was soll das bedeuten? Menschheit kommt ja immer nur vor als besondere Gemeinschaft von Menschen. So schrieb der scharfsinnige Gegenaufkärer Joseph de Maistre zu Beginn des 19. Jahrhunderts: «Ich habe in meinem Leben Franzosen, Italiener, Russen gesehen. Ich weiss dank Montesquieu sogar, dass man Perser sein kann. Was jedoch den Menschen anbelangt, so erkläre ich, dass ich ihm nie im Leben begegnet bin».

In jedem Versuch, Gerechtigkeit im Konsens einer möglichst grossen Gruppe von Menschen zu fundieren, sieht Boehm «Verrat am Universalismus». Ein solcher Versuch würde über kurz oder lang in einen Konformismus, in den Vorrang von Tradition und Gewohnheit führen, in die berüchtigte Tyrannei der Mehrheit: «Die Gefahr eines solchen Konformismus (..) besteht darin, dass er den Wünschen der Mehrheit ermöglicht, nicht nur mittels physischer Drohungen oder staatlicher Macht durchgesetzt zu werden – im Stile früherer Tyrannen -, sondern als legitime Autorität.» Konformismus ist im Grunde eine Maschine zur fortgesetzten Produktion von Ungerechtigkeiten. Dass vier Millionen schwarze Menschen in den USA rechtmässiges Privateigentum waren, ist ein solcher Konformismus. 

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Spätestens hier überschiesst Boehms Argumentation. Er meint, jeglichen Konsens unter Menschen als Konformismus und letztlich als Tyrannei entlarven zu können. Aber gibt es nicht reflektierten, kritikoffenen Konsens? Gibt es überhaupt etwas Besseres in demokratischen Gesellschaften? Kann man universelle Gerechtigkeit anderswo erden als in einem «Wir», dem möglichst viele angehören? Fragen von Rechtsphilosophen wie etwa John Rawls. 

Boehm verneint sie vehement. Das ist nicht richtige, «radikale», sondern bloss gemässigte Aufklärung. Er deutet – sein Gegen-den-Strich-lesen muss man ihm lassen - Kants berühmten «Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit» nicht als den Gebrauch des eigenen Verstandes, sondern als Widerstand gegen konformes Denken, gegen das «Wie immer» der Tradition. Erst wenn wir uns davon befreit haben, sind wir wirklich emanzipiert. 

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Folgerichtig zelebriert Boehm den Kult der «Wenigen», die sich für den richtigen Universalismus eingesetzt, ja, geopfert haben. Er macht den Gegensatz zwischen gemässigtem und radikalem Universalismus exemplarisch fest an den «Unionisten» und den «Abolitionisten» vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Die Unionisten stellten die demokratische Verfassung, die auch das Recht der Sklavenhalter auf ihren Besitz schützte, über alles. Die Abolitionisten beriefen sich – in der Lesart Boehms – auf «metaphysische Gerechtigkeitsprinzipien». Nur sie konnten eine Legitimation für die Abschaffung der institutionalisierten «demokratischen» Ungerechtigkeit liefern. 

Boehm nennt als Beispiel den Abolitionisten John Brown. In der Mitte des 19. Jahrhunderts beging er mit seiner Bande Morde an Sklavenhaltern und Sklavenjägern. Für die einen ein Held der Gerechtigkeit und Freiheit, für die anderen ein Verbrecher und Irrer. Boehm scheint in ihm so etwas wie ein Fallbeispiel für die Gratwanderung zwischen metaphysischem Gerechtigkeitskampf und Terrorismus zu sehen: Es «lohnt die Beobachtung, dass Brown (..) den ‘Wenigen’ sehr ähnlich (ist), von denen Kant spricht, wenn er sagt, dass einige einzelne das ‘Joch’ des Konformismus selbst abwerfen und den ‘Geist’ des menschlichen Werts und Selbstdenkens verbreiten müssten.» 

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Eigentlich behauptet Boehm in seinem Pamphlet bloss dies: Menschenwürde beruht auf einer Gerechtigkeit, die höher ist als jede in einem menschlichen Konsens begründete. Sie begründet sich selbst, ist absolut, über menschliche Motive, Interessen, Wünsche, über alle anthropologischen Tatsachen erhaben. Das ist zugleich keck und dürftig, bei aller akribischen Exegese von einschlägigen Texten und gelegentlich etwas langfädigen historischen Exkursen. 

Vernachlässigt wird die erkenntnistheoretische Frage nach dem Typus von Aussagen wie «Es gibt ein Gesetz, das über allen Gesetzen des Menschen steht». Wie kann eine solche Wahrheit evident sein? Evident für wen?  Am Schluss greift Boehm zur Plausibilisierung der Aussage auf die Prophetie zurück. Bezeichnend, dass er diese zu rehabilitieren sucht. Sieht er in sich auch ein Exemplar der «Wenigen»? Hat er vergessen, dass sich um das prophetische Bewusstsein immer die Versuchung der Unnachgiebigkeit, der Besserwisserei, des Dogmatismus schleicht? Der Prophet mag wissen, was «wahr» ist, aber ist das auch für andere, für alle Menschen wahr? Gerne möchte man zudem von Boehm erfahren: Kann ein «radikaler» metaphysischer Gerechtigkeitsbegriff anders als durch Gewalt verbreitet werden? 

Solche Fragen wecken den Widerspruch. Und das ist gut. Aber die Verteidigung eines radikalen Universalismus ist nur gut gemeint. 


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